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  • · Fachbeitrag · Arztrecht

    „Der medizinische Standard ist einzuhalten“: Was bedeutet das konkret für die Behandlung?

    von Rechtsanwältin Rosemarie Sailer, LL.M. Medizinrecht, Wienke & Becker - Köln, www.kanzlei-wbk.de 

    | Der Arzt muss seine Patienten nach aktuellem medizinischen Standard behandeln: Spätestens bei Gerichtsverfahren wird diese Maßgabe immer wieder ­zitiert. Doch was bedeutet sie genau? Der Beitrag beantwortet diese Frage anhand einer Entscheidung des Oberlandes­gerichts (OLG) Köln ­(Beschluss vom 7. Mai 2012, Az. 5 U 247/11, Abruf-Nr. 134037 ). Zudem wird der Unterschied zwischen dem „medizinischen Standard“ und „medizinischen Leit­linien“ erklärt - mitsamt den Auswirkungen auf die tägliche Arbeit für (Chef-)Ärzte in Krankenhäusern. |

    Prothese gebrochen - Patient verlangt Schadensersatz

    In dem Fall vor dem OLG hatte ein Orthopäde seinem Patienten im Jahr 2004 eine Hüftgelenksprothese eingesetzt und sich dabei exakt an die Vorgaben des Herstellers gehalten. Dabei hielt er auch die vom Hersteller geforderte Hygiene ein. Während der Operation sowie am Tag danach kontrollierte der Orthopäde den Sitz der Prothese mittels Röntgendiagnostik.

     

    Den Röntgenaufnahmen zufolge zeigte das Implantat eine „normal gute ­Stellung“, ungewöhnliche Abweichungen wurden nicht angeführt. Dennoch kam es aufgrund von minimalen Verunreinigungen im Spalt zwischen dem Adapterkonus und dem Prothesenschaft zum Bruch des Konus.

     

    Der Patient verlangte daraufhin Schadensersatz und Schmerzensgeld. Er begründete dies unter anderem damit, dass der Operateur die Verbindung zwischen Adapterkonus und Prothesenschaft nicht ausreichend gesäubert habe. ­Hierzu sei er verpflichtet gewesen. Überdies habe er die Prothese, die mittlerweile vom Markt genommen wurde, gar nicht erst verwenden dürfen.

    OLG: Operateur erfüllte (damaligen) medizinischen Standard

    Der Patient scheiterte mit seiner Klage vor dem OLG als Berufungsinstanz. Das Gericht sah es auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens als ­erwiesen an, dass der Arzt die gebotene ärztliche Sorgfalt eingehalten hat, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung entsprach. Ein Behandlungsfehler war demnach nicht feststellbar.

     

    • Hintergrund: der medizinische Standard

    Der medizinische Standard repräsentiert den Stand der wis­senschaftlichen ­Erkenntnis und ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ­Behandlungsziels erforderlich ist und der sich in der Anwendung bewährt hat.

     

     

    Keine entsprechenden Veröffentlichungen

    Das Gericht stellte darauf ab, dass im Jahr 2004 die Vulnerabilität der Verbindung zwischen Adapterkonus und Prothesenschaft in der medizinischen Wissenschaft nicht bekannt gewesen sei und dass keine entsprechenden Studien oder Veröffentlichungen in der Fachliteratur existiert hätten. Daher sei der Orthopäde auch nicht verpflichtet gewesen, von der Operationsan­leitung des Herstellers so abzuweichen, dass eine über das übliche Maß hinaus­gehende Säuberung der Verbindung hätte vorgenommen werden müssen. Somit sei es dem Arzt nicht anzulasten, dass er die Verunreinigungen - wenige Zehntel Millimeter große Partikel - im Spalt zwischen Adapterkonus und Prothesenschaft während der Operation nicht erkannt hatte.

     

    Mängel der Prothese im Behandlungszeitpunkt nicht bekannt

    Auch die Verwendung der konkreten Prothese werteten die Richter nicht als Behandlungsfehler: Es habe sich um eine zugelassene Prothese gehandelt, die keine ersichtlichen technischen Mängel aufwies. Erst bei späterer Verwendung hätten sich Probleme gezeigt, die später dazu geführt hatten, dass die Prothese vom Markt genommen wurde. Zum Zeitpunkt der Operation ­seien diese Probleme unbekannt gewesen. Daher - so die Richter - könne dem Operateur zum Zeitpunkt der Operation kein Vorwurf gemacht werden.

