· Fachbeitrag · Arzthaftung
Muss einem nicht erschienenen Patienten „hinterhertelefoniert“ werden?
von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Rainer Hellweg, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de
| Wenn ein Termin zur Nachkontrolle vereinbart wird oder noch ein Laborbefund aussteht, kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass Patienten sich nicht melden oder nicht erscheinen. Muss der Arzt dann initiativ eine Kontaktaufnahme mit dem Patienten herbeiführen - zumindest in ernsten Fällen? Und wenn der Patient nicht erreichbar ist? Die Frage betrifft auch den Chefarzt, da er für die Abläufe und die Organisation seiner Abteilung verantwortlich ist. Worauf zu achten ist, zeigt der folgenden Artikel. |
Aktueller Fall des Oberlandesgericht Hamm
Mit Urteil vom 21. Mai 2003 (Aktenzeichen: 26 U 140/12, Abruf-Nr. 140280) hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm zu der Frage Stellung genommen, wie weit die Pflicht des Arztes geht, einen Patienten wegen einer erneuten Vorstellung zu kontaktieren, wenn dieser nicht erscheint. Im dortigen Fall wurde einem Gynäkologen ein Behandlungsfehler vorgeworfen. Dieser war von einer Patientin nach Überweisung durch den Hausarzt zur Abklärung von Unterleibsschmerzen konsultiert worden.
Nach Durchführung gynäkologischer Untersuchungen überwies der Gynäkologe die Patientin zum Urologen. Da auch urologische Ursachen nicht erkennbar waren, riet der Urologe in einem an den Gynäkologen und an den Hausarzt gerichteten Arztbrief zu einer weiteren Darmuntersuchung. Nachfolgend suchte die Patientin den Gynäkologen nicht wieder auf und ließ auch die empfohlene Darmspiegelung erst über ein halbes Jahr später durchführen. Letztlich wurde dann ein Adenokarzinom des Colon Sigmoideum festgestellt, woran die Patientin verstarb.
Vorwurf wegen fehlender aktiver Handlung des Gynäkologen
Der von den Kindern der verstorbenen Patientin gegenüber dem Gynäkologen im Prozess erhobene Vorwurf ging dahin, dass dieser eine gastroenterologische Abklärung hätte veranlassen müssen. Zumindest hätte er von sich aus die Patientin zur Wiedervorstellung auffordern oder nachfragen müssen, welche Empfehlung der Urologe gegeben habe.
Gericht sieht Arzt im Recht
Die Haftungsklage wurde abgewiesen. Es sei dem Gynäkologen rechtlich nicht vorwerfbar, dass er eine weitere medizinische Abklärung unterlassen habe. Als „Primärbehandler“ sei der Hausarzt für die Koordination der Behandlung verantwortlich gewesen. Von dem Gynäkologen habe nicht verlangt werden können, dass er nach der urologischen Untersuchung von sich aus hätte tätig werden müssen, um bei der - nicht erschienenen - Patientin doch noch eine Kontrollvorstellung der Patientin herbeizuführen.
Eine solche Pflicht hätte der Gynäkologe nach Ansicht des OLG nur bei einer erkennbaren massiven Gefährdungssituation gehabt - etwa bei einem Tumorverdacht. Hier aber habe er aus dem Nichterscheinen der Patientin folgern dürfen, dass sich deren Beschwerden gebessert hätten.
PRAXISHINWEIS | Das OLG Hamm grenzt in den Entscheidungsgründen zwischen verschiedenen behandelten Ärzten ab. Im entschiedenen Fall sah es den Hausarzt als Primärbehandler in der vorrangigen Verantwortlichkeit für die Koordination des Behandlungsablaufes. Hier ist aber Vorsicht geboten: Mit dem Argument, er sei nicht der Primärbehandler, wird sich der Chefarzt nicht generell und von vornherein der haftungsrechtlichen Verantwortung entziehen können. Je nach Einzelfall sowie Schwere- und Risikograd der abzuklärenden Diagnose kann auch den Chefarzt die Verpflichtung treffen, die Durchführung der weiteren Behandlung beim Patienten zu überwachen bzw. überwachen zu lassen. |
Therapeutische Aufklärung obliegt auch Chefärzten
Prinzipiell gilt: Im Rahmen der therapeutischen Aufklärung ist jeder Arzt - also auch der Chefarzt - verpflichtet, den Patienten deutlich auf die Notwendigkeit von Nachuntersuchungen oder einer Wiedervorstellung hinzuweisen. Dabei reicht ein allgemeiner Ratschlag, sich bei Verschlechterung des Zustandes wieder in Behandlung zu begeben oder das Weitere mit dem Hausarzt abzuklären, nicht aus. Sind nämlich negative Veränderungen in kurzer Zeit möglich, hat der Arzt dafür Sorge zu tragen, dass darauf auch rasch reagiert werden kann.
