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  • 05.03.2020 · IWW-Abrufnummer 214594

    Finanzgericht Köln: Urteil vom 15.11.2018 – 14 K 2164/17

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Köln


    Tenor:

    Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. Juli 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Juli 2017 wird aufgehoben.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

    1

    Tatbestand

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    Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides über Kindergeld für das am 5. Juni 2013 geborene Kind  betreffend den Streitzeitraum (Januar bis April 2015).

    3

    Der Kläger ist polnischer Staatsbürger und seit dem 26. Juni 2010 verheiratet. Er hat einen Wohnsitz im Inland und ist im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.

    4

    Das Kind lebt im Haushalt seiner Eltern in Polen. Die Ehefrau des Klägers hat sich damit einverstanden erklärt, dass das Kindergeld an den Kläger gezahlt wird (Bl. 7 der Kindergeldakte). Die Ehefrau des Klägers war nach ihren Angaben im Kindergeldantrag weder unselbständig noch selbständig erwerbstätig. Das polnische Gemeindezentrum für Sozialhilfe bestätigte am 22. April 2015, dass die Ehefrau des Klägers keine Familienleistungen bekommt (Bl. 25 und 17 der Kindergeldakte). Mit Datum vom 9. Mai 2018 bescheinigte die Behörde abermals, dass der Kläger und seine Ehefrau kein Kindergeld für das Kind in Polen beziehen, da das Familieneinkommen die im Bewilligungszeitraum 1. November 2014 bis 31. Oktober 2015 gültige Einkommensgrenze von 574 Zloty überstieg (Bl. 150 f. der Gerichtsakte).

    5

    Mit Bescheid vom 26. Juni 2015 setzte die Beklagte zunächst Kindergeld in gesetzlicher Höhe für das Kind fest.

    6

    Mit Bescheid vom 5. Juli 2017 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für das Kind des Klägers von Juni 2014 bis Dezember 2015 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum gültigen Fassung (EStG) auf und forderte 3.544 EUR Kindergeld zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger es versäumt habe Nachweise über ausgestellte Rechnungen im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit ab Juni 2014 bis Dezember 2015 und Nachweise über den Zufluss seiner Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit „i.S. des § 49 des Einkommensteuergesetzes (EStG)“, d.h. Kopien der Kontoauszüge über den Erhalt der Rechnungsbeträge einzureichen.

    7

    Hiergegen legte der Kläger am 7. Juli 2017 Einspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass es nicht der Wahrheit entspreche, dass er keine Rechnungen vorgelegt habe, diese seien per Einschreiben übersandt worden. Alle Rechnungen seien durch das Finanzamt P anerkannt worden. Die Einkommensteuer für die Jahre 2014 bis 2015 sei bestandskräftig festgesetzt worden. In dem Angebot von 2014 (Bl. 124 der Kindergeldakte) sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass er nur Barzahlungen bei den Rechnungsausstellungen akzeptiere. Er habe seine Umsätze, also Barumsätze, ordnungsgemäß in einem Kassenbestandsbuch aufgezeichnet und führe die Aufzeichnungen nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung. Jedes Jahr werde dem Finanzamt eine Einnahmen-Überschussrechnung vorgelegt. Alle Betriebseinnahmen, die in bar vereinnahmt würden, seien im Kassenbestandsbuch geführt und über die erhaltenen Rechnungszahlungen jeweils eine Quittung ausgestellt. Neben dem Angebot übersandte er Barquittungen 1/2014 und 2/2014. Eine Rechnung vom 20. August 2014 für den Zeitraum 19. Mai bis 20. September 2014. Eine Rechnung vom 4. Dezember 2014 für den Zeitraum 8. Oktober bis 1. Dezember 2014. Den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2014 mit einer Festsetzung über 0 EUR und Einkünften aus Gewerbebetrieb in Höhe von 13.580 EUR und für das Jahr 2015 ebenfalls mit einer Einkommensteuerfestsetzung über 0 EUR und Einkünften aus Gewerbetrieb in Höhe von 15.930 EUR (Bl. 128 bis 130 und Bl. 136 der Kindergeldakte). Die erste Seite einer nicht unterzeichneten Einkommensteuererklärung für das Jahr 2014 (Bl. 131 der Kindergeldakte). Ein Angebot, das identisch ist mit dem Angebot von Bl. 124 der Kindergeldakte, in dem aber handschriftlich das Datum 2. Juni 2014 gestrichen ist und mit „15.5.2015“ überschrieben wurde (Bl. 132 der Kindergeldakte). Barquittungen 1/2015 bis 6/2015 (Bl. 133 bis 135 der Kindergeldakte). Rechnungen 1/2015 bis 6/2015 (Bl. 138 bis 144 der Kindergeldakte).

