05.03.2024 · IWW-Abrufnummer 240121
Landessozialgericht Hamburg: Urteil vom 14.12.2023 – L 4 SO 51/22 D
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 14.12.2023
Tenor:
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Februar 2022 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob den Klägern Leistungen der Grundsicherung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zustehen.2
Der 1939 geborene Kläger und die 1940 geborene Klägerin sind verheiratet und standen als Altersrentner bis zum 30. September 2016 neben Leistungen zur Pflege und der Haushaltshilfe im Bezug von aufstockenden Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.
3
Eine weitere Leistungsgewährung ab dem 1. Oktober 2016 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Oktober 2016 ab und führte zur Begründung aus, die von den Klägern in Erledigung eines Aufforderungsschreibens vom 13. Juni 2016 vorgelegten Unterlagen ließen erhebliche Zweifel an der Hilfebedürftigkeit aufkommen. Es sei davon auszugehen, dass die Kläger über Einkommen bzw. Vermögen verfügten, welches sie nicht angegeben hätten.
4
In dem daraufhin parallel zum Widerspruchsverfahren am 13. Oktober 2016 von den Klägern angestrengten einstweiligen Anordnungsverfahren präzisierte die Beklagte die Ablehnung dahingehend, dass aus den vorgelegten Kontoauszügen regelmäßige, hohe Überweisungen an den Sohn der Kläger und diverse Bareinzahlungen zu erkennen seien. Auch seien von den Klägern durchgängig während des Leistungsbezugs Tilgungszinsen für eine Eigentumswohnung in Höhe von 506 Euro bedient worden, obwohl für Schuldzinsen von der Beklagten lediglich 445,46 Euro an Unterkunftskosten berücksichtigt worden seien. Ferner sei im August 2016 eine Lebensversicherung mit einem Rückkaufswert von 4.000 Euro aufgelöst worden, ohne dass dies von den Klägern angegeben worden sei. Im Übrigen unterhielten die Kläger auch einen PKW, der im Antragsverfahren bislang verschwiegen worden sei.
5
Die Kläger erklärten die wiederkehrenden Bargeldeinzahlungen auf ihr Konto und Überweisungen von ihrem Konto auf das Konto ihres Sohnes damit, dass sie selbst keine Auszahlungen von ihrem Konto, insbesondere am Geldautomaten, vornehmen würden. Für ihren Lebensunterhalt würde ihr Sohn mit einer Kontovollmacht Geld von ihrem Konto auf sein eigenes Konto überweisen und das Geld schließlich ihnen bar übergeben. Die Bareinzahlungen seien durch den Sohn als Darlehen zur Überbrückung erfolgt, bis die monatlichen Leistungen der Beklagten auf dem Konto eingegangen seien. Mit dem Eingang der Leistungen seien die Beträge vom Sohn selbst wieder zurück auf sein Konto überwiesen worden.
6
Das Sozialgericht verpflichtete die Beklagte mit Beschluss vom 22. Dezember 2016 (S 7 SO 515/16 ER) zur vorläufigen, darlehensweisen Leistungserbringung auch über den 30. September 2016 hinaus, zunächst bis zum 28. Februar 2017, längstens bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, in Höhe von monatlich 1.184,44 Euro. Die dagegen von der Beklagten eingelegte Beschwerde wurde vom erkennenden Senat mit Beschluss vom 21. Februar 2017 als unzulässig verworfen (L 4 SO 2/17 B ER).
7
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2017 wies die Beklagte den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid vom 12. Oktober 2016 zurück. Die Beklagte hielt daran fest, dass erhebliche Zweifel daran bestünden, dass die Kläger ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen nach § 43 SGB XII bestreiten könnten. Obwohl die Kläger vortragen würden, neben ihren Renteneinkünften keinerlei Einkünfte zu erzielen, würden sie Tilgungsraten und Bausparverträge bedienen und ein Kfz unterhalten. Nachweise über die Zahlungsstrukturen auf ihrem Konto würden trotz Aufforderung nicht erbracht. Versehentlich sei der Beschluss des Sozialgerichts vom 22. Dezember 2016 zunächst nicht umgesetzt worden. Trotz anwaltlicher Vertretung hätten sich die Kläger aber bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens am 23. Februar 2017 nicht bei der Beklagten gemeldet. Vor diesem Hintergrund würden sich die Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Kläger erhärten.
