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  • · Fachbeitrag · Digitalisierung

    „Vom ‚virtuellen Krankenhaus‘ verspreche ich mir eine deutliche Arbeitsersparnis!“

    | Unter dem Begriff „virtuelles Krankenhaus“ verstehen wir in Deutschland meist die telemedizinische Versorgung. Doch es kann viel mehr. So Prof. Dr. Julia Welzel, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Universitätsklinikum Augsburg und Präsidentin der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Ursula Katthöfer ( www.textwiese.com ) sprach mit ihr. Das Interview finden Sie als Video online unter iww.de/s10899 ). |

     

    Frage: Frau Professor Welzel, wie gestaltet sich der Erstkontakt zum dermatologischen Patienten im virtuellen Krankenhaus?

     

    Antwort: Zurzeit haben viele Patienten mit Hauterkrankungen Probleme, überhaupt an Dermatologen heranzukommen. Wir haben in Deutschland 21 Millionen Patientenkontakte pro Jahr wegen Hauterkrankungen. Dem stehen in Praxen und Kliniken 6.300 Dermatologen gegenüber, die Patientenfrequenz ist extrem hoch. Die Patienten kommen ungezielt in Sprechstunden, nicht dringliche Patienten deklarieren sich selbst als Notfall, dringliche Patienten landen hingegen oft in falschen Sprechstunden. Diese Umstände sind für die Patienten sehr frustrierend.

     

    Unsere Hauptüberlegung ist daher, einen Teil der Kontakte für das Onboarding auf eine virtuelle Ebene zu heben, um die Patienten vorzusortieren und die Erkrankungen zu klassifizieren und zu priorisieren. Die Patienten landen nicht in einer Telefonschleife und müssen ihre Symptome nicht erst dem Hausarzt, dann dem Facharzt und möglicherweise im Krankenhaus oder einer Notfallambulanz wiederholt schildern. Stattdessen geben sie die Informationen zu Hause in einem geschützten Rahmen ein. Sie können Vorbefunde und Bilder hochladen. Wir hoffen, dass wir als Ärzte von redundanten Aufgaben entlastet werden, um unsere Zeit effektiver mit den Patienten zu verbringen.

     

    Frage: Könnte auch ein Teil der Behandlung virtuell stattfinden?

     

    Antwort: Hauterkrankungen sind oft chronisch und müssen beobachtet und begleitet werden. Das läuft im Moment nicht optimal. Die klassische Intervallmedizin mit Kontrollen einmal im Quartal oder alle vier Wochen ist vielleicht gar nicht nötig, weil alles gut läuft. Oder es wäre sinnvoll, Patienten früher zu sehen, weil sich etwas verschlechtert hat. Denn Schuppenflechte oder Neurodermitis verlaufen schubweise, sie können sich bei Stress oder einem Infekt verändern. Deshalb planen wir ein Monitoring über einen virtuellen Patientenpfad. Die Symptome werden kontinuierlich erfasst. Verschlechtert sich der Zustand, werden wir von der virtuellen Plattform automatisch informiert. Wir planen tatsächlich, das System zu ändern, von der Intervallmedizin zu einem kontinuierlichen Monitoring zu kommen und uns auf die Patienten zu konzentrieren, die unsere Hilfe brauchen.

     

    Frage: Wie gestaltet sich die Plattform technisch?

     

    Antwort: Das Beste wäre, alles in der elektronischen Patientenakte anzudocken. Da die aber noch lange nicht so läuft, wie man es brauchen würde, werden die Patienten bei uns in der Klinik auf eine digitale Plattform geführt. Über eine App geben sie ihre Daten ein und legen fest, wer Zugang zu den Daten bekommt. Wir haben definiert, welche Fragen bei dermatologischen Erkrankungen im Monitoringpfad gestellt werden, wie stark z. B. der Juckreiz bei einer Schuppenflechte ist, ob eine Therapie gut anspricht oder ob Nebenwirkungen auftreten. Der Datenschutz ist gesichert, die Server stehen in Deutschland, die Rechte sind abgesichert. An die Patientendaten kommen nur ärztliche Personen, die vorher vom Patienten freigeschaltet wurden.

     

    Frage: Was heißt das für die sektorenübergreifende Versorgung?

     

    Antwort: Über die Plattform werden Konsile möglich. Niedergelassene Dermatologen, die nur einen Rat brauchen, können mit der Hautklinik kommunizieren und auch die Allgemeinmediziner an Bord holen. Wir planen, direkt mit Pflegeheimen oder ambulanten Sozialdiensten, die Wunden behandeln, zu korrespondieren. Auch teledermatologisch können wir mit den Patienten direkt in Kontakt treten. Die Videosprechstunde aus Coronazeiten ist in vielen Aspekten genauso wenig effektiv wie eine echte Sprechstunde, wenn sie nicht gut vorbereitet wurde oder zum falschen Zeitpunkt mit der falschen Person stattfindet. Wir bevorzugen das Prinzip „store and forward“, bei dem der Patient Daten und Bilder über die Plattform eingibt und wir eine schriftliche Empfehlung geben, sofern uns gleich klar ist, was geändert werden muss. Wir können auch ein eRezept ausstellen, sodass der Patient sich u. U. einen weiten Weg spart.