    8

    Mit Einspruchsentscheidung vom 21. Juli 2017 trennte die Beklagte die Zeiträume Juni 2014 bis Dezember 2014 und Mai bis Dezember 2015 ab und wies den Einspruch für die Monate Januar 2015 bis April 2015 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger in Deutschland selbständig tätig gewesen sei. Nachweise über die Ausübung der selbständigen Tätigkeit lägen für die Zeiträume Juni 2014 bis Dezember 2014 und Mai 2015 bis Dezember 2015 vor. Nachweise über Einkommenszuflüsse seien für folgende Monate eingereicht worden:

    9

    Kalenderjahr 2014: August und Dezember

    10

    Kalenderjahr 2015: Juni, August bis Dezember.

    11

    Der Kläger sei für die Kalenderjahre 2014 bis 2015 vom Finanzamt gem. § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden.

    12

    In der Zeit von Mai 2014 bis Sommer 2016 habe der Kläger in der Wohnung von Herrn C mietfrei gewohnt. Er habe daher einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.

    13

    Im Zeitraum Januar 2015 bis April 2015 scheitere der Kindergeldanspruch aufgrund fehlender steuerpflichtiger Erwerbstätigkeit und des fehlenden Rentenbezugs beider Elternteile nach dem Wohnortprinzip. Entsprechend den Angaben des Klägers im Einspruchsschreiben seien der Wohnort der Kindesmutter und der Wohnort der Kinder in Polen. Der Kindergeldanspruch im Wohnsitzland des Kindes (Polen) sei gegenüber dem deutschen Kindergeldanspruch vorrangig (Art. 67 und 68 Abs. 1 Buchst. b) Ziffer iii der Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Die Gewährung von Unterschiedsbeträgen nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei nicht vorgesehen, da der Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst werde. Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung sei § 70 Abs. 2 EStG. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Die Höhe des Rückforderungsbetrages belaufe sich auf 752 EUR.

    14

    Für den Zeitraum Juni bis Dezember 2014 und Mai bis Dezember 2015 setzte die Beklagte mit Abhilfebescheid vom 27. Juli 2017 Kindergeld in gesetzlicher Höhe fest.

    15

    Hiergegen hat der Kläger fristgerecht Klage erhoben. Hierzu führt er im Wesentlichen aus, für den Zeitraum Januar bis April 2015 bestehe ein Kindergeldanspruch. Der Kläger sei seit März 2014 ständig in der Ustraße 9b in L wohnhaft gewesen. Erst nachdem seine Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind im September 2016 nach Deutschland umgesiedelt sei, sei im Oktober 2016 eine neue gemeinsame Wohnung in Deutschland angemietet worden, in der das Ehepaar seit dem ebenfalls ständig in Deutschland wohne.

    16

    Im Streitzeitraum habe er keine Einkünfte erzielt, weil er keine Rechnungen geschrieben habe und ihm daher kein Zahlungsanspruch seitens des Auftragsgebers zugestanden habe. Er habe kostenlose Unterkunft, d.h. ein Zimmer bei seinem damaligen Arbeitgeber C erhalten. Von diesem habe er eine Zahlung erhalten, nachdem er am 4. Dezember 2014 eine Rechnung über Arbeiten für den Zeitraum 8. Oktober 2014 bis 1. Dezember 2014 vorgelegt habe. Die Zahlung sei unmittelbar gegen Übergabe der Rechnung erfolgt, so dass er in der ersten Dezemberwoche über einen Gesamtbetrag von 5.123 EUR verfügt habe.

    17

    Es sei zugesagt gewesen, dass er weiterhin für den Auftraggeber arbeiten solle, allerdings habe es zu dem damaligen Zeitpunkt keine weiteren Arbeiten gegeben, die er habe erledigen können. Er habe aber weiterhin mietfrei bei dem Auftraggeber wohnen können, weil auch dieser davon ausgegangen sei, dass er im Jahre 2015 wieder einen Auftrag an den Kläger erteilen könne. Insgesamt habe er im Jahr 2014 von Ende Mai bis einschließlich Dezember 2014 Einkünfte aus Gewerbebetrieb von 13.580 EUR erzielt (siehe Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2014 Bl. 100 der Gerichtskate). Da er selbst mietfrei gewohnt habe, habe er im Wesentlichen Geld für Nahrung benötigt. Seine Ehefrau und das Kind hätten in Polen bei den Eltern der Ehefrau mietfrei gewohnt. Die Familie habe somit nur geringe Beträge verbraucht.

