09.11.2021 · IWW-Abrufnummer 225727
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 07.10.2021 – IX ZB 41/20
Für die Widerlegung der Richtigkeit des in einem anwaltlichen Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums genügt das Verstreichen eines ungewöhnlich langen Zeitraums zwischen der gerichtlichen Verfügung und diesem Datum nicht.
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Grupp, die Richter Prof. Dr. Schoppmeyer, Röhl, die Richterin Dr. Selbmann und den Richter Dr. Harms
am 7. Oktober 2021 beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Rottweil vom 9. März 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 3.513,28 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Das Landgericht hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Rottweil vom 5. November 2019 mit Beschluss vom 9. März 2020 als unzulässig verworfen. Die vorab per Fax übermittelte Berufungsbegründung des Klägers sei erst nach Ablauf der bis zum 11. Februar 2020 verlängerten Frist beim Landgericht eingegangen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.
2
Vor Erlass des angefochtenen Beschlusses hat das Berufungsgericht dem Kläger mit Verfügung vom 18. Februar 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Verwerfung mit Fristsetzung bis zum 6. März 2020 geben wollen. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses des Klägers ist ihm die Verfügung des Gerichts jedoch erst am 10. März 2020 zugegangen.
3
Der Kläger hat unter Bezugnahme auf einen Aktenvermerk des zuständigen Justizbeamten unter anderem geltend gemacht, dass zum Zeitpunkt der Übermittlung der Berufungsbegründung die Uhr des Faxgeräts des Berufungsgerichts fehlerhaft noch auf Sommerzeit eingestellt gewesen sei. Unter Zugrundelegung der richtigen Winterzeit sei seine Berufungsbegründung noch am 11. Februar 2020 vor 24.00 Uhr und somit fristgemäß eingegangen.
II.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
5
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat den Kläger vor seiner Entscheidung nicht auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung sowie seine Absicht, die Berufung zu verwerfen, hingewiesen und damit das Verfahrensrecht des Antragstellers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
6
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist dem Berufungskläger rechtliches Gehör zu gewähren (BGH, Beschluss vom 29. Juni 1993 - X ZB 21/92, NJW 1994, 392; vom 18. Juli 2007 - XII ZB 162/06, NJW-RR 2008, 78 Rn. 6; vom 24. Februar 2010 - XII ZB 168/08, NJW-RR 2010, 1075 Rn. 7; vom 4. Dezember 2012 - VIII ZB 25/12, NJW-RR 2013, 255 Rn. 5; vom 6. Dezember 2017 - XII ZB 107/17, MDR 2018, 296 Rn. 6; vgl. auch Musielak/Voit/Ball, ZPO, 18. Aufl., § 522 Rn. 4; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl., § 522 Rn. 4; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl., § 522 Rn. 6, 13). Diese Pflicht wird - da eine ausdrückliche Normierung wie beispielsweise in § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO fehlt - unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitet. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 1993, aaO; vom 18. Juli 2007, aaO; vom 6. Dezember 2017, aaO Rn. 7).
7
b) Der von dem Berufungsgericht erteilte Hinweis ist dem Kläger vor der Entscheidung nicht zugegangen.
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aa) In der Verfahrensakte befindet sich eine Verfügung des Kammervorsitzenden vom 18. Februar 2020, mit der die Parteien auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und die Absicht des Gerichts, die Berufung deshalb als unzulässig zu verwerfen, unter Fristsetzung hingewiesen werden sollten. Diese Verfügung ist ausweislich der Verfahrensakte auch noch an diesem Tag von der Geschäftsstelle ausgefertigt und die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis veranlasst worden. Der Kläger hat jedoch mit dem von ihm unterschriebenen, erst am 13. März 2020 wieder bei Gericht eingegangenen, Empfangsbekenntnis einen Zugang am 10. März 2020 und damit zeitlich nach Erlass der angefochtenen Entscheidung am 9. März 2020 bestätigt. Das Berufungsgericht hat es somit versäumt, sich vor Erlass des Verwerfungsbeschlusses von dem rechtzeitigen Zugang der Hinweisverfügung beim Kläger zu überzeugen (vgl. zu dieser Verpflichtung BVerfG, NJW 2019, 1433 Rn. 17).
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bb) An diesem Umstand ändert es entgegen der Rechtsbeschwerdeerwiderung nichts, dass zwischen der Verfügung des Vorsitzenden und der Zustellung dieser Verfügung an den Kläger ein ungewöhnlich langer Zeitraum vergangen und zudem die gleichzeitig veranlasste Zustellung an die Beklagte bereits am 20. Februar 2020 bewirkt worden ist.
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Das Empfangsbekenntnis beweist gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO und der darin enthaltenen gesetzlichen Beweisregel (§ 286 Abs. 2 ZPO) das in ihm angegebene Zustellungsdatum (BGH, Urteil vom 7. Juni 1990 - III ZR 216/89, NJW 1990, 2125; vom 26. April 2001 - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722, 2723; Beschluss vom 19. April 2012 - IX ZB 303/11, ZInsO 2012, 1088 Rn. 6). Dadurch ist der Beweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt erreicht hat, allerdings nicht ausgeschlossen. Nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im Empfangsbekenntnis. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, mit anderen Worten jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden (BGH, Urteil vom 7. Juni 1990, aaO; vom 26. April 2001, aaO; Beschluss vom 19. April 2012, aaO; vgl. auch BVerfG, NJW 2001, 1563).
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Für Letzteres genügt ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen Verfügung und Zustellung noch nicht. Das gilt hier umso mehr, als der Kläger darauf verwiesen hat, dass es immer wieder vorkomme, dass für sein Postfach vorgesehene Schriftstücke in die Fächer anderer Rechtsanwälte eingelegt würden und umgekehrt. Dafür hat er auch Belege zu den Akten gereicht.
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c) Der angefochtene Beschluss beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Hätte der Kläger vor der Entscheidung des Berufungsgerichts Gelegenheit zur Äußerung zu dem vermeintlich verspäteten Eingang seiner Berufungsbegründung gehabt, hätte er insbesondere auf die falsche Einstellung der Uhr des gerichtlichen Faxgerätes und den dazu gefertigten Aktenvermerk des zuständigen Beamten vom 12. März 2020 verweisen können. Das Berufungsgericht hätte dann Gelegenheit gehabt, diesem Vorbringen nachzugehen und dessen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass es sich in diesem Fall von dem rechtzeitigen Eingang der Berufungsbegründung überzeugt hätte.
Grupp
Schoppmeyer
Röhl
Selbmann
Harms