· Best Practice
„Es ist immer gut zu wissen, was einen erwartet!“
| Zahnärztin Anke van Bentheim behandelt und betreut schon seit ihren Anfängen in der eigenen Praxis vor 25 Jahren viele Patienten mit Behinderungen. Sie hat das Curriculum Kinderzahnheilkunde und Alterszahnmedizin absolviert und engagiert sich zudem in der Standespolitik. Die erfahrene Zahnärztin weiß auch aus eigener Erfahrung um die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der folgende Beitrag beschreibt die Besonderheiten im Umgang mit dieser Patientengruppe und was es für eine fachlich und menschlich gute Betreuung braucht. |
Anamnese schon vor dem Ersttermin schicken lassen
Wann immer möglich, lässt sich van Bentheim die Anamnese von Neupatienten im Vorfeld online zusenden. Als Zahnmediziner könne man nicht jedes einzelne, gerade auch sehr seltene Syndrom kennen, unter dem die Patienten leiden. Liegt die Anamnese schon vor dem Termin vor, kann sich der Behandler professionell vorbereiten und sich beim Termin besser auf den Patienten konzentrieren. Daneben erleichtern folgende Informationen die Therapie:
- Wo hält sich der Patient tagsüber auf? (z. B. zu Hause oder in der Wohngruppe)
- Wie wird er dort betreut?
- Wer betreut den Patienten noch? (Kinderorthopäde, Kinderarzt, Logopäde, Physiotherapeut, Frühförderer)
- Wer kommt mit dem Patienten in die Praxis?
- Wer ist der Ansprechpartner, wenn der gesetzliche Betreuer oder Erziehungsberechtigte nicht dabei ist?
Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen
Bei Menschen mit Behinderungen kommuniziert van Bentheim nach Möglichkeit direkt. Die Teilhabe des Patienten sei dabei wichtiger als die Inhalte. Natürlich müssen vor einer Zahnbehandlung auch sachliche Informationen gegeben werden. Sie erklärt ihren Patienten die Diagnose und Therapie in leichter und verständlicher Sprache mit reduziertem Sprechtempo. Leichte Sprache bedeutet, fachliche Dinge ohne Fremdwörter ähnlich wie in der Kinderbehandlung in Alltagssprache und in kurzen Sätzen zu erklären. Metaphern oder ironische Bemerkungen sollten vermieden werden. Daneben setzt sie auch gerne die Bildkarten von METACOM ein (beispielhaft auf Seite 20 dieser Ausgabe).
„Ich kann nur jemanden an der Kommunikation teilnehmen lassen, wenn ich versuche, mich dahin zu begeben, wo er sich befindet“, sagt van Bentheim. Beispielsweise spricht sie in der Behandlung von Kindern auch vom „Schlürfi“ anstatt vom Sauger und vom „Wasserwerfer“ anstatt vom Ultraschallgerät. Der Nebeneffekt: Wenn sie mit Kindern mit Behinderungen direkt in einfacher Sprache spricht, hören Mutter oder Vater zu und verstehen die Inhalte genauso. Bei den Jugendlichen mit Behinderungen hören gleichermaßen die Betreuer zu, sind gleich informiert und in der Lage, die Informationen an die anderen Mitarbeiter in der Wohngruppe weiterzugeben. Laufzettel mit den wichtigsten Informationen helfen ebenfalls weiter.
Sie oder Du?
„Wie möchten wir miteinander sprechen?“, fragt van Bentheim am Anfang eines Termins ihre jugendlichen oder erwachsenen Neupatienten mit Behinderungen. Sie stellt sich mit ihrem Vornamen vor und lässt sich gerne duzen. Sie fragt ihre Patienten, ob auch sie sie duzen darf. Menschen mit Behinderungen werden zwar fast überall mit ihrem Vornamen angesprochen (in der Einrichtung, in der sie leben, in der Werkstatt) und sind das auch so gewohnt. Doch wenn sie ihre Erlaubnis zum Duzen geben, erleichtert dieser respektvolle Umgang die Kommunikation.