    Welcher medizinische Standard gilt?

    Was die Entscheidung nur am Rande thematisiert, ist häufig Gegenstand gericht­licher Auseinandersetzungen gewesen: die Frage nach dem im Behandlungs­zeitpunkt geltenden medizinischen Standard. Sie ist nicht immer einfach zu beantworten. Grund hierfür ist, dass es - wie in der Juristerei - zu vielen Themen mehr als nur eine Meinung gibt; es erweist sich oft als aus­gesprochen schwierig, hierbei die „richtige“ Meinung zu ermitteln.

     

    Die Frage nach dem aktuellen medizinischen Standard wird etwa dann relevant, wenn im Behandlungszeitpunkt bereits Anforderungen an Ausführung und Technik bestanden haben, die tatsächlich nicht eingehalten wurden.

     

    Medizinischer Standard auch bei der Aufklärung entscheidend

    Aber auch im Rahmen der Aufklärung wird häufig der Vorwurf erhoben, der Arzt habe den Patienten nicht über ein bestimmtes Risiko oder eine Therapiealternative informiert, obwohl diese schon bekannt und damit aufklärungspflichtig gewesen seien. Es ist daher auch zu prüfen, ob es bereits Kontra­indikationen oder Warnungen gab, die bei der Wahl der Methode oder bei der Risikoaufklärung hätten beachtet werden müssen. Häufig weisen die Parteien dann im Arzthaftungsprozess auf Einzelmeinungen und -studien hin, um die eigene Sichtweise zu untermauern.

     

    Außenseitermeinungen unbeachtlich

    Inwiefern solche Einzelmeinungen den medizinischen Standard beeinflussen können, hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe bereits im Jahr 1995 festgestellt. Damals ging es um die erforderliche Aufklärung durch den Arzt über ein seltenes Risiko (Urteil vom 21. November 1995, Az. VI ZR 329/24). Das Gericht stellte klar: Eine Aufklärungspflicht besteht nur dann, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft auf bestimmte, mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche Außenseitermeinungen abgetan, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen.

     

    Fehlende wissenschaftliche Erörterung

    Es ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch nicht erforderlich, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Risiken bereits abgeschlossen ist. Eine Aufklärung ist daher nicht erforderlich, wenn im Behandlungszeitpunkt ein Ursachenzusammenhang zwischen der Behandlungsmethode und der konkreten Schädigung trotz vereinzelter in der Literatur erwähnter Fälle noch völlig ungeklärt ist und deshalb auch (noch) nicht weiter durch die wissen­schaftliche Literatur problematisiert wurde.

     

    PRAXISHINWEIS |  Dieselben Grundsätze lassen sich auf die Anforderungen an die Sorgfalt bei der Behandlung übertragen. Der Arzt darf sich daher so lange an die bekannten Handlungsvorgaben halten, bis diese in der Wissenschaft gemeinhin als überholt gelten.

     

    Verbindlichkeit von medizinischen Leitlinien

    Im Gegensatz zum medizinischen Standard sind medizinische Leitlinien systematisch entwickelte Entscheidungshilfen der medizinisch-wissenschaft­lichen Fachgesellschaften. Sie geben keine verbindliche Handlungsanleitung vor, sondern enthalten lediglich Empfehlungen.

     

    Von den Leitlinien kann - und muss! - daher in begründeten Fällen auch abge­wichen werden, sodass sich aus ihnen allein noch kein pauschaler Vorwurf eines Behandlungsfehlers bzw. eines Haftungsanspruchs des Patienten ableiten lässt. Der (Chef-)Arzt ist daher nicht verpflichtet, den Empfehlungen einer Leitlinie uneingeschränkt zu folgen.

     

    Entscheidend für das ärztliche Handeln ist, dass der medizinisch-wissenschaftliche Standard - der sogenannte Facharztstandard - eingehalten wird. Daneben ist es in Einzelfällen sogar erlaubt, im Rahmen der Therapiefreiheit des Arztes nach entsprechender umfassender Aufklärung und Einwilligung des Patienten auch sogenannte Außenseitermethoden anzuwenden.

     

    PRAXISHINWEISE |  Medizinische Leitlinien sind in der Regel Indizien - sie dienen als Orientierung, sind aber nicht mit dem medizinisch-wissenschaftlichen Standard gleichzusetzen. Pauschