· Fachbeitrag · Arzthaftung
Hirnschaden durch falsch abgelegten EKG-Befund: Klinik haftet für Fehler einer Krankenschwester
von RA, FA MedizinR Philip Christmann, Berlin/Heidelberg, christmann-law.de
| Führt das Pflegepersonal einer Intensivstation wichtige ärztliche Weisungen nicht aus, so haftet der Krankenhausträger für dieses Organisationsverschulden (Oberlandesgericht [OLG] München, Teilgrund- und Teilendurteil vom 06.08.2020, Az. 24 U 1360/19). |
Sachverhalt
Auf einer Intensivstation bestand eine interne mündliche Anweisung, die zum Schutz der Patienten verlangte, dass vom Pflegepersonal erfasste EKG-Befunde vorn in der Behandlungsakte abgelegt werden sollen, sodass der behandelnde Arzt diese Befunde sogleich sehen kann. Des Weiteren sollte die Anfertigung des EKGs in der Behandlungsakte vermerkt werden.
Eine Krankenschwester legte von ihr gerade erhobene EKG-Befunde einer 43-jährigen Patientin ‒ der späteren Klägerin ‒ aber entgegen dieser Weisung nicht vorn in die Behandlungsakte. Sie vermerkte auch nicht, dass das EKG aufgezeichnet worden war. Das EKG zeigte einen reaktionspflichtigen Befund (deutlich verlängertes korrigiertes QT-Intervall der Patientin von 0,62 Sekunden). Der behandelnde Oberarzt führte kurz darauf seine Visite durch, sah aber den auffälligen EKG-Befund nicht. Der Befund hätte aber ein sofortiges ärztliches Handeln und das Verbleiben der Patientin auf der Intensivstation erforderlich gemacht. Stattdessen wurde sie auf die Normalstation verlegt, wo sie einen Herz-Kreislauf-Stillstand und ‒ bedingt durch eine Sauerstoffunterversorgung ‒ schließlich eine Hirnschädigung erlitt.
Die Hirnschädigung führte zur dauernden vollständigen Pflegebedürftigkeit der Patientin (Pflegestufe III bzw. Pflegegrad 5). Die Haftpflichtversicherung des Krankenhausträgers zahlte ein Schmerzensgeld von 150.000 Euro sowie Verdienstausfälle an die Patientin und ihren Ehegatten. Diese verklagten allerdings den Klinikträger auf Zahlung eines höheren Schmerzensgeldes (insgesamt mindestens 225.000 Euro) und weiteren Schadenersatzes.
Vor Gericht sah sich die beklagte Klinik nicht als verantwortlich. Eine Falschbehandlung habe es nicht gegeben. Das vom behandelnden Oberarzt unberücksichtigte EKG stamme auch nicht von der Klägerin. Es habe sich auch nicht in der Patientenakte befunden. Überdies bestritt der Klinikträger u. a., dass der Hirnschaden durch das Fehlverhalten der Krankenschwester verursacht worden sei. Während das Landgericht (LG) Kempten als Vorinstanz die Klage abwies (siehe Kasten am Ende dieses Abschnitts), folgte das OLG München als Berufungsinstanz weitgehend dem Vortrag der Kläger. Für die erlittene hypoxische Hirnschädigung musste der Klinikträger weitere 75.000 Euro an Schmerzensgeld zahlen, den erlittenen Verdienstausfall ersetzen und für alle künftigen Schäden aufkommen.
MERKE | Das LG Kempten hatte einen ärztlichen Behandlungsfehler verneint. Es liege, so die Richter, lediglich eine Pflichtverletzung des nicht ärztlichen Personals vor. Dieses habe das EKG nicht rechtzeitig in die Patientenakte gegeben. Dabei handele es sich um keinen Organisationsfehler, sondern um einen nach §§ 278, 831 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnenden Fehler eines Gehilfen. Es sei der Klägerin nicht gelungen, diesen Fehler der Klinik zuzurechnen. Denn auch eine weitere intensivmedizinische Überwachung hätte das Auftreten eines Herz-Kreislauf-Stillstands nicht verhindern können. Ein zu einer Beweislastumkehr führender grober Fehler liege nicht vor, da es sich um einen Fehler handele, der in der klinischen Praxis vorkomme (LG Kempten, Urteil vom 28.02.2019, Az. 32 O 1228/12). |
Entscheidungsgründe
Zwar verneinte auch das OLG einen Behandlungsfehler des behandelnden Oberarztes. Auf Grundlage der ihm vorliegenden Informationen (zu denen der auffällige EKG-Befund nicht gehörte) sei die vom Oberarzt getroffene Entscheidung, die Patientin auf die Normalstation zu verlegen, nicht zu beanstanden. Das Gericht bejahte aber ein grob fehlerhaftes Verhalten des Pflegepersonals. Dieses habe gegen die mündlich erteilte Weisung in doppelter Hinsicht verstoßen: sowohl durch die falsche Ablage des Befunds als auch durch den fehlenden Vermerk, dass ein EGK angefertigt wurde. Dieses fahrlässige Handeln der Krankenschwester sei dem Krankenhausträger auch nach § 278 BGB bzw. § 831 BGB zuzurechnen.
Das OLG München konnte ‒ anders als das LG Kempten ‒ für das Verhalten des Pflegepersonals keinerlei Verständnis aufbringen. Es kommt daher auch zu dem Ergebnis, dass dieser grobe Verstoß zur Beweislastumkehr zulasten des Klinikträgers führt. Schon eine bloße Mitverursachung des Herz-Kreislauf-Stillstands durch die Verlegung der Patientin auf die Normalstation reiche aus, um einen Ursachenzusammenhang zu bejahen. Das OLG stellte auch auf die Grundsätze zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger gemäß § 630h Abs. 5 S. 2 BGB ab. Im vorliegenden Fall seien diese Grundsätze heranzuziehen. Die (faktisch) unterbliebene zeitnahe Vorlage des EKGs sei ein Verstoß gegen diese Grundsätze und müsse daher als ursächlich für die Schädigung der Patientin angesehen werden.
FAZIT | Der Fall zeigt, wie wichtig es ist, standardisierte Prozeduren (Standard Operating Procedures; SOPs) in einem Krankenhaus zu erarbeiten und diese strikt einzuhalten. Das gilt insbesondere in der Intensivmedizin. Möglicherweise wäre es nicht zu dem Fehler gekommen, wenn die Weisung, EKG-Befunde vorn in die Akte einzulegen und ihre Erhebung zu vermerken, dem Pflegepersonal nicht lediglich mündlich erteilt worden wäre. In solchen Fällen ist ‒ neben der konsequenten Einübung und Überwachung solcher SOPs ‒ auch eine schriftliche Erfassung der Weisungen ratsam. |
Weiterführender Hinweis
- Wie Sie als Chefarzt einem Organisationsverschulden in Ihrer Abteilung vorbeugen, lesen Sie in dem Beitrag „Die Pflicht des Chefarztes zur Überwachung der Mitarbeiter“ (CB 01/2020, Seite 18 ff.).