8
Hiergegen haben die Kläger am 28. März 2017 Klage erhoben.
9
Sie haben sich zunächst auf das Vorbringen im Eilverfahren bezogen und betont, nur durch Darlehen Dritter ihre Existenz sichern zu können. Die Kläger haben diesbezüglich Darlehensvereinbarungen mit ihrem Sohn, ihrer Tochter und weiteren Dritten vorgelegt.
10
Die Kläger haben vor dem Sozialgericht beantragt,
11
den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB XII ab dem 1. Oktober 2016 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie hat zur Begründung zunächst auf den Widerspruchsbescheid verwiesen und ihre Zweifel in den nachgehend eingereichten Unterlagen bestätigt gesehen, insbesondere, weil die Kläger zu jener Zeit für ihre Eigentumswohnung Tilgungsraten von über 600 Euro zahlten und zudem ihren Lebensunterhalt bestritten.
15
Während des Klageverfahrens haben sich die Kläger am 6. Juli 2017 erneut an das Sozialgericht mit einem weiteren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gewandt. Das Sozialgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 12. September 2017 abgelehnt (S 7 SO 345/17 ER). Die von den Klägern hiergegen eingelegte Beschwerde vom 12. Oktober 2017 blieb ohne Erfolg (Beschluss des erkennenden Senats vom 30.11.2017 - L 4 SO 77/17 ER).
16
Im Anschluss an einen Termin zur Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren, in dem der Sohn der Kläger als Zeuge vernommen worden war, haben die Kläger am 23. Januar 2019 erneut Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt (S 7 SO 32/19 ER). Auf der Grundlage der Vernehmung des Sohnes und der zu diesem Zeitpunkt vorgelegten ergänzenden Kontounterlagen von Oktober 2017 bis Dezember 2018 hat es das Sozialgericht für glaubhaft erachtet, dass die Kläger ihre bestehende Bedarfslücke lediglich durch Hilfeleistungen Dritter decken und diese Leistungen den Klägern nur als Darlehen gewährt würden. Mit Beschluss vom 31. Januar 2019 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte daraufhin, den Klägern bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig Leistungen nach dem SGB XII ab dem 23. Januar 2019 unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten in Höhe von 771,02 Euro zu gewähren. Die hiergegen von der Beklagten erhobenen Beschwerde blieb ohne Erfolg (Beschluss des erkennenden Senats vom 26.2.2019 - L 4 SO 3/19 B ER).
17
Das Sozialgericht hat am 29. September 2021 zu einem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung geladen. Einen Tag vor dem Termin reichte die über Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwältin V. aktuelle Kontoauszüge für den Zeitraum von Februar 2019 bis August 2021 und eine Anschlusszinsvereinbarung der H. vom 11. April 2019 ein. Aus der Vereinbarung ergab sich für die Kläger eine monatliche Zahlung an die Sparkasse in Höhe von 700 Euro, wovon ein Betrag von 79,96 Euro an Zinsen und 620,04 Euro an Tilgung enthalten war. Das Restkapital des Darlehens betrug am 30. April 2019 80.254,81 Euro.
18
Die Beklagte hat in ihrer im Anschluss an den Termin abgegebenen Stellungnahme an ihren Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit der Kläger festgehalten. Aus den eingereichten Unterlagen werde deutlich, dass die Kläger ihre Eigentumswohnung mit Mitteln der Sozialhilfe finanzierten. Neben den vorläufig auf der Grundlage des Beschlusses des Sozialgerichts vom 31. Januar 2019 gewährten Grundsicherungsleistungen würden wieder Einzahlungen von Dritten aus den vorgelegten Kontoauszügen hervorgehen, etwaige Rückzahlungsbeträge hingegen nicht. Es sei zudem nicht erklärlich, wie es den Klägern möglich gewesen sei, im Rahmen der Grundsicherungsleistungen Tilgungsraten von über 600 Euro monatlich zu leisten und zugleich ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
19
Am 16. Februar 2022 hat vor dem Sozialgericht ein erneuter Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. In diesem ist für die seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten der Kläger Herr Rechtsanwalt M. erschienen, der auf entsprechenden Antrag hin den Klägern unter Änderung des Beiordnungsbeschlusses vom 29. Dezember 2020 anstelle der Rechtsanwältin V. beigeordnet wurde.