     

    Frage: Aber wo bleibt das vertrauliche Arzt-Patienten-Verhältnis?

     

    Antwort: Es geht nicht darum, Patienten abzuwehren und nur noch von der KI zu betreuen, sondern es geht darum, die erforderlichen, analogen Patientenbesuche besser vorzubereiten. Patienten und Ärzte brauchen den persönlichen Kontakt. Wir wollen nicht weniger, sondern direkter mit den Patienten interagieren. Die Patienten brauchen uns. Wenn wir vor ihnen sitzen und sagen, dass die Beschwerden bestimmt besser werden, wenn sie etwas wirklich zuverlässig tun, dann werden die Beschwerden allein schon durch diese Zuversicht besser. Und wir brauchen die Patienten, denn wir wollen ja ihr direktes Feedback. Die schlimmste Vorstellung ist die, dass wir nur noch als Avatare vor dem Computer sitzen. Helfen zu können, ist doch der Grund, warum wir Ärztinnen und Ärzte geworden sind.

     

    Frage: Welches Sparpotenzial steckt im virtuellen Krankenhaus?

     

    Antwort: Ein sehr großes. Bei einem Patienten mit einem akuten Nesselfieber, einer Urtikaria, kann man z. B. enorme Ressourcen sparen. Hat der Patient drei Nächte nicht geschlafen, steht er schnell als Notfallpatient in der Klinik. Dabei könnten wir ihm telemedizinisch sagen, dass es in der Apotheke ein frei verkäufliches Antihistaminikum gibt. Nur wenn die Beschwerden nicht verschwinden, er Luftnot bekommt oder die Zunge anschwillt, muss er sofort in die Notaufnahme kommen. Auch für den Patienten sind Fahrt und mehrstündige Wartezeiten in der Notaufnahme eine Ressourcenverschwendung ‒ zumal er dort genau die gleiche Information bekommt, die man ihm vorher auf der Plattform hätte geben können. Kurzarztbriefe und Verlaufsberichte lassen sich ebenfalls über die Plattform automatisch generieren, natürlich noch ohne Arztunterschrift. Auch davon verspreche ich mir eine sehr deutliche Arbeitserleichterung, die letztlich den Patientinnen und Patienten zugutekommt.

     

    Frage: Wie nützt das virtuelle Krankenhaus bei Forschung und Lehre?

     

    Antwort: Wir bekommen einen riesigen Schatz an Daten, die für die Versorgungsforschung wichtig sind. Bisher sehen wir bestimmte Patienten in bestimmten Konstellationen. Bei der Schuppenflechte wissen wir, wie schwer sie bei der Erstdiagnose ist. Aber wir wissen nicht gut, wie lange sie unterschwellig schon vorhanden war, wie ihre Dynamik sich von Tag zu Tag verhält, mit welchen Einflussfaktoren wie z. B. Stress oder heißem Wetter sie interagiert und welche Nebenwirkungen Medikamente hervorrufen. Die Patienten können auf der Plattform entscheiden, ob sie eine anonyme Datenspende tätigen und ihre Daten der Forschung komplett zur Verfügung stellen. Die meisten tun das, weil sie wissen, dass die Forschung ihnen zugutekommt. In Augsburg bieten wir zudem einen Modellstudiengang an, in dem wir den Studierenden parallel zum Unterricht am Krankenbett den Umgang mit dem virtuellen Patienten nahebringen. Telemedizin, KI-Anwendungen und automatisierte Auswertungen von Bildern sind für die Lehre sehr wichtig, weil Medizinstudierende aller Fächer in ihrem Beruf in Zukunft damit umgehen werden.

     

    Frage: Und wo stößt die Digitalisierung der Medizin an ihre Grenzen?

     

    Antwort: Das Thema Datenschutz betrachte ich als gelöst. Heutzutage versenden Patienten in ihrer Not Fotos per WhatsApp oder E-Mail. Da ist eine geschützte Plattform viel besser. Doch KI ist nur so gut, wie sie trainiert wurde. Bei Hautfarben ist sie diskriminierend, weil oft nur Daten von hellhäutigen Menschen vorliegen. Frauen sind etwas unterrepräsentiert. Andererseits können wir an diesen Daten sehr gut sehen, welche Gruppen benachteiligt sind und müssen gleichzeitig aufpassen, dass wir manche Gruppen nicht verlieren. Alter ist inzwischen kein Problem mehr bei der Videotelefonie, doch haben wir oft das Problem einer schlechten Netzabdeckung in vielen Teilen Deutschlands. Sprachprobleme lassen sich durch virtuelle Pfade sehr gut beseitigen, weil wir problemlos in andere Sprachen übersetzen können.

     

    Frau Professor Welzel, vielen Dank für das Gespräch! L

     

    Weiterführende Hinweise

    • „Digital aufgezeichnete Bewegungsmuster der Patienten können viele Fächer unterstützen!“ (CB 10/2023, Seite 18 f.)
    • „Drüberhalten, Knopf drücken, fertig!“ ‒ KI-gestützte Wundanalyse entlastet Mitarbeiter (CB 05/2023, Seite 17 f.)
    Quelle: Ausgabe 06 / 2024 | Seite 2 | ID 50011967