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  • · Interview

    „Die digitalen Entwicklungen in der Gesundheitsbranche sind juristisch unglaublich komplex“

    Bild: © Blue Planet Studio - stock.adobe.com

    von Rechtsanwaltsfachangestellter Christian Noe, B. A., Leipzig

    | Welche Aufgaben haben Juristen in Medizintechnik-Unternehmen? Wir haben uns mit den Anwälten Dr. Hasina Farouq und Tobias Hofmann unterhalten, die für den deutschen Pharma- und Medizintechnik-Hersteller B Braun in Melsungen arbeiten. Ein Gespräch über schwierige Klippen in der Gesundheitsbranche, deutschen Nachholbedarf und weitreichende Haftungsfragen bei Medizinprodukten. |

     

    Frage: Die Digitalisierung der Medizintechnik macht gewaltige Fortschritte. Wo stehen die Unternehmen und Entwickler derzeit und was erwartet Ärzte und Patienten?

     

    Antwort: Unternehmen wie unseres ( https://www.bbraun.de ) spüren genau, wie die Digitalisierungswelle mittlerweile auch den Gesundheitssektor voll erfasst: Kontaktlinsen die den Insulinspiegel messen, Mikro-Roboter die durch die Blutbahn reisen oder individuelle Knieendprothesen aus dem 3D-Drucker. Nur einige Beispiele, an denen heute bereits gearbeitet wird. Doch das Gesundheitswesen wird sich durch die Digitalisierung weiter rasant und auch radikal verändern. Der Fokus wird vor allem hierauf liegen: Prävention und Früherkennung, personalisierte Behandlungsansätze auf Basis individueller Patientendaten, sowie Telemedizin und Apps als neue Versorgungsformen.

     

    Kombiniert mit einem digitalen Ökosystem werden uns Smartphones, Wearables, vernetzte Medizinprodukte und künstliche Intelligenzen helfen, die Gesundheit zu erhalten, Krankheitsverläufe zu verzögern und bei chronischen Erkrankungen die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

     

    Frage: Ein vergleichender Blick auf die USA und Europa: Wo legen die digitalen Innovationen besonderes Tempo vor?

     

    Antwort: In der Breite hat die europäische Wirtschaft eher Nachholbedarf beim Thema Digitalisierung ( www.iww.de/s2862 ). Und auch im deutschen Gesundheitswesen verläuft der Übergang, trotz positiver Auswirkungen, eher schleppend. Eine Vorreiterrolle nehmen hingegen der amerikanische Markt sowie einige asiatische Regionen ein. Eine wichtige Rolle dabei spielen Amerikas Tech-Riesen , wie Google, Apple, Microsoft und Co.

     

    Die entdecken immer stärker den US-Gesundheitsmarkt für sich und suchen den Schulterschluss mit anderen Akteuren, unter anderem der aktiven start-up-Szene der USA. Es werden Millionen investiert und so die Zukunft der digitalen Medizin maßgeblich mitgestaltet. Auf deutscher und europäischer Seite besteht somit dringender Handlungsdruck und Aufholbedarf, denn handelt die Branche nicht, droht ein schrittweiser Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, Marktanteilen und Arbeitsplätzen.

     

    Frage: In Deutschland wird derzeit der Pflegebereich intensiv diskutiert. Sowohl die Zahl der Pflegekräfte soll erhöht werden, aber auch Pflegeroboter und Assistenzsysteme die körperliche Arbeit von Pflegern reduzieren. Wie nah ist deren praktischer Einsatz?

     

    Antwort: Roboter in der Pflege sind auf dem Vormarsch und können bereits heute wertvolle Dienste leisten. Den Menschen können sie jedoch heute ‒ und vermutlich auch noch in absehbarer Zukunft ‒ noch nicht ersetzen. Bereits entwickelt sind vor allem soziale Roboter, die in der Interakation mit Patienten agieren oder einfache, repetitive Tätigkeiten übernehmen. Roboter, die auch komplexe, motorische Tätigkeiten in Echtzeit durchführen und dabei mit dem Patienten interagieren, sind derzeit noch nicht in Sicht. Jedoch wird die Entwicklung aufgrund des Bedarfs und des Pflegenotstands sicher auch in diesem Beriech intensiviert werden.

