29.11.2022 · IWW-Abrufnummer 232539
Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein: Beschluss vom 24.10.2022 – 2 LA 45/22
Das Berufungsgericht ist nicht zur Weiterleitung eines falsch adressierten Rechtsmittelschriftsatzes an das zuständige Verwaltungsgericht verpflichtet.
Mit der abschließenden Signatur übernimmt die Rechtsanwältin die Verantwortung für den Schriftsatz und dessen Inhalt.
Es fällt in den Verantwortungsbereich der Beteiligten, die Rechtsmittelbelehrung zu lesen und strikt zu beachten.
Das Berufungsgericht ist nicht verpflichtet, eingehende Rechtsmittelschriftsätze sofort darauf zu überprüfen, ob sie den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, um noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist entsprechende Hinweise zur möglichen Heilung durch den Rechtsmittelführer zu erteilen. Erfolgt gleichwohl ein solcher Hinweis durch das Berufungsgericht, fällt es in den Verantwortungsbereich des Beteiligten, diesen zu beachten.
In der Verwaltungsrechtssache
der Frau ...
- Klägerin und Zulassungsantragstellerin -
Proz.-Bev.: Rechtsanwälte ...
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Boostedt -, Neumünsterstraße 110, 24598 Boostedt
- Beklagte und Zulassungsantragsgegnerin -
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Klägerin hat nicht fristgerecht beim zuständigen Gericht den Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils, § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG, bei dem Verwaltungsgericht, § 78 Abs. 4 Satz 2 AsylG, zu stellen. Die Klägerin, der das Urteil am 22. Juni 2022 zugestellt wurde, hat bis zum Ablauf des 22. Juli 2022, § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 1 BGB, keinen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht gestellt.
Der an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung vom 15. Juli 2022 stellt keinen entsprechenden Antrag dar. Dabei kann offenbleiben, ob allein der Umstand, dass der Schriftsatz nicht an das Oberverwaltungsgericht, sondern an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht übersandt und von diesem in Papierform an das Oberverwaltungsgericht weitergleitet wurde, wo er am 18. Juli 2022 eingegangen ist, zur Unzulässigkeit führte, weil damit die elektronische Form nicht gewahrt bzw. der sichere Übermittlungsweg unterbrochen wurde (vgl. dazu OLG Bamberg, Beschluss vom 2. Mai 2022 - 2 UF 16/22 -, juris Rn. 13 ff.; VG Halle, Urteil vom 15. November 2021 - 5 A 235/21 -, juris Rn. 27). Denn der Berufungszulassungsschriftsatz ist beim Verwaltungsgericht nicht innerhalb der Frist eingegangen, sondern - wenngleich wiederum falsch adressiert und auch im Übrigen inhaltlich unverändert (einschließlich des Ursprungsdatums und aller Schreibfehler) - erst nach Fristablauf am 2. August 2022 mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 1. August 2022.
Die Vorgabe des § 78 Abs. 4 Satz 2 AsylG, den Antrag auf Zulassung der Berufung bei dem Verwaltungsgericht zu stellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. März 2003 - 1 BvR 310/03 -, juris Rn. 7-8). Eine Auslegung dieser Vorschrift dahingehend, dass auch eine an das Oberverwaltungsgericht gerichtete Begründung des Zulassungsantrages das Verfahren und die Frist des § 78 Abs. 4 AsylG wahrt, ist unzulässig. Eine solche Auslegung widerspräche bereits dem klaren Wortlaut der Norm, zudem ihrer Entstehungsgeschichte, einem Abgleich mit ähnlichen Verfahrensvorschriften sowie dem Sinn und Zweck der Vorschrift, nämlich der Verfahrensbeschleunigung (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 22. Februar 1995 - 2 L 6/95 -, juris Rn. 16; OVG Koblenz, Beschluss vom 22. April 1996 - 11 A 10502/96 -, juris Rn. 3; OVG Münster, Beschluss vom 6. September 2017 - 13 A 1984/17.A -, juris Rn. 1 ff.).
Der Klägerin ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO liegen nicht vor, da die Klägerin nicht ohne Verschulden verhindert war, innerhalb der gesetzlichen Frist einen Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen. Vielmehr beruhen sowohl die Falschadressierung an das Oberverwaltungsgericht als auch die elektronische Übermittlung an das Oberlandesgericht auf Handlungen ihrer Prozessbevollmächtigten, die sich die Klägerin wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO, vgl. hierzu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. Juni 2000 - 2 BvR 1989/97 -, juris Rn. 7-8; BVerwG, Beschluss vom 8. März 1984 - 9 B 15204.82 -, juris Rn. 2).