20
Mit Urteil vom 16. Februar 2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
21
Zur Begründung hat es ausgeführt, die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhobene Klage sei zulässig, aber unbegründet. Der eine weitere Leistungsgewährung ablehnende Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2017 sei rechtmäßig. Die Kläger gehörten zwar dem Grunde nach zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, weil sie beide die in § 41 Absatz 2 SGB XII genannte Altersgrenze erreicht hätten. Das Gericht gehe zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung aber davon aus, dass die Kläger nicht hilfebedürftig seien, da sie ihren sozialhilferechtlichen Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten könnten. Die Kläger hätten mit der Verpflichtung der Beklagten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren seit Januar 2019 ca. 1.200 Euro vorläufige Leistungen von der Beklagten erhalten, im Jahr 2021 konkret 1.221,68 Euro. An Rentenzahlungen hätten die Kläger monatlich 205,78 Euro und 145,56 Euro, mithin monatlich zusammen 351,34 Euro erhalten, so dass ihnen insgesamt 1.573,02 Euro zur Verfügung gestanden hätten. Im Monat Januar 2021 hätten die Kläger Unterkunftskosten in Höhe von 700 Euro als Darlehensleistung gegenüber der H. und 366 Euro als Hausgeld gehabt, die auf die Monate umgelegte Grundsteuer in Höhe von 43,90 Euro ausgenommen, mit dem Ergebnis, dass den Klägern 507,56 Euro für den Lebensunterhalt verblieben seien. Laut Kontoauszug seien hiervon 103,31 Euro an eine Autoversicherung gezahlt worden, 32,94 Euro und nochmals 20,98 Euro an eine Telefongesellschaft und 129,00 Euro an den Energieversorger, so dass noch 221,33 Euro verblieben seien, wovon 220 Euro als Barauszahlung an die Kläger gegangen sein sollten. Bei einem Regelsatz von jeweils 404 Euro erscheine es nicht plausibel, dass die Kläger ihre gemeinsamen laufenden Lebenshaltungskosten von 220 Euro bestritten haben wollten. Tatsächlich seien in anderen Monaten auch höhere Barauszahlungen zu verzeichnen, die allerdings nie auch nur annähernd an die den Klägern zustehenden beiden Regelsätze herangereicht hätten, in anderen Monaten aber auch deutlich weniger als 220 Euro, so im September 2019 nur 50 Euro und im Oktober 2019 nur 150 Euro. In jedem Fall sprächen die als Auszahlungen gekennzeichnete Beträge ihrer Höhe nach dafür, dass die Kläger mit anderen als den auf dem Konto eingehenden Mitteln ihren Lebensunterhalt bestritten. Tatsächlich fänden sich auf den Kontoauszügen auch immer wieder als Darlehen gekennzeichnete Einzahlungen: Am 25. Januar 2019 1.000 Euro, am 5. November 2019 1.000 Euro, am 29. November 2019 1.000 Euro, am 3. Februar 2020 1.000 Euro. Abgesehen davon, dass diese Beträge nicht die beträchtliche Lücke für den Lebensunterhalt der Kläger schlössen, fänden sich auf den Kontoauszügen trotz der behaupteten prekären Situation der Kläger auch bereits Zahlungen zur Schuldenbegleichung an den Sohn (am 1.3.2019 350 Euro, am 4.3.2019 100 Euro und am 9.12.2019 1.000 Euro), für die eigentlich noch kein Raum hätte sein können.