    18

    Er habe auf Arbeit gewartet, sei arbeitssuchend gewesen, habe jedoch zunächst im Jahr 2015 nicht gearbeitet. Erst nachdem er dann wieder einen Auftrag von seinem Auftraggeber erhalten habe, habe er erneut für diesen gearbeitet und seine erste Rechnung am 9. Juni 2015 geschrieben (Bl. 103 der Gerichtsakte), die dann auch sofort bezahlt worden sei. Die Rechnung habe Trockenausbauarbeiten ab dem 4. Mai 2015 betroffen. In der Folgezeit, sei er für diesen Auftraggeber weiterhin tätig gewesen. Er habe gehofft, von seinem Auftraggeber bereits zeitlich früher neue Arbeit zu erhalten, dies habe sich jedoch zeitlich sehr verzögert, so dass er mit neuen Trockenbauarbeiten erst wieder Anfang Mai 2015 beauftragt worden sei.

    19

    Der Kläger beantragt,

    20

    den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. Juli 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Juli 2017 aufzuheben.

    21

    Die Beklagte beantragt,

    22

    die Klage abzuweisen.

    23

    Zur Begründung verweist sie auf die Einspruchsentscheidung ergänzend trägt sie vor, der Kläger wohne in Deutschland und gehe keiner Beschäftigung nach. Zumindest sei für den Streitzeitraum die tatsächliche Durchführung einer Erwerbstätigkeit nicht substantiiert nachgewiesen worden. Die Kindesmutter lebe in Polen und sei im Streitzeitraum ebenfalls nicht erwerbstätig gewesen. Es bestehe damit kein Anspruch auf deutsches Kindergeld, auch nicht in Höhe der Unterschiedsbeträge. Der Kläger unterliege aufgrund des Wohnsitzes in Deutschland gem. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung (EG) Nummer 883/2004 den deutschen Rechtsvorschriften. Die Kindesmutter unterliege aufgrund ihres Wohnsitzes in Polen den polnischen Rechtsvorschriften. Gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii der Verordnung (EG) Nummer 883/2004 sei Polen vorrangig zur Gewährung der Familienleistungen zuständig. Die Gewährung von Unterschiedsbeträgen sei nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der Verordnung (EG) Nummer 883/2004 nicht vorgesehen, da der Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst werde, d.h. weder in Deutschland noch in Polen einer Erwerbstätigkeit nachgegangen oder Rente bezogen werde.

    24

    Die Zahlung von Unterschiedsbeträgen ergebe sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in den verbundenen Rechtssachen C-611/10 und 612/10 ‒ Hudzinski u.a., denn diese Rechtsprechung betreffe die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Maßgeblich für die genannte Entscheidung sei der Umstand gewesen, dass die Person in Deutschland einer Beschäftigung nachgegangen sei, daher der Einkommensteuerpflicht unterlegen habe und somit der Bezug zu den nach deutschem Recht vorgesehenen Familienleistungen hergestellt worden sei. Eine Anwendung auf Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, komme daher nicht in Betracht.

    25

    Im Falle einer Kindergeldfestsetzung könne nach derzeitigem Sachstand lediglich Differenzkindergeld festgesetzt werden. Bis dato hat sie nicht nachgewiesen, dass im Streitzeitraum materiell-rechtlich kein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestanden habe. Die bloße Nichtbeantragung führe nicht automatisch zur Gewährung des vollen Kindergeldes in Deutschland. Die Bescheinigung der polnischen Behörde vom 20. April 2015 (Bl. 17 der Kindergeldakte) gebe keine Auskunft darüber, aus welchem Grund keine Familienleistungen in Polen erbracht worden seien. Nach Art. 3 Abs. 10 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen gelte der Zeitraum 1. November bis 31. Oktober des Folgejahres als Beihilfezeitraum. Ein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestehe nur dann, wenn gem. Art. 5 das Familieneinkommen pro Familienmitglied höchstens 504 PLN (ab November 2014 574 PLN) betrage. Hat die Familie ein behindertes Kind, erhöhte sich die Einkommensgrenze auf 583 PLN. Als Familieneinkommen gelte nach Art. 2 Abs. 2 das durchschnittliche Einkommen der Familienmitglieder im Kalenderjahr, das dem Beihilfezeitraum vorangehe. Zum Familieneinkommen aus dem Jahr 2013 lägen bislang keine Unterlagen vor.

