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  • 08.08.2024 · IWW-Abrufnummer 243164

    Bundesgerichtshof: Beschluss vom 11.07.2024 – IX ZB 31/23

    Ist ein Rechtsanwalt nicht in der Lage, die Büroräume seiner Kanzlei zu betreten, weil er den Büroschlüssel im Büro vergessen hat, bedarf eine ein Verschulden des Rechtsanwalts an einer Fristversäumnis ausschließende Darlegung Ausführungen dazu, dass und aus welchen Gründen keine der naheliegenden Möglichkeiten, innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Frist einen Zugang zu den Büroräumen zu ermöglichen oder einen anderen Rechtsanwalt mit der Vornahme der fristwahrenden Handlung zu beauftragen, einen Erfolg gehabt hätte.


    Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Schoppmeyer, die Richter Röhl, Dr. Schultz, Weinland und Kunnes
    am 11. Juli 2024
    beschlossen:

    Tenor:

    Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 7. Juli 2023 wird auf Kosten der Beklagten als unzulässig verworfen.

    Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 45.600 € festgesetzt.

    Gründe

    I.

    1

    Die Klägerin verlangt von den Beklagten die Rückzahlung von Darlehen. Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben und die Beklagten zu 1 bis 4 zur Zahlung von jeweils 7.600 € nebst Zinsen sowie die Beklagte zu 5 zur Zahlung von 15.200 € nebst Zinsen verurteilt. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 2. Mai 2023 zugestellt. Diese legte am 5. Juni 2023 Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist. Zur Begründung führte sie aus, sie habe wegen eines unvorhergesehenen Schwindels das Büro am 2. Juni 2023 vor Fertigstellung der Berufungsschrift verlassen müssen, um sich Zuhause auszuruhen. Sie habe hierbei den Schlüssel in den Büroräumen vergessen, so dass sie das Büro nicht wieder habe betreten können, als sie - nachdem sie mehrere Stunden Zuhause geschlafen habe - um 19 Uhr desselben Tages dorthin zurückgefahren sei, um die Berufungsschrift fertigzustellen. Sie habe sodann versucht, eine Kollegin, die sich jedoch auf einem Auswärtstermin befunden habe und deshalb nicht habe kommen und aufsperren können, telefonisch zu erreichen. Telefonnummern weiterer Kollegen oder auch der Sekretärin habe sie nicht in ihrem Handy gespeichert gehabt.

    2

    Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Rechtsbeschwerde.

    II.

    3

    Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 , § 522 Abs. 1 Satz 4 , § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO , die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen, sind nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ( § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO ) nicht erforderlich. Der Beschluss des Berufungsgerichts steht vielmehr im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und verletzt nicht die Ansprüche der Beklagten auf die Gewährung rechtlichen Gehörs ( Art. 103 Abs. 1 GG ) und effektiven Rechtsschutz ( Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).

    4

    1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist sei unbegründet. Die Beklagten hätten weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sie die Berufungsfrist ohne Verschulden versäumt hätten. Insbesondere sei nicht dargelegt und glaubhaft gemacht worden, welche Anstrengungen die Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters unternommen habe, nachdem der Schwindel vorbei gewesen sei und noch über vier Stunden zur Verfügung gestanden hätten, die Berufungseinlegung zu veranlassen. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch Voraussetzung, um von einem Fristversäumnis ohne Verschulden ausgehen zu können. Daher könne dahinstehen, ob die Beklagtenvertreterin für den Fall ihrer Erkrankung überhaupt hinreichende Vorkehrungen getroffen habe, dass fristgebundene Schriftsätze den Adressaten rechtzeitig erreichen.

    5

    2. Diese Ausführungen ergeben keinen Zulässigkeitsgrund.

    6

    a) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die den Wiedereinsetzungsantrag tragenden Tatsachen seien weder dargelegt noch glaubhaft gemacht worden, ist nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht hat mit seiner Beurteilung die Ansprüche der Beklagten auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG (aa) und auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (bb) nicht verletzt.

    7

    aa) Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Parteien in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Das Gericht ist danach unter anderem dazu verpflichtet, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und - soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft - in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. August 2019 - VI ZR 460/17 , MDR 2020, 56 Rn. 12; vom 27. August 2019 - VI ZR 114/18 , MDR 2020, 57 Rn. 8; je mwN).

    8

    (1) Die angegriffene Entscheidung genügt den von Art. 103 Abs. 1 GG gestellten Anforderungen. Vergeblich rügt die Rechtsbeschwerde, das Berufungsgericht habe den Kernbestandteil des Vorbringens der Beklagten bezüglich der Anstrengungen ihrer Prozessbevollmächtigten zur Fristwahrung übergangen.

    9

    Das Berufungsgericht hat zur Darstellung der geltend gemachten Wiedereinsetzungsgründe auf die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags Bezug genommen. In der Sache hat es ausgeführt, es fehle an einer Darlegung der Anstrengungen der Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters. Den Beschlussgründen ist zu entnehmen, dass die Beklagtenvertreterin keinen Kanzleimitarbeiter habe erreichen können, der im Stande gewesen wäre, ihr die Bürotür zu öffnen. Damit hat das Berufungsgericht den Kernbestandteil des Vorbringens der Beklagten bezüglich der Anstrengungen ihrer Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters nicht übergangen, sondern den Versuch der telefonischen Kontaktierung der einzig im Handy eingespeicherten Kollegin für nicht hinreichend erachtet.

    10

    (2) Zudem fehlte es an der Entscheidungserheblichkeit eines etwaigen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG . Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Rechtsanwalt, der eine Frist bis zum letzten Tag ausschöpft, wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist infolgedessen ausgeschlossen, wenn von ihm nicht alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen wurden, die unter normalen Umständen zur Fristwahrung geführt hätten ( BGH, Beschluss vom 9. Mai 2006 - XI ZB 45/04 , NJW 2006, 2637 Rn. 8 mwN); hierzu kann auch der Versuch der Einschaltung eines Vertreters zählen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2021 - XII ZB 4/20 , NJW-RR 2021, 635 Rn. 9). Diese Maßstäbe beziehen sich, anders als die Rechtsbeschwerde meint, nicht ausschließlich auf krankheitsbedingte Ausfälle eines Prozessbevollmächtigten, sondern allgemein auf Ausfälle am letzten Tag der Frist (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2006, aaO; vom 7. März 2013 - I ZB 67/12 , NJW-RR 2013, 1011 Rn. 8 aE; vom 10. Februar 2021, aaO Rn. 13). Daher ist nicht von Bedeutung, ob die Prozessbevollmächtigte, wie die Rechtsbeschwerde argumentiert, ab 19 Uhr des letzten Tags der Frist tatsächlich wieder arbeitsfähig gewesen sei (vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Februar 2021, aaO Rn. 13).

    11

    Diesen Maßstäben ist die Beklagtenvertreterin, deren Verschulden den Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, nicht gerecht geworden. Zu Recht wirft die Beschwerdeerwiderung die Frage auf, warum die Beklagtenvertreterin nicht zu der im Außentermin befindlichen Kollegin gefahren ist, um den Kanzleischlüssel abzuholen. Ebenso wenig legen die Beklagten dar, dass es ihrer Prozessbevollmächtigten nicht möglich gewesen sei, über die bei dem Außentermin befindliche Kollegin die Telefonnummern weiterer Kanzleikollegen oder -mitarbeiter zu erfragen. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es der Beklagtenvertreterin nicht möglich gewesen sei, auf anderem als dem telefonischen Wege weitere Kanzleikollegen oder -mitarbeiter zu erreichen. Schließlich zeigen die Beklagten nicht auf, dass weder ein Kontakt zu einem Schlüsseldienst noch - im Falle der Aufschaltung der Alarmanlage der Kanzlei - zu einer Notrufzentrale möglich gewesen ist, um die alarmgesicherte Kanzleitür öffnen zu lassen. Weder der Sachvortrag noch die eidesstattliche Versicherung verhalten sich zu diesen Möglichkeiten. Daher lässt sich ein den Beklagten zuzurechnendes Verschulden der Beklagtenvertreterin nicht ausschließen, weil weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht ist, dass die Beklagtenvertreterin alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen hat, die unter normalen Umständen zu einer Fristwahrung geführt hätten.

    12

    Nichts Anderes folgt aus dem Beschluss des III. Zivilsenats vom 17. Dezember 2020 (III ZB 31/20 ,WM 2021, 508). Diesem lässt sich entgegen der Rechtsbeschwerde ein allgemeingültiger Rechtssatz, dass bei Vorliegen technischer Störungen ein Vertreter nicht aufgesucht werden müsse, nicht entnehmen. Das Fristversäumnis beruhte in jenem Fall auf einem Defekt eines Empfangsgeräts beim Gericht.

    13

    bb) Das Berufungsgericht hat auch nicht den Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ( Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beklagten hätten nicht hinreichend dargetan, die Berufungsfrist unverschuldet versäumt zu haben ( § 233 ZPO ), überspannt unter den gegebenen Umständen und Verhältnissen nicht die an die Sorgfalt eines Rechtsanwalts zu stellenden Anforderungen.

    14

    Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Die Gerichte dürfen daher bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen. Allerdings sind die nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verlangen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - III ZB 31/20 ,WM 2021, 508Rn. 16).

    15

    Hiernach ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen. Denn die Beklagtenvertreterin hat nach den vorstehenden Ausführungen nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen zu haben, die unter normalen Umständen zur Fristwahrung geführt hätten, obwohl sie die Berufungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft und wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden hatte, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2006 - XI ZB 45/04 , NJW 2006, 2637 Rn. 8 mwN).

    16

    b) Damit kommt es auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zu den Anforderungen an eine Kanzleiorganisation nicht an.

    Schoppmeyer Röhl SchultzWeinland Kunnes

    Vorschriften§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 574 Abs. 2 ZPO, § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, § 85 Abs. 2 ZPO, § 233 ZPO