22
Wie aus einer Anschlussfinanzierung der Sparkasse vom April 2019 und den anschließenden Erläuterungen der Zahlungen an die Sparkasse auf den Kontoauszügen deutlich werde, hätten die Kläger mit den von der Beklagten erhaltenen Leistungen tatsächlich auch einen beträchtlichen Teil für die Tilgung des Darlehens für ihre Eigentumswohnung verwendet. In dem monatlich an die Sparkasse gehenden Betrag von 700 Euro seien ein Betrag von 79,96 Euro an Zinsen und ein Betrag von 620,04 Euro an Tilgung enthalten. Tilgungsleistungen seien grundsätzlich nicht als Bedarf im Grundsicherungsrecht nach dem SGB XII anerkannt. Eine Übernahme erfolge nur ausnahmsweise, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen vorlägen: 1. Bemühungen um eine Reduzierung der Tilgungsrate bzw. eine Aussetzung der Tilgungsrate, 2. die Finanzierung stehe kurz vor dem Ende, 3. die Finanzierung habe bereits vor dem Sozialhilfebezug begonnen. Nach der vorgelegten Anschlussfinanzierungsvereinbarung vom 11. April 2019 habe das Restkapital des Darlehens am 30. April 2019 80.254,81 Euro betragen. Auch wenn sich dieser Betrag mittlerweile verringert haben werde, sei nicht von einem bevorstehenden Ende der Finanzierung auszugehen. Wenn die Tilgungsleistung aber außer Acht zu bleiben habe, würde der anzuerkennende Unterkunftskostenbedarf lediglich 489,09 Euro (Wohngeld 366 Euro, Grundsteuer 43,90 Euro und Zinsen 79,19 Euro) gegenüber tatsächlich erforderlichen 1.189,09 Euro betragen. Noch mehr als zuvor wären die Kläger also auf Mittel Dritter angewiesen, die ihnen nach Auffassung des Gerichts aber jetzt schon zur Verfügung stünden, um den Lebensunterhalt zu sichern und die Wohnung zu erhalten.
23
Das Sozialgericht hat das Urteil am 7. April 2022 dem Rechtsanwalt M. elektronisch in das besondere Anwaltspostfach übersandt und ein elektronisches Empfangsbekenntnis (eEB) angefordert. Das Urteil ist ausweislich des dem Senat vorliegenden Datensatzes am 7. April 2022 um 10: 55 Uhr auf dem Server des Rechtsanwalts eingegangen, womit der Übermittlungsvorgang abgeschlossen worden war. Rechtsanwalt M. hat in der Folge das eEB trotz mehrfacher schriftlicher und telefonischer Erinnerung durch das Sozialgericht (vom 12.5. und 23.5. sowie vom 30.5.2022) nicht zurückgesandt. Das Sozialgericht hat daraufhin das Urteil am 28. Juni 2022 gegen Postzustellungsurkunde (PZU) erneut an Rechtsanwalt M. versandt. Diese Zustellung erfolgte am 1. Juli 2022.
24
Die Kläger haben - zunächst unvertreten - am 15. Juli 2022 Berufung eingelegt. Ihr neuer Prozessbevollmächtigter hat sodann ausgeführt: Die Berufung sei fristgerecht eingelegt worden. Auch das Sozialgericht sei davon ausgegangen, dass eine vorherige Zustellung nicht erfolgt sei und habe deshalb einen anderen Zustellungsweg gewählt. Maßgeblich für den Beginn der Berufungsfrist sei deshalb die Zustellung per PZU am 1. Juli 2022 an den vormaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger. In der Sache habe das Sozialgericht nicht ausreichend den kulturellen Hintergrund der Kläger gewürdigt, dies insbesondere mit Blick auf die sozialen und familiären Verhältnisse. Die Kläger hätten aus der Familie und dem Bekanntenkreis verschiedentlich Hilfestellungen und Darlehen erhalten, nicht hingegen Geschenke. Allein mit Hilfe der Darlehen hätten die Kläger die verschiedenen Ausgaben finanzieren können. Die vom Sozialgericht erwähnten mehrfachen Zahlungen an die Kläger in Höhe von 1.000 Euro stellten sich als Darlehen eines befreundeten Arztes dar. Name und Adresse würden nachgereicht. Auch der Sohn der Kläger habe diese regelmäßig darlehensweise unterstützt. Er habe dazu selbst einen Kredit bei seiner Bank aufnehmen müssen. Auch die Tochter habe die Kläger darlehensweise unterstützt. Überdies hätten die Kläger außerordentlich sparsam gelebt, sodass die Höhe des Regelsatzes nicht als Referenz herangezogen werden könne.
25
Die Kläger beantragen:
26
1.
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Februar 2022, Az.: S 7 SO 169/17, und der Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2017 wird aufgehoben.
27
2.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern Leistungen nach dem SGB XII ab dem 1. Oktober 2016 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
28
Die Beklagte beantragt,
29
die Berufung zu verwerfen.
30
Sie hält die Berufung für verfristet, da eine Zustellung bereits am 7. April 2022 erfolgt sei.