Somit muss dem Patienten deutlich vor Augen geführt werden, warum eine Nachkontrolle oder weitergehende Untersuchung erforderlich und wie dringlich sie ist. Dabei sollte auch klargemacht werden, welche Gefahren sich ergeben, sollte der Patient den Termin versäumen.
PRAXISHINWEIS | Generell gilt der Grundsatz: Je gravierender und gefährlicher die Diagnose sein kann und je akuter der Klärungsbedarf ist, desto weiter geht die Verpflichtung für den behandelnden Chefarzt. |
Entlassbrief reicht nicht immer aus
Welche konkreten Anforderungen an die Initiative und Kontaktaufnahme durch den Arzt zu stellen sind, hängt vom Einzelfall ab. Oftmals wird aber ein einfacher Brief, der einige Tage nach Verlassen der Klinik versandt wird, nicht ausreichen. In dringenden Fällen kann erwartet werden, dass der Chefarzt oder ein nachgeordneter ärztlicher Mitarbeiter kurzfristig und initiativ mit dem Patienten Kontakt aufnimmt. Falls der Patient nicht erreicht wird, genügt es nicht, ihm lediglich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Je nach Fallgestaltung kann es nötig sein, mehrere Anrufversuche zu unternehmen oder auch eine Kontaktaufnahme über Angehörige zu veranlassen, soweit diese bekannt sind oder sich ermitteln lassen.
Unabhängig davon besteht jedenfalls die Verpflichtung, den behandelnden Arzt des Patienten - meist den Hausarzt - über das Ergebnis der Behandlung oder der Diagnostik im Krankenhaus zu unterrichten. Dies entlastet aber nicht von der gegebenenfalls bestehenden Pflicht, zusätzlich direkt an den Patienten heranzutreten und ihn auf die besondere Dringlichkeit einer weiteren Abklärung hinzuweisen.
PRAXISHINWEIS | Je schwieriger der Patient erreichbar ist und je uneinsichtiger er sich zeigt, desto deutlicher und schneller sollte der Hinweis an den behandelnden Arzt erfolgen. |
Chefarzt in der Verantwortung
Wenn es um grundsätzliche organisatorische Abläufe in seiner Abteilung geht, ist der Chefarzt in besonderer haftungsrechtlicher Verantwortung. Grund sind seine Organisationspflichten als medizinisch Gesamtverantwortlicher für seine Abteilung. Die Einhaltung der Behandlungs- und Vorgehensprinzipien lege artis muss der Chefarzt durch Anweisungen an das ärztliche Personal sicherstellen und von Zeit zu Zeit kontrollieren.
Mitverschulden auf Patientenseite möglich
Selbstverständlich kann und darf der Arzt die Patienten nicht zwingen, sich einer Nachkontrolle oder weiterer diagnostischer Abklärung zu unterziehen. Wenn von ärztlicher Seite alles Mögliche und Gebotene getan wird, um auf den Patienten einzuwirken, und er trotzdem nicht erscheint, scheidet ein Behandlungsfehler aus - oder es kommt zumindest ein Mitverschulden des Patienten in Betracht.
Hier ist jedoch zu beachten, dass die Rechtsprechung sehr zurückhaltend ist, bei Patienten eine Obliegenheitsverletzung zu bejahen, die als Mitverschulden zu bewerten ist. Zwar darf grundsätzlich vom Patienten erwartet werden, dass er den Therapie- und Kontrollanweisungen des Arztes folgt. Aufgrund des Wissens- und Informationsvorsprungs des Arztes gegenüber dem medizinischen Laien muss aber von ärztlicher Seite sichergestellt werden, dass der Patient hinreichend deutlich über die Notwendigkeit des weiteren Vorgehens aufgeklärt wird - und dass dies der Patient auch versteht. Zudem gilt: Je dringender aus medizinischer Sicht eine bestimmte Vorgehensweise ist, desto stärker muss der Arzt auf den Patienten einwirken.
PRAXISHINWEIS | Gerade wenn sich die Kontaktaufnahme mit dem Patienten schwierig darstellt oder mangelnde Compliance bekannt ist, empfiehlt sich eine besonders sorgfältige schriftliche Dokumentation in der Patientenakte. So sollten zum Beispiel Zeitpunkt und Inhalt des Telefonats oder die Anzahl der Anrufversuche festgehalten werden. Auch eine telefonische Kontaktaufnahme mit Angehörigen oder dem Hausarzt sollte niedergeschrieben werden, um einem Haftungsprozess möglichst vorzubeugen. |