· Fachbeitrag · Intensivmedizin
„Bei der Triage befinden Ärzte sich immer in einem strafrechtlichen Spannungsfeld!“
| Am 25.03.2020 war Deutschland erst seit wenigen Tagen im ersten Lockdown. Damals veröffentlichte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ihre erste Version klinisch-ethischer Empfehlungen mit dem Titel „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ (Volltext online unter iww.de/s4544 ). Analog zur Triage in der Katastrophenmedizin müsse während der Pandemie über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden. Diese frühen Empfehlungen der DIVI gingen u. a. auf ihren Präsidenten, Prof. Dr. Uwe Janssens, zurück. Mit ihm sprach Ursula Katthöfer ( textwiese.com ). |
Frage: Herr Professor Janssens, auf welcher Grundlage können Sie eine Intensivtherapie begrenzen, wenn Ressourcen wie Beatmungsgeräte oder Personal knapp sind?
Antwort: Das Wichtigste vorab: Bisher mussten wir eine solch schwere Entscheidung in Deutschland nie treffen. Wir sind in Europa das Land mit den meisten Intensivbetten, über die wir jetzt mitten in der Coronapandemie natürlich sehr glücklich sind. Aber: Zentrale Kriterien für eine Priorisierung von Patienten sind die klinische Erfolgsaussicht sowie der Patientenwille. Wir unterscheiden zwischen der Zweckrationalität und der Werterationalität. Anders gesagt: Wir prüfen, was fachlich sinnvoll ist und welche Maßnahmen menschlich angemessen sind.
Frage: Nehmen wir z. B. einen 89-jährigen Senior, der positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde und dessen Zustand sich rapide verschlechtert. Was tun Sie?
Antwort: Wir schätzen fachlich ein, ob eine Therapiemaßnahme sinnvoll und geeignet ist, um ein bestimmtes Therapieziel mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erreichen. Das setzt voraus, bei jeder Indikation ein Therapieziel zu definieren ‒ das ist täglich gelebte Praxis in der Intensivmedizin, nicht nur bei COVID-19 und nicht nur in einer möglichen Situation, in der Betten knapp würden. Ferner fragen wir den Patienten bzw. die Angehörigen, ob eine Patientenverfügung vorliegt oder wie der mutmaßliche Wille des Patienten lautet.
Frage: Was geschieht, wenn Beatmungsgeräte fehlen?
Antwort: Wir haben ein vierstufiges Modell zur Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden Intensiv-Ressourcen entwickelt. Im ersten Schritt wird entschieden, ob eine intensivmedizinische Behandlung notwendig ist. Ist das der Fall, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach einer realistischen klinischen Erfolgsaussicht der Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt. Ist auch die gegeben, fragen wir im dritten Schritt nach der Einwilligung des Patienten. Im vierten und letzten Schritt geht es nach dem Mehr-Augen-Prinzip um die Priorisierung. Die Kriterien für einen Therapieerfolg und die Ressourcen werden geprüft. Wir haben uns z. B. klar gegen eine Vergabe nach Alter entschieden, wie in einigen anderen Ländern, die über 80-Jährige nicht mehr behandelt haben. Manch fitter 80-Jährige kann bessere Erfolgsaussichten haben als ein bereits mit mehreren Vorerkrankungen belasteter 60-Jähriger. Therapieerfolg heißt also, dass wir überlegen, welchem Patienten durch eine Behandlung die Möglichkeit gegeben würde, wieder den Gesundheitsstatus zu erreichen, den er vor der Erkrankung, die ihn auf die Intensivstation gebracht hat, hatte.
Frage: Wer sollte am Mehr-Augen-Prinzip beteiligt sein?
Antwort: Möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte, Primär- und Sekundärbehandler beteiligter Fachgebiete sowie möglichst ein erfahrener Vertreter der Pflegenden und ggf. weitere Fachvertreter wie z. B. klinische Ethiker. Auch die Notaufnahme bzw. die Aufnahmestation könnten beteiligt werden. Die Gruppe sollte mindestens aus drei Personen bestehen. Sechs bis acht Personen wären besser. Entgegen der Ängste vieler soll eine solch schwerwiegende Entscheidung nicht auf der Schulter eines Einzelnen lasten.
Frage: Was wären Kriterien für eine geringe Erfolgsaussicht des Patienten?
Antwort: Hier möchte ich noch einmal betonen, dass diese Kriterien nicht nur für COVID-19-Patienten gelten, sondern für alle Patienten auf der Intensivstation. Hier wissen wir, schwere aktuelle Erkrankungen wie Lungenversagen, begleitende akute Organversagen gemäß SOFA-Score oder schwere Komorbiditäten wie eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung oder Immunschwäche signalisieren kein gutes Outcome für diesen Patienten. Dann muss aber natürlich eine palliativmedizinische Behandlung immer gewährleistet sein.
Frage: Sollte der Deutsche Bundestag per Gesetz regeln, welcher Patient im Falle einer Triage zuerst medizinisch versorgt werden soll?
Antwort: Ich wünsche mir eine gesetzliche Regelung. Denn wir Ärzte befinden uns ‒ wie auch immer wir entscheiden ‒ in einem strafrechtlichen Spannungsfeld. Das ist schwer auszuhalten. Wenn wir nach dem Mehr-Augen-Prinzip und nach den oben genannten Kriterien entscheiden, dass ein Patient keine Erfolgsaussichten hat, müssen wir mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Wenn wir keine Entscheidung fällen, ist das ebenso. Wir sind wegen der ungeklärten rechtlichen Situation zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Daher brauchen wir ein Gesetz, das uns Handlungskompetenz verleiht. Wir brauchen kein Gesetz, dass uns vorschreibt, welchen Patienten wir behandeln sollen und welchen nicht.
Herr Professor Janssens, vielen Dank für das Gespräch! L
Weiterführende Hinweise
- Wichtig | Zum 23.11.2021 hat die DIVI ihre klinisch-ethischen Empfehlungen zur Triage aktualisiert. Eine Vorabfassung per 23.11.2021 finden Sie online unter iww.de/s5731
- Themenverwandte Publikationen der DIVI finden Sie auf der Website der DIVI, online unter iww.de/s4545.