    26

    Entscheidungsgründe

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    Die Klage ist begründet.

    28

    Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. Juli 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Juli 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

    29

    Die Beklagte war nicht berechtigt, die Kindergeldfestsetzung für Januar bis April 2015 aufzuheben, da zum einen die formellen Voraussetzungen für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nicht vorliegen und zum anderen der Kläger für diesen Zeitraum materiell rechtlich Anspruch auf Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe hat.

    30

    1. Die Voraussetzung für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG oder § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) liegen nicht vor.

    31

    a) Soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, ist die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern, § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG.

    32

    Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, der Kläger erfüllt, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld für sein in Polen wohnendes Kind nach §§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 6, 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Die Verhältnisse haben sich daher nicht geändert.

    33

    b) Gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Im Streitfall sind keine Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt geworden, die zu einer höheren Steuer bzw. einer niedrigeren Steuervergütung führen. Eine lediglich andere unionsrechtliche Betrachtung im Hinblick auf Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) berechtigt nicht zu einer Aufhebung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

    34

    2. Der nationale Kindergeldanspruch des Klägers ist darüber hinaus unionsrechtlich nicht ausgeschlossen.

    35

    Im Streitfall ist die seit Mai 2010 ‒ und damit im Streitzeitraum ‒ geltende Verordnung VO Nr. 883/2004 i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) anzuwenden, vgl. Art. 91 Abs. 2 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009.

    36

    Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, dann richtet sich die Kindergeldberechtigung nach den §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 9/15, BFHE 253, 139, BStBl II 2017, 121, Rz. 17, m.w.N.).

    37

    a) Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet.

    38

    Der Kläger ist Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union (EU) und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG einen Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Der in den Monaten Januar bis April 2015 nicht erwerbstätige Kläger unterliegt nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 aufgrund seines Wohnsitzes in Deutschland den deutschen Rechtsvorschriften und die nicht erwerbstätige Kindesmutter unterliegt in dem EU-Land Polen gem. Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 dessen Rechtsvorschriften.

    39

    b) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, gilt Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004. Die Vorschrift unterscheidet den vorrangig zuständigen Staat, der ohne weiteres uneingeschränkt Kindergeld zu gewähren hat (Art. 60 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009) vom nachrangig zuständigen Staat, in dem die Ansprüche auf Familien-leistungen ausgesetzt werden und zwar bis zur Höhe der vom vorrangig zuständigen Staat vorgesehenen Leistungen (Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004).

    40

    c) Der Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist eröffnet, da konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

    41

    Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 werden bei Zusammentreffen von Ansprüchen die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 Vorrang haben. Im Streitfall treffen die Ansprüche des Klägers nach deutschem Recht und die Ansprüche nach polnischem Recht für dasselbe Kind und denselben Zeitraum aufeinander.

    42

    d) Zwar wäre ein Anspruch der Kindesmutter auf polnisches Kindergeld gem. Art. 68 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 grundsätzlich vorrangig. Für die Annahme einer Kumulierung genügt es jedoch nicht, dass potenziell ein Anspruch in dem Staat besteht, in dem das Kind seinen Wohnsitz hat, faktisch das Kindergeld aber nicht bezogen wird, weil wie im Streitfall die Einkommensgrenze für polnisches Kindergeld überschritten ist (vgl. Urteil des Finanzgerichts --FG-- Düsseldorf vom 19. Juni 2018 10 K 2995/17 LKg, juris; Urteile des Gerichtshofs der EU --EuGH-- Schwemmer vom 4. Oktober 2010 C 16/09, Slg. 2010, I-9717; Trapkowksi vom 22. Oktober 2015 C-378/14, DStRE 2015, 1501, NJW 2016, 1147). Vielmehr ist Art. 68 der VO Nr. 883/2004 im Streitfall nicht anwendbar, da die Kindesmutter für die Monate Januar bis April 2015 kein Kindergeld bezogen hat und daher faktisch keine Kumulierung der Ansprüche vorliegt. Ausweislich der Bescheinigung des polnischen Gemeindezentrums für Sozialhilfe stand der Kindesmutter kein polnisches Kindergeld zu, da die Einkommensgrenze überschritten war.

    43

    3. Der Rückforderungsbescheid ist ebenfalls rechtswidrig. Da die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung keinen Bestand hat, gilt die bisherige Kindergeldfestsetzung fort. Der Grund für die Kindergeldfestsetzung ist folglich nicht nachträglich i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 2 AO entfallen.

    44

    4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.