05.01.2021 · IWW-Abrufnummer 219692
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 19.11.2020 – V ZB 49/20
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. November 2020 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Weinland, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp
beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 3. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 11. Mai 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 15.000 €.
Gründe
I.
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Das Landgericht hat die auf Unterlassung von Geräuschemissionen gerichtete Klage durch das der Klägerin am 15. Januar 2020 zugestellte Urteil abgewiesen. Am 13. Februar 2020 hat die Klägerin gegen das Urteil Berufung eingelegt. Nachdem bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 16. März 2020 (Montag) eine Berufungsbegründung bei dem Berufungsgericht nicht eingegangen war, wurde die Klägerin hierauf und auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung hingewiesen. Mit am 1. April 2020 eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und die Berufung zugleich begründet. Sie hat geltend gemacht, die Frist ohne Verschulden versäumt zu haben, da ihr Prozessbevollmächtigter mit Schriftsatz vom 12. März 2020 beantragt habe, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Diesen Schriftsatz habe der Prozessbevollmächtigte persönlich am späten Nachmittag des 12. März 2020 (Donnerstag) in der gegenüber seiner Kanzlei befindlichen Postfiliale abgegeben. Er habe sich darauf verlassen dürfen, dass bei der gewöhnlichen Postlaufzeit der Brief spätestens am Samstag, den 14. März 2020 und damit vor Fristablauf bei dem Berufungsgericht eingehen werde.
2
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
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Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat die Klägerin die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist nicht ohne ihr Verschulden versäumt. Zwar könne eine Partei grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert würden. Da aber die Briefaufgabe in die Zeit der Corona-Pandemie gefallen sei, hätten besondere Umstände vorgelegen, aufgrund derer die Klägerin auf die Zuverlässigkeit des Postversandes nicht habe vertrauen dürfen, sondern einen sichereren Weg (durch Telefaxschreiben oder Schreiben durch besonderes elektronisches Anwaltsfach) habe wählen müssen. Unerheblich sei, dass es zu dieser Zeit noch nicht zu Einschränkungen des Postversandes gekommen sei. Hierauf habe sich die Klägerin nicht verlassen dürfen, zumal sich der Prozessbevollmächtigte zur Begründung des Fristverlängerungsantrags gerade auf eine fehlende Besprechungsmöglichkeit mit der Klägerin angesichts des Corona-Virus berufen habe. Unabhängig davon habe der Prozessbevollmächtigte aber auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, den Schriftsatz mit dem Verlängerungsantrag rechtzeitig bei der Post aufgegeben zu haben. Gegen seine Darstellung spreche, dass der Originalfristverlängerungsantrag vom 12. März 2020 nach wie vor nicht zur Akte gelangt sei. Hinzu komme, dass die sonstigen von der Klägerin gegenüber dem Berufungsgericht abgegebenen Schreiben entweder durch Telefax oder durch besonderes elektronisches Anwaltsfach übermittelt worden seien. Unbestritten geblieben sei zudem, dass die Postfiliale, in der der Brief am 12. März 2020 abgegeben worden sein solle, um 16.00 Uhr schließe. Dies passe nicht zu dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten, dass er den Schriftsatz am "späten Nachmittag" selbst zur Postfiliale gebracht habe. Unter spätem Nachmittag würden landläufig eher Zeiten zwischen 17.00 Uhr und 18.00 Uhr verstanden, während eine Zeit um 16.00 Uhr eher dem "Nachmittag" zuzurechnen sei.
III.
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Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
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1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an das, was eine Partei veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, überspannt und dadurch den Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 126/15, NJW 2016, 2750 Rn. 5 mwN).
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts kann ein der Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung nicht angenommen und die Wiedereinsetzung (§ 233 Abs. 1 ZPO) nicht abgelehnt werden.
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a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt nicht verkennt, darf eine Partei grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags - innerhalb der Briefkastenleerungszeiten - aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden (vgl. nur Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 126/15, NJW 2016, 2750 mwN; BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - VI ZB 19/19, NJW-RR 2020, 311 Rn. 10). Anders liegt es nur, wenn dem Postkunden besondere Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können. Eine solche Ausnahmesituation, in der das Vertrauen in die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten erschüttert sein kann, ist beispielsweise ein Poststreik (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 126/15, NJW 2016, 2750 Rn. 9; Beschluss vom 12. Mai 2016 - V ZB 135/15, NJW 2016, 3789 Rn. 24; BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - VI ZB 19/19, NJW-RR 2020, 311 Rn. 10).
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b) Gegen das Vertrauen auf die üblichen Postlaufzeiten sprechende besondere Umstände hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Dass die Briefaufgabe in die Zeit der Corona-Pandemie fiel, besagt als solches nichts dazu, ob am 12. März 2020 mit Verzögerungen bei der Postzustellung gerechnet werden musste. Konkrete Anhaltspunkte hierfür, etwa entsprechende Hinweise durch die Post oder durch die Medien, werden von dem Berufungsgericht nicht aufgezeigt. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass der Prozessbevollmächtigte den Fristverlängerungsantrag damit begründet hat, wegen der Pandemie sei eine Besprechung mit der Klägerin nicht möglich. Dass es wegen der Pandemie zu Einschränkungen des persönlichen Kontakts zwischen dem Rechtsanwalt und seiner Mandantin kommt, bedeutet nicht, dass auch bei der Postzustellung Einschränkungen zu verzeichnen sind. Indem das Berufungsgericht den Prozessbevollmächtigten hiernach bereits wegen der abstrakten Gefahr von Verzögerungen bei der Postzustellung für verpflichtet hält, einen anderen Übermittlungsweg als die Aufgabe zur Post zu wählen, überspannt es die Sorgfaltsanforderungen, die an einen Rechtsanwalt bei der Wahrung prozessualer Pflichten zu stellen sind.