Nach dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin trägt diese die Verantwortung sowohl für die Adressierung an das Oberverwaltungsgericht als auch für den Versand an das Oberlandesgericht. Denn sie hat den Schriftsatz signiert und ohne (erneute) Kontrolle versandt.
Der Vortrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist nicht geeignet, ein fehlendes Verschulden zu begründen. Hierzu trägt sie vor, der Ablauf sei in ihrer Kanzlei dergestalt, dass Schriftsätze von ihr diktiert und nach dem Diktat kontrolliert würden. Danach bereite die Rechtsanwaltsfachangestellte den Versand, einschließlich der Adressierung und der Beifügung der (unsignierten) Schriftsätze als Anlage, vor. Sie, die Rechtsanwältin, signiere dann und veranlasse den bereits vorbereiteten Versand ohne nochmalige Kontrolle. So sei dies auch im vorliegenden Fall geschehen, dabei sei von der Rechtsanwaltsfachangestellten versehentlich eine fehlerhafte Fassung des Schriftsatzes in den Postausgang eingestellt worden.
Mit der abschließenden Signatur übernimmt die Rechtsanwältin die Verantwortung für den Schriftsatz und seinen Inhalt. Sie muss die Rechtsmittelschrift deswegen vor der Signatur auf die Vollständigkeit, darunter auch auf die richtige Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts, überprüfen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 22. Februar 2022 - 2 A 2940/21 -, juris Rn. 6; BGH, Beschluss vom 8. März 2022 - VI ZB 78/21 -, juris Rn. 11). Soweit sie dies nicht tut und einen anderweitigen, hier falsch adressierten, Schriftsatz signiert und in den Rechtsverkehr entlässt, ist ihr der Fehler zuzurechnen. Eine solche genaue Überprüfung vor der Signatur und der Absendung hätte vorliegend erst recht nahegelegen, weil der Prozessbevollmächtigten - so ihr Vortrag - der Zulassungsantrag zunächst mit dem fehlerhaften Adressfeld "Oberverwaltungsgericht" vorgelegt worden war, sie dieses handschriftlich durchgestrichen und mit "Verwaltungsgericht" korrigiert habe. Ohne dass es darauf ankäme, ist es auch nicht zutreffend, dass nach ihrer Signatur sodann - wie sie weiter vorträgt - die Mitarbeiterin aus der Akte den falschen Schriftsatz versandt habe. Auch die Übersendung an das Oberlandesgericht ist der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, und nicht ihrer Mitarbeiterin, zuzurechnen, denn den Versand hat nach der Signatur (am 15. Juli 2022, 10: 40: 07 Uhr) nicht ihre Mitarbeiterin, sondern diese selbst übernommen.
Der Klägerin ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor dem Hintergrund zu gewähren, dass das Oberverwaltungsgericht den am 18. Juli 2022 bei ihm eingegangenen Schriftsatz vom 15. Juli 2022 nicht noch vor Ablauf der gesetzlichen Frist (zum Ablauf des 22. Juli 2022) an das Verwaltungsgericht weitergeleitet hat. Eine solche Verantwortungsverschiebung von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin und dieser selbst auf das Gericht ist nicht angezeigt.
Das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2018 - 9 B 20.17 -, juris Rn. 7-8 m. w. N.) hat, ebenso wie das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. Januar 2001 - 1 BvR 2147/00 -, juris Rn. 10), offengelassen, ob aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Weiterleitungspflicht für ein unzuständiges Gericht besteht, das vorher nicht mit der Sache befasst war. Für den vorliegenden Fall ist das nicht anzunehmen, da die anwaltlich vertretene Klägerin sowohl aufgrund der korrekten Rechtsmittelbelehrung (im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 31. Mai 2022) als auch aufgrund des richterlichen Hinweises des Oberverwaltungsgerichts (vom 18. Juli 2022) hinreichend Zeit und Anhaltspunkte hatte, die Frist (zum Ablauf des 22. Juli 2022) und die Zuständigkeit (des Verwaltungsgerichts) im Hinblick auf ihren Berufungszulassungsschriftsatz einzuhalten.
Wegen der mit Urteil des Verwaltungsgerichts an die Hand gegebenen Rechtsmittelbelehrung ergibt sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren keine Notwendigkeit eine Weiterleitungspflicht anzunehmen (anders für zivilgerichtliche Urteile bei einer fehlenden Rechtsmittelbelehrung: BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995 - 1 BvR 166/93 -, juris Rn. 42-48). Denn mit der Rechtsmittelbelehrung kommen die Verwaltungsgerichte dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebot des fairen Verfahrens nach, aus dem das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, a. a. O.) für die Zivilrechtsprechung die gesetzlich nicht normierte Pflicht zur Weiterleitung an das zuständige Gericht gefolgert hatte, weil seinerzeit keine Rechtsmittelbelehrungen in der Zivilgerichtsbarkeit notwendig waren (vgl. heute § 232 ZPO). Im Verwaltungsprozess erhält der Verfahrensbeteiligte bereits mit der Entscheidung eine Belehrung - wie hier mit der Schriftart "fett" hervorgehoben -, die ihn insbesondere auch darüber informiert, wo ein Rechtsmittel einzulegen ist. Es fällt dann in die Verantwortung der Beteiligten, die Rechtsmittelbelehrung zu lesen und strikt zu beachten. Tun sie dies nicht, besteht in aller Regel keine Verpflichtung des Gerichts, auf eine Beseitigung des Fehlers innerhalb einer noch laufenden Rechtsmittelfrist hinzuwirken, sei es durch schnelle Unterrichtung des Rechtsuchenden oder durch Weiterleitung an das zuständige Gericht (vgl. zum Ganzen: OVG Greifswald, Beschluss vom 29. Oktober 1998 - 3 M 118/98 -, juris Rn. 13 m. w. N.; im Ergebnis ebenso: OVG Magdeburg, Beschluss vom 10. Juli 2008 - 3 L 163/08 -, juris Rn. 13 ff.; OVG Koblenz, Beschluss vom 22. Oktober 2007 - 10 A 10735/07 -, juris Rn. 5 ff.; VGH München, Beschluss vom 23. Mai 2005 - 25 ZB 03.881 - juris Rn. 3; Beschluss vom 13. Februar 2003 - 3 ZB 02.2780 - juris Rn. 3 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. August 2004 - 2 N 75.04 - juris Rn. 6 ff.; VGH Kassel, Beschluss vom 14. Juni 1996 - 12 UZ 1657/96. A -, juris Rn. 4).
Zudem hat das Oberverwaltungsgericht - ohne dass es dazu verpflichtet gewesen wäre - die Klägerin mit Hinweis vom 18. Juli 2022 frühzeitig auf den Fehler hingewiesen und damit die Nachholung der bis dahin versäumten Rechtshandlung noch innerhalb der gesetzlichen Frist (bis zum Ablauf des 22. Juli 2022) ermöglicht. Wiederum in der der Klägerin zuzurechnenden Sphäre ihrer Prozessbevollmächtigten liegt es, während dieser Zeit für eine adäquate Urlaubsvertretung Sorge zu tragen.
Schon zu dem Hinweis ist das Oberverwaltungsgericht selbst dann nicht verpflichtet, wenn es vor Fristablauf die drohende Unzulässigkeit des Rechtsmittels erkennt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. August 2004 - 2 N 75.04 -, juris Rn. 7 ff.). Aus dem Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip) und aus der daraus sich ergebenden verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte ergibt sich keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit (des richtigen Verwaltungsgerichts als iudex a quo) bei Eingang einer Rechtsmittelschrift. Dies enthöbe die Verfahrensbeteiligten und deren Prozessbevollmächtigte ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien und überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens zumal vor dem Oberverwaltungsgericht nach § 67 Abs. 4 VwGO Vertretungszwang besteht. Die Abwägung einer fairen Verfahrensgestaltung durch richterliche Fürsorge gebietet von Verfassungs wegen nicht nur eine Orientierung am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung, sondern erfordert es auch zu berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. Januar 2006 - 1 BvR 2558/05 -, juris Rn. 8; BGH, Beschluss vom 18. März 2008 - VIII ZB 4/06 -, juris Rn. 11 ff. m. w. N.).
Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Antrag auf Zulassung der Berufung, abgesehen davon, dass er bis heute nicht an das richtige Gericht adressiert ist, auch bei fristgerechtem Eingang beim richtigen Gericht mangels Darlegung eines Zulassungsgrundes (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) als unzulässig zu verwerfen wäre. Der Zulassungsantrag wird zwar Eingangs auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützt, hierzu werden aber keine Fragen formuliert (diese scheinen vergessen worden zu sein, siehe Seite 1 unten, 2 oben in dem Antrag). Nach einer Rezeption des Sachverhalts unter I folgt unter II eine Begründung, die (wohl) damit endet, dass eine umfassende Würdigung des Sachverhaltes vermisst wird (der Satz ist insoweit unvollständig), weshalb sich nicht einmal sinngemäß eine über den Einzelfall hinausgehende Fragestellung sich für das Gericht erahnen lässt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).