Berührungen erleichtern den Zugang zum Patienten
Für viele Kinder und junge Erwachsene mit Behinderungen sind Berührungen wichtige Formen der Kontaktaufnahme. So muss sich van Bentheim den Zugang zum intimen Bereich der Mundhöhle oft erst durch Streicheln der Beine, der Arme und Schultern und schließlich des Kopfes erschließen. Auch die Berührung der Schulter bei erwachsenen Patienten ist oft sehr hilfreich. Bei vielen Patienten gehören auch Umarmungen selbstverständlich dazu. „Wenn mein Patient mich umarmen möchte, weil das seine Art ist, mir gegenüber Zuneigung und Dankbarkeit auszudrücken, dann sollte ich das möglichst annehmen“, findet van Bentheim. „Beim nächsten Termin habe ich einen deutlich besseren Zugang zu diesem Patienten.“
PRAXISTIPP | Rituale: Menschen mit Behinderungen brauchen Rituale. Anke van Bentheim setzt gerne bei Kindern in Abstimmung mit den Eltern eine Spieluhr ein, die den Beginn der Behandlung einläutet. Auch für die Abläufe zu Hause, z. B. beim Zähneputzen, sind die immer gleichen Melodien wichtig, damit die Patienten wissen, dass jetzt das Zähneputzen kommt, sie den Mund öffnen und stillhalten sollen. Eine andere Melodie könnte beispielsweise die Fahrt zu einer Therapie ankündigen. |
Umgang mit den Eltern
Viele Kinder mit Behinderungen werden in der Regel von ihren Müttern begleitet. Van Bentheim weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, sich um ein solches Kind zu kümmern. „Diese Mütter sind 24/7 im Kampfmodus“, sagt sie, denn um fast alles müssen Eltern dieser Kinder kämpfen: vom neuen Rollstuhl über die nächste Heilmittelverordnung bis hin zu alltäglichen Inklusionsfragen in der Schule etc. Daher müsse man auch die Mütter verstehen, die manchmal „auf Krawall gebürstet“ seien, weil sie denken, sie müssten nun auch in der Zahnarztpraxis um eine bestmögliche Therapie kämpfen. Van Bentheim holt die Mütter dann behutsam ab und bringt Ruhe in die Situation. Auch ihr Team ist entsprechend geschult.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, die Mütter nicht mit Forderungen nach noch mehr Therapien zu überziehen, auch wenn das aus zahnmedizinischer Sicht wünschenswert wäre. Die Eltern müssen dort abgeholt werden, wo sie stehen. Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten immer auch die Belastungsgrenze der Mütter oder Väter bedenken.
Bedeutung von Logopädie und Physiotherapie
Viele Kinder und Jugendliche mit Behinderungen brauchen eine logopädische Behandlung, um einen Mundschluss sowie die Ruhelage der Zunge zu gewährleisten und die Mundmotorik zu verbessern. So werden sie in die Lage versetzt, regelmäßig zu schlucken. Auf das Speichellätzchen kann dann vielleicht zunehmend verzichtet werden. Auch der Schritt von der Mund- zur Nasenatmung kann so erreicht werden. Zur Stärkung des Mundbereichs sollte auch eine physiotherapeutische Therapie durchgeführt werden.
„Schlaffer Körper, schlaffer Mund“, so fasst van Bentheim diese Beziehung knapp und treffend zusammen. Entsprechende Verordnungen stellt in aller Regel der Kinderarzt aus, doch manchmal ist es angezeigt, dies von zahnärztlicher Seite anzustoßen oder selbst zu verordnen.
PRAXISTIPP | Empfehlung van Bentheims: Wann immer möglich, sollten Therapien in die Zeit der Betreuung in Schulen und Einrichtungen gelegt werden, damit die Eltern diese Termine nicht auch noch im Nachmittagsbereich ansteuern müssen. Und den Müttern das schlechte Gewissen nehmen, wenn sie ihre Kinder nicht zu jeder einzelnen Therapie selbst begleiten. Das wäre ein Termindruck, der sonst auf Dauer zu sehr erschöpft. |
Intubationsnarkose (ITN) muss oft nicht sein
Obwohl van Bentheim viele Menschen mit Behinderungen und Kinder als ausgebildete Kinderzahnärztin betreut, kommt sie mit einem ITN-Tag im Monat aus. Ein sinnvoller erster Behandlungsversuch ist die Entfernung von Zahnstein mit dem Ultraschallgerät. Wenn das nicht toleriert wird, wird auch das Legen einer Füllung schwierig. Manchmal gelingt es, sich von Termin zu Termin weiter vorzutasten. Bei Menschen mit Schwerst-Mehrfach-Behinderungen oder einer hochgradigen Spastik ist meist die ITN die Behandlungsmethode der Wahl. Schließlich ist eine Zahnbehandlung für solche Patienten, die nicht regelgerecht schlucken oder stillhalten können, sonst zu gefährlich. Die ITN-Behandlungen finden in der Regel mit einem Anästhesieteam in der Praxis statt. In Ausnahmefällen, wenn eine Behandlung nur mit stationärem Aufenthalt vorgenommen werden kann, gibt es die Möglichkeit, die ITN in einem nah gelegenen Krankenhaus zusammen mit einem MKG-Chirurgen durchzuführen.
Ein engmaschiger Recall unterstützt die Mundpflege zu Hause, denn dort ist es für die Angehörigen oder Betreuer oft nicht leicht, eine gute Mundhygiene durchzuführen. Daher kommen die gehandicapten Patienten von van Bent-heim in der Regel alle vier Monate zum Recall.