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c) Die angefochtene Entscheidung wird auch nicht von der Erwägung des Berufungsgerichts getragen, die Klägerin habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter den Fristverlängerungsantrag am 12. März 2020 bei der Post aufgegeben habe.
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aa) Richtig ist, dass die Partei im Rahmen ihres Antrags auf Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen vortragen und glaubhaft machen muss. Eine Behauptung ist - wovon auch das Berufungsgericht ausgeht - schon dann glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. Die Beweise sind im Hinblick darauf frei zu würdigen (§ 286 ZPO). Grundsätzlich ist die Beweiswürdigung dem Tatrichter vorbehalten. An dessen Feststellungen ist das Rechtsbeschwerdegericht gemäß § 577 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 559 Abs. 2 ZPO gebunden; es kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denk- und Erfahrungssätze verstößt (vgl. nur Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 226/12, juris Rn. 12).
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bb) Dieser Nachprüfung hält die Entscheidung nicht stand.
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(1) Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versichert. Von der Richtigkeit einer anwaltlichen Versicherung ist grundsätzlich auszugehen. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte es ausschließen, den geschilderten Sachverhalt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als zutreffend zu erachten. Schenkt das Rechtsmittelgericht einer anwaltlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben, muss es die um Wiedereinsetzung nachsuchende Partei darauf hinweisen und ihr Gelegenheit geben, entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten. Zudem ist dann die Prüfung veranlasst, ob bereits in der Vorlage der anwaltlichen Versicherung zugleich ein Beweisangebot auf Vernehmung des Prozessbevollmächtigten als Zeugen zu den darin genannten Tatsachen liegt. Ist das der Fall, liegt in der Ablehnung der Wiedereinsetzung ohne vorherige Vernehmung des Zeugen eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung (BGH, Beschluss vom 17. November 2015 - VI ZB 38/13, WM 2016, 895 Rn. 9; Beschluss vom 18. Dezember 2019 - XII ZB 379/19, NJW-RR 2020, 501 Rn. 13).
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(2) Dem wird die Vorgehensweise des Berufungsgerichts nicht gerecht. Es hat die Klägerin weder auf die Möglichkeit, Zeugenbeweis anzutreten hingewiesen noch hat es geprüft, ob bereits in der Vorlage der anwaltlichen Versicherung ein solches Beweisangebot lag. Hätte es einen Hinweis erteilt, so hätte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - nach deren Vorbringen in der Rechtsbeschwerde - als Zeuge für die Richtigkeit seiner Angaben benannt.
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(3) Konkrete Anhaltspunkte, die es ausschließen, den geschilderten Sachverhalt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als zutreffend zu erachten, liegen nicht vor. Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass der Originalfristverlängerungsantrag vom 12. März 2020 nicht zur Akte gelangt ist, keinen solchen Schluss. Zwar kommt es vor, dass bei der Post aufgegebene Sendungen nur zeitweilig verloren scheinen und zeitversetzt doch noch bei dem Empfänger eingehen. In gleicher Weise besteht jedoch die Möglichkeit, dass eine Sendung aus im Nachhinein nicht mehr aufklärbaren Umständen auf dem Postweg endgültig verloren geht. Der fehlende Eingang bei dem Empfänger lässt deshalb nicht den Schluss zu, dass das Schriftstück nicht bei der Post aufgegeben wurde. Aus diesem Grund kann eine Partei den unverschuldeten Verlust eines Schriftsatzes auf dem Postweg regelmäßig nicht anders glaubhaft machen als durch die Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Aufgabe zur Post (Senat, Beschluss vom 21. März 2019 - V ZB 97/18, NJW-RR 2019, 827 Rn. 21).
IV.
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Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben, und die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird die Frage der Glaubhaftmachung einer i.S.v. § 233 Satz 1 ZPO unverschuldeten Versäumung der Berufungsbegründungsfrist neu zu prüfen und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin als Zeugen zu vernehmen haben, wenn es die anwaltliche Versicherung weiterhin nicht zur Glaubhaftmachung als ausreichend erachtet. Bei seiner neuen Entscheidung hat das Berufungsgericht zudem Gelegenheit, die ergänzenden Ausführungen der Klägerin in der Rechtsbeschwerde in seine Überlegungen miteinzubeziehen. Dies gilt insbesondere für das Vorbringen, wonach die Postfiliale, bei der der Schriftsatz mit dem Verlängerungsantrag aufgegeben worden sei, am 12. März 2020 nicht nur bis 16.00 Uhr, sondern bis 18.00 Uhr geöffnet gewesen sei.
Stresemann
Schmidt-Räntsch
Weinland
Göbel
Haberkamp