     

    Frage: Welchen Zukunftsstempel drückt der 3D-Druck der Gesundheitsbranche auf?

     

    Antwort: Ein Beispiel aus unserem Unternehmen: Seit nun über 25 Jahren bedienen wir uns der vielen Vorzüge additiver Herstellverfahren, dazu zählt ebenso der 3D-Druck. Die Methode ermöglicht uns komplexe Spritzgusswerkzeuge herzustellen, die ansonsten entweder gar nicht oder nur unter sehr hohem Arbeits- und Kostenaufwand gefertigt werden könnten. Was bringt das nun? Mit diesen modernen Herstellverfahren lassen sich anatomischen Modelle für medizinische Trainingszwecke herstellen, spezifische Schneideschablonen oder eben auch patientenspezifische Sonderimplantate. In der Zukunft werden diese Verfahren verstärkt auch in der Serienfertigung Anwendung finden, insbesondere in der Produktion von Kleinstserien und hoch komplexen Medizinprodukten.

     

    Frage: Unternehmen im Gesundheitsbereich sehen sich auch juristischen Herausforderungen gegenüber. Stichwort Haftungsrisiken.

     

    Antwort: Tatsächlich machen es die zahlreichen Regularien in der Medizintechnik, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, erforderlich, sich in der Rechtsabteilung eines Medizintechnikunternehmens Spezialwissen anzueignen. Eine der aktuellsten rechtlichen Entwicklungen in diesem Themenkomplex ist sicherlich die ab 26.5.20 anzuwendende MDR, also die EU-Medizinprodukte-Verordnung ( www.iww.de/s2863 ).

     

    Dies zu begleiten und in die Prozesse eines Medizinprodukteherstellers zu implementieren, ist eine Herausforderung für die Unternehmen und betrifft sehr viele Bereiche. Nicht zuletzt auch die Rechtsabteilung. Ein Ziel der MDR ist es, die Produktsicherheit durch höhere Anforderungen insbesondere an den Nachweis der klinischen Evidenz ihrer Leistung zu erhöhen. Für die Hersteller bedeutet das im ersten Schritt einen immensen administrativen Mehraufwand, um die aktuell schon im Markt befindlichen Produkte in diese neue Struktur zu bringen. Für Innovation bedeutet dies im Moment fehlende regulatorische Kapazitäten ‒ nicht nur in den Unternehmen selbst, sondern vor allem bei den benannten Stellen. Das heißt: Für Innovationen in der die Medizintechnikbranche ist mit einer deutlich längeren Time-to-Market (Produkteinführungszeit, d. Red.) und stark steigenden Kosten zu rechnen. Die Auswirkungen auf haftungsrechtliche Themen lassen sich derzeit nur schwer prognostizieren.

     

    Frage: Welche Aufgabenfelder stellen sich Juristen und Rechtsabteilungen in Unternehmen wie Ihren?

     

    Antwort: Das Aufgabenfeld von Unternehmensjuristen in der Medizintechnik ist ‒ wie wohl in allen Branchen ‒ grundsätzlich sehr breit und generalistisch. Auch in unserem Segment gilt, dass wir uns den Herausforderungen der Digitalisierung stellen müssen, sowohl in unserer alltäglichen Arbeitswelt als auch hinsichtlich der durch sie entstehenden Veränderungen unserer Produkte. Ein Beispiel liefert die vorgenannte MDR. Dort wird eine neue Vorschrift zur Klassifizierung von Software als Medizinprodukt eingeführt. Daher steigen die Anforderungen an die Hersteller erheblich. Gleichermaßen ist diese Vorschrift mangels durchführender Rechtsakte seitens der EU so knapp gehalten, dass sich viele Fragen im Moment nicht rechtssicher beantworten lassen. Damit ist eine der Herausforderungen für uns Juristen, sich nicht nur mit neuen Vorschriften selbst auseinanderzusetzen, sondern auch neue Produkte und Innovationstrends zu kennen und tagesaktuell die Entwicklungen zur Medizinprodukteverordnung z. B. in den Industrieverbänden o. ä. zu verfolgen, um so unsere Mandanten im Unternehmen beraten zu können.