31
Der Senat hat Rechtsanwalt M. schriftlich um Mitteilung gebeten, wann ihm das Urteil in elektronischer Form tatsächlich zugegangen ist. Nach mehrfacher Erinnerung hat Rechtsanwalt M. eine Auskunft unter Bezugnahme auf seine anwaltliche Schweigepflicht verweigert. Die Rechtsanwaltskammer H. hat sodann mit Schreiben vom 11. Mai 2023 mitgeteilt, auf entsprechende Beschwerde der Beklagten gegen Rechtsanwalt M. eine Rüge wegen Verstoßes gegen § 14 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (Zustellungen) erteilt zu haben. Der Senat hat Rechtsanwalt M. daraufhin erneut zu Abgabe der geforderten Erklärung aufgefordert.
32
Am 6. November 2023 hat ein Erörterungstermin stattgefunden, zu dem Rechtsanwalt M. als Zeuge geladen worden, aber unentschuldigt nicht erschienen ist, woraufhin der Senat gegen ihn ein Ordnungsgeld verhängt hat (Beschluss vom 16.11.2023).
33
Die Beteiligten haben im Termin ihr Einverständnis mit einer schriftlichen Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter erteilt.
34
Nachdem die Kläger im Nachgang eine Erklärung beigereicht hatten, der zufolge sie Rechtsanwalt M. von seiner Schweigepflicht entbinden, hat der Senat die Beteiligten mit Schreiben vom 28. November 2023 darauf hingewiesen, dass - aus vom Senat im Hinweisschreiben näher dargelegten Gründen - nicht länger beabsichtigt sei, eine Stellungnahme des Rechtsanwalts M. zur Frage der Zustellung einzuholen. Es stehe den Klägern jedoch frei, eine entsprechende Erklärung des Rechtsanwalts M. beizureichen.
35
Die Kläger haben daraufhin weiter ausführen lassen, Herr M. habe hinsichtlich der Übersendung des Urteils durch eEB am 7. April 2022 nicht den Willen gehabt, das Urteil des Sozialgerichts entgegenzunehmen, und er habe von dem Urteil auch keine Kenntnis gehabt. Folglich sei er nicht empfangsbereit gewesen, weshalb auch eine Heilung des Zustellungsmangels nach § 189 Zivilprozessordnung (ZPO) ausscheide.
36
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, einschließlich jener des Sozialgerichts, sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
37
Die Entscheidung über das Berufungsverfahren kann gemäß § 155 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch den Berichterstatter anstelle des Senats und mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erfolgen, weil die Beteiligten ihr Einverständnis zu dieser Verfahrensweise erteilt haben.
II.
38
Die Berufung ist unzulässig. Sie ist bereits nicht fristgerecht erhoben worden.
39
Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung binnen eines Monats, gerechnet ab Zustellung der angefochtenen Entscheidung einzulegen. Sofern das rechnerische Ende der Monatsfrist auf einen Samstag, einen Sonntag oder einen gesetzlichen Feiertag fällt, ist gemäß § 64 Abs. 3 SGG auf den darauffolgenden Werktag abzustellen.
40
Die Einlegung der Berufung ist hier außerhalb der Monatsfrist erfolgt. Das Urteil des Sozialgerichts vom 16. Februar 2022, das eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung enthielt, ist dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger, Herrn Rechtsanwalt M., gegen eEB zugestellt worden. Ungeachtet der Frage, ob diese Zustellung bereits am 7. April 2022 selbst oder in den Tagen nach dem Eingang auf dem Server des Rechtsanwalts erfolgt ist, ist hier von einer Zustellung spätestens am 30. Mai 2022 auszugehen, da feststeht, dass das Urteil dem Rechtsanwalt M. jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen war.
