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  • · Fachbeitrag · Arzthaftung

    BGH: Diese Anforderungen gelten für den Einsatz alternativer Behandlungsmethoden in der Klinik

    von RA und FA MedR Dr. Rainer Hellweg, M.mel., Hannover

    | Allein die Wahl einer alternativen, von der Schulmedizin nicht anerkannten Behandlungsmethode bedeutet noch keinen Behandlungsfehler. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem zahnmedizinischen Haftungsfall entschieden ( Urteil vom 30.05.2017, Az. VI ZR 203/16, Abruf-Nr. 195482 ). Von Bedeutung für Kliniken und Fachbereiche der Humanmedizin ist das Urteil deshalb, weil der BGH in den jetzt veröffentlichten schriftlichen Entscheidungsgründen interessante ‒ und relevante ‒ Ausführungen zum Einsatz von alternativen Behandlungsmethoden in der Medizin überhaupt gemacht hat. |

    Sachverhalt und Entscheidung

    Im entschiedenen Fall hatte eine Patientin gegen ihren Zahnarzt geklagt. Dieser hatte einen Infektionsherd im Oberkiefer festgestellt, von dem aus Giftstoffe in den gesamten Körper der Patientin gelangten. Mit der empfohlenen Therapie (Entfernung mehrerer Zähne und Ausfräsen des Kieferknochens) war die Patientin einverstanden. Infolge der Behandlung erlitt die Patientin eine irreparable Schädigung des Oberkiefers. Der BGH sah einen möglichen Behandlungsfehler, verwies den Fall aber an die Vorinstanz zurück. Grund: Diese hatte sich auf einen Gutachter gestützt, der sich mit alternativmedizinischen Behandlungsverfahren nicht auskannte.

     

    Nach Auffassung des BGH ist die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen rechtlich grundsätzlich erlaubt. Zum einen würde eine generelle Beschränkung der Methodenfreiheit ein Hindernis für den Fortschritt darstellen und den Stillstand in der Medizin bedeuten. Zum anderen folgt aus dem körperlichen Selbstbestimmungsrecht, dass sich jeder Patient innerhalb bestimmter Grenzen auch für die Anwendung einer von der Schulmedizin (noch) nicht anerkannten Behandlungsmethode entscheiden darf. Allerdings unterliegt der Einsatz alternativer Behandlungsmethoden strengen Vorgaben.

     

    • BGH-Leitsätze für den Einsatz von alternativen Behandlungsmethoden
    • 1. Die Entscheidung des Arztes für die Wahl einer nicht allgemein anerkannten Therapieform setzt eine sorgfältige und gewissenhafte medizinische Abwägung von Vor- und Nachteilen im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung des Patientenwohls voraus.
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    • 2. Bei dieser Abwägung dürfen auch die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten der Schulmedizin nicht aus dem Blick verloren werden. Der BGH verbietet also von vorneherein, dass der Arzt „scheuklappenartig“ nur alternative Therapieformen in den Fokus nimmt und Methoden der Schulmedizin bei der Erwägung des Behandlungsregimes gänzlich außer Betracht lässt.
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    • 3. Je schwerer und radikaler der ärztliche Heileingriff ist, desto höher sind die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode. Damit etabliert der BGH die medizinische Vertretbarkeit als Untergrenze bzw. Mindestvoraussetzung für die Zulässigkeit beim Einsatz alternativer Behandlungsmethoden.
     

     

    PRAXISHINWEIS | Diese BGH-Leitsätze gelten auch im vorliegenden Fall bzw. trotz eines von der Patientin erklärten Einverständnisses! Gemäß dem Urteil hat der BGH die dortige alternative Behandlungsmethode als möglicherweise fehlerhaft und rechtswidrig bewertet, obwohl die Patientin nach entsprechender Aufklärung ausdrücklich eingewilligt hatte.

     

    Bisherige BGH-Rechtsprechung zu alternativen Therapien

    Alternative Behandlungsansätze gewinnen schon seit Jahren in verschiedenen Fachbereichen im stationären Sektor an Bedeutung. So hatte sich der BGH schon einige Male mit der haftungsrechtlichen Betrachtung verschiedener Therapieformen auseinanderzusetzen.

     

    • Maßgebliche BGH-Urteile
    Urteil
    Sachverhalt
    Entscheidung

    13.06.2006, Az. VI ZR 323/04 („Robodoc-Urteil“)

    Im Urteil ging es um das „Robodoc“ genannte computergestützte Fräsverfahren bei operativer Implantation einer Hüftgelenksendoprothese. Die Patientin hatte eine Nervschädigung erlitten.

    Die Anwendung dieser ‒ damals neuartigen ‒ Behandlungsmethode erachtete das Gericht nicht per se als fehlerhaft. Die präoperative Aufklärung wurde jedoch moniert: Die Patientin sei auf die Möglichkeit noch unbekannter Risiken nicht hingewiesen worden. Anders als beim Einsatz von Standardmethoden müsse der Patient bei neuen und noch nicht allgemein eingeführten Methoden explizit darüber aufgeklärt werden, dass noch nicht abschließend geklärte sowie unbekannte Risiken naturgemäß nicht ausgeschlossen werden könnten.

     27.03.2007, Az. VI ZR 55/05

    Im entschiedenen Fall hatte ein Epilepsie-Medikament zu irreparablen Augenschäden geführt. Das Medikament war erst im Laufe der Behandlung zugelassen worden.

    Der BGH stellte hier einen Behandlungsfehler fest. Gemäß Wortlaut der Verpackungsbeilage bei Zulassung des Medikaments war darauf hingewiesen worden, dass Langzeitauswirkungen des Medikaments auf das visuelle System und okulomotorische Leistungen beim Menschen noch nicht untersucht worden seien. Deshalb seien periodische Kontrollen des Sehvermögens angezeigt. Dass solche Kontrollen ‒ auch nach zwischenzeitlich erfolgter Zulassung des Medikaments ‒ unterblieben, wertete das Gericht als behandlungsfehlerhaft.

     22.05.2007, Az. VI ZR 35/06

    Hier ging es um eine Behandlung von Bandscheibenbeschwerden mit dem sogenannten Racz-Katheter (siehe Beitrag im CB 12/2007, Seite 5). Bei dieser Behandlung wurde über einen Epiduralkatheter im Spinalkanal ein „Cocktail“ aus einem Lokalanästhetikum, einem Kortikoid, einem Enzym und einer Kochsalzlösung im Bereich des von einem Bandscheibenvorfall betroffenen Segments eingespritzt. Infolge der Behandlung erlitt die Patientin eine Blasen- und Mastdarmstörung. Die Methode war zum Zeitpunkt der Behandlung neuartig und wissenschaftlich umstritten.

    Der BGH sah die Aufklärung nicht als hinreichend an. Einem Patienten müssten nicht nur die Risiken und die Gefahr eines Misserfolgs des Eingriffs erläutert werden. Vielmehr sei er auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff (noch) nicht medizinischer Standard und seine Wirksamkeit statistisch (noch) nicht abgesichert sei. Der Patient müsse „wissen, auf was er sich einlässt“ ‒ so der BGH.

     

    So minimieren Sie das Haftungsrisiko

    Wenn alternative Therapieformen in der Klinik eingesetzt werden sollen, ist vonseiten der behandelnden Ärzte besondere Sorgfalt geboten.

     

    • Handlungsempfehlungen für beratende und behandelnde Ärzte
    • Die Patientenaufklärung erfordert besondere Sorgfalt. Sowohl über Chancen und Risiken der geplanten alternativen Therapieform als auch in Betracht kommender schulmedizinischer Methoden im Vergleich müssen die Patienten „schonungslos“ aufgeklärt werden.
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    • Des Weiteren müssen die Patienten explizit darauf hingewiesen werden, dass bei neuartigen Verfahren noch nicht abschließend geklärte oder noch gänzlich unbekannte Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Die schriftliche Dokumentation der Aufklärung ist dringend zu empfehlen.
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    • Zur Anwendung bei Patienten dürfen nur medizinisch vertretbare Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gelangen. Ist die Methode nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft unvertretbar, helfen auch die beste Aufklärung und das Einverständnis des Patienten nicht weiter.
     

    Besonderes Risiko für Chefärzte: Organisationsverschulden

    Als Chefarzt können Sie durch den Haftungsgrund des Organisationsverschuldens haftungsrechtlich besonders im Fokus stehen. Hiernach gilt grundsätzlich: Sie als Chefarzt haben sicherzustellen und dafür einzustehen, dass die nachgeordneten Ärzte in Ihrer Abteilung die Behandlungen und Aufklärungen lege artis durchführen. Kommt es zu einem Fehler, der seinen Grund in mangelhafter Organisation der Abteilung oder nicht hinreichender Überwachung des Personals hat, wird Ihnen der Fehler angelastet ‒ auch wenn Sie an der konkreten Behandlungsmaßnahme überhaupt nicht beteiligt waren.

     

    PRAXISHINWEIS | In Haftungsstreitigkeiten, die alternative Behandlungsmethoden betreffen, geht es häufig darum, ob die angewendete Therapieform überhaupt geeignet und vertretbar war und inwieweit die erfolgte Aufklärung den Anforderungen entspricht. Bei solch grundsätzlichen Fragen liegt der Vorwurf eines möglichen Organisationsverschuldens durch den Chefarzt näher, als wenn einem Assistenzarzt bei einer Standardoperation ein technischer Fehler unterlaufen ist. Seien Sie deshalb als Chefarzt beim Einsatz alternativer Behandlungsmethoden in Ihrer Abteilung besonders vorsichtig. Weisen Sie ggf. Ihre Ober- und Assistenzärzte in regelmäßigen Besprechungen sorgfältig an und überwachen Sie regelmäßig die Einhaltung Ihrer Anordnungen. Protokollieren Sie die Besprechungen ebenso wie Ihre Kontrollen. Mehr dazu bringt der CB in einem Folgebeitrag.

     

    Weiterführende Hinweise

    • „Organisationsverschulden als Haftungsgrund: Wie kann der Chefarzt vorbeugen?“ (CB 12/2011, Seite 1)
    Quelle: Ausgabe 02 / 2018 | Seite 6 | ID 45087117