     

    Frage: Heimassistenzsysteme, elektronisch übertragene Vitaldaten oder das Arztgespräch am Bildschirm sollen mobil eingeschränkte Patienten unterstützen. Dafür werden große Datenmengen verarbeitet. Wie gehen Hersteller angesichts unterschiedlicher Datenschutzgesetze hiermit um?

     

    Antwort: Technische Digitalsysteme, die Patienten auch zuhause in ihrem Alltag helfen, werden immer stärker gewünscht. Gerade in diesem Bereich sind wir aufgrund restriktiver Regularien weit hinter dem technisch Machbaren zurück. Nachdem das sog. „Fernbehandlungsverbot“ faktisch weggefallen ist, wird dieser Ansatz aber stärker in den Fokus gerückt. Natürlich ist der Datenschutz dabei eine der wesentlichen Herausforderungen im rechtlichen Bereich. Neben der europäischen DS-GVO gibt es nach wie vor Datenschutzgesetze der verschiedenen Länder bzw. sonstige nationale Regularien, wie etwa den durch die bundessozialgerichtliche Rechtsprechung definierten besonderen Schutz von Abrechnungsdaten in Deutschland. Hinzu kommen bei diesen Behandlungsformen in den meisten Ländern Probleme in der Kostenerstattung, da die üblichen Mechanismen der Krankenversicherungen häufig weder die Behandlung selbst noch die Beschaffung der erforderlichen digitalen Ausstattung für die Patienten und Leistungserbringer regeln. Aufgrund dieser verschiedenen Themen sind wir von einem europaweit funktionierenden Fernbehandlungssystem leider noch weit entfernt.

     

    Frage: Ärzte können mit mobilen Geräten unabhängig von ihrer Praxis sein. Ist dies ein Zukunftstrend, genauso wie die Erfassung medizinischer Daten via Apps?

     

    Antwort: Die Medizintechnik ist immer mehr in der Lage, auch komplexe technische Geräte zu verkleinern und sie einfacher bedienen zu lassen. Das kann den Hausbesuch des Arztes effektiver gestalten, allerdings zeigt die Diskussion zum Ärztemangel insbesondere in ländlichen Regionen, dass der Hausbesuch aufgrund fehlender Kapazitäten immer schwieriger werden dürfte. Die Medizintechnik kann hier helfen, indem die Geräte nicht nur leicht unterwegs mitzunehmen, sondern auch immer anwendungssicherer werden. Das kann so weit gehen, dass z. B. die eigentliche Untersuchung nicht mehr zwingend von einem Arzt bzw. in einer Praxis durchgeführt werden muss. Wenn dies auch durch Pflegepersonal, ggf. in Kombination mit einer Fernbehandlung durch den Arzt geschehen könnte, bliebe dem Arzt mehr Zeit dafür, Daten auszuwerten und Therapien festzulegen. Und den Patienten könnte trotzdem im häuslichen Umfeld geholfen werden.

     

    Frage: Sind Apps und Software perspektivisch zuverlässige Assistenten im ärztlichen Alltag?

     

    Antwort: Programme und Apps, die medizinische Diagnosen stellen können ‒ z. B. Apps zur Blutdruckmessung, Erkennung von Melanomen, Hör- oder Sehtests etc., ‒ gehen sogar noch einen Schritt weiter. Damit können Patienten gute Hilfestellung erhalten, ob und wann es sinnvoll ist, einen Arzt zu konsultieren. Ob die Anwendungen künftig auch in einzelnen Indikationen den Arzt ersetzen können, bleibt abzuwarten. Beide Komplexe beinhalten umfangreiche juristische Fragen aus sehr unterschiedlichen Rechtsgebieten. Wir reden hier u. a. über: ärztliches Berufsrecht, Sozial- und Datenschutzrecht, Medizinprodukterecht, Arzneimittel- und Heilmittelwerberecht, Produkthaftungsrecht usw. Das zeigt anschaulich die rechtliche Komplexität, die solche Entwicklungen mit sich bringen und die der Gesetzgeber sinnvoll regeln muss.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Digitales Stethoskop, Augenscreening, mobiles Ultraschall ‒ so rasant wird die Medizin digital, Abruf-Nr. 45709373
    Quelle: ID 46031535