41
Im Einzelnen:
42
Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG wird von Amts wegen nach den Vorschriften der ZPO zugestellt. §§ 173, 175 und 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO sind entsprechend anzuwenden auf die nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 9 zur Prozessvertretung zugelassenen Personen (Satz 2). Bei der Zustellung eines Dokuments durch Empfangsbekenntnis (EB) ist Zustellungsdatum der Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt (vgl. BSG, Urteil vom 13.5.2015 - B 6 KA 18/14 R). § 173 Abs. 3 ZPO erlaubt die elektronische Übermittlung an Personen, die kraft Gesetzes verpflichtet sind, einen sicheren Übermittlungsweg für die elektronische Zustellung zu eröffnen. Dies sind gemäß § 173 Abs. 2 ZPO u.a. Rechtsanwälte (H. Müller, in: jurisPK-ERV, Stand: 5.12.2023, § 151 Rn. 81). Die Zustellung einer Entscheidung im elektronischen Rechtsverkehr wird gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch ein eEB nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Durch die Angabe des Datums auf dem eEB dokumentiert der Zustellungsempfänger seinen Empfangswillen zu diesem bestimmten Zeitpunkt. Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (BSG, Beschluss vom 30.5.2023 - B 7 AS 21/23 B).
43
Vorliegend ist die Übermittlung des Urteils ordnungsgemäß an die Person des seinerzeitigen prozessbevollmächtigten Rechtsanwalts M. erfolgt. Dieser hat jedoch das eEB trotz wiederholter Erinnerung des Sozialgerichts nicht zurückgesandt, womit es an der erforderlichen Beurkundung des Empfangswillens mangelt. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs des angegriffenen Urteils des Sozialgerichts ist damit nicht durch die Abgabe des eEB belegt.
44
Das Fehlen eines (elektronischen oder schriftlichen) EB hindert jedoch die Wirksamkeit der Zustellung nicht in jedem Fall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.5.2006 - 2 B 10/06). Das Gericht kann sich auch dann die Überzeugung von einem (früheren) Zustellungszeitpunkt bilden, wenn der Klägerbevollmächtigte trotz mehrfacher Aufforderung kein EB abgegeben hat. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstücks nicht nachweisen, so gilt es nach § 189 ZPO als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Person, an die die Zustellung gerichtet war, tatsächlich zugegangen ist. Maßgeblich ist dann der Zeitpunkt, an dem der Zustellungsempfänger das Schriftstück tatsächlich erhalten und zur Kenntnis genommen hat. Der Nachweis kann mit anderen Beweismitteln erbracht werden (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.9.2022 - OVG 1 S 23/22; BayVGH, Beschluss vom 12.3.2020 - 11 ZB 20.82 - und Beschluss vom 10.7.2023 - 12 BV 23.292; zur Heilung nach § 189 ZPO durch tatsächlichen Zugang s. auch LSG Hamburg, Urteil vom 24.3.2021 - L 2 U 12/20).
45
Der Senat ist vorliegend davon überzeugt, dass das Urteil des Sozialgerichts dem seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten der Kläger bereits durch die elektronische Übersendung in das besondere Anwaltspostfach tatsächlich zugegangen war. Denn abgesehen davon, dass der Datensatz mit dem Urteil nachgewiesenermaßen und ohne jeden Anhaltspunkt für technische Störungen bereits am 7. April 2022 auf dem Server des Rechtsanwalts M. eingegangen war, hat das Sozialgericht den Rechtsanwalt im Mai 2022 zweimal schriftlich und ein weiteres Mal telefonisch an die Rücksendung des eEB erinnert. Darauf, dass das Urteil nicht zugegangen sein sollte, ist von Seiten des Rechtsanwalts M. zu keinem Zeitpunkt hingewiesen worden. Vielmehr hat das Büro des Rechtsanwalts in dem am 30. Mai 2022 stattgefundenen Telefonat mit der Geschäftsstelle des Sozialgerichts ausweislich eines Vermerks in der Prozessakte des Sozialgerichts die Übersendung des eEB sogar ausdrücklich zugesagt. Auch die Kläger selbst haben in der Berufung nicht behauptet, dass die seinerzeitige elektronische Übersendung des Urteils an Rechtsanwalt M. fehlgeschlagen sei. Mit ihrem Einwand, Rechtsanwalt M. sei nicht empfangsbereit gewesen, können sie vor dem Hintergrund dieser Umstände nicht durchdringen.
46
Die Berufungsfrist begann daher nach § 64 Abs. 1 SGG spätestens am 31. Mai 2022 und endete gemäß § 64 Abs. 3 SGG mit Ablauf des 30. Juni 2022. Die Berufung ist aber erst am 15. Juli 2022 und damit nach Ablauf der Frist beim Landessozialgericht eingegangen.
III.
47
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
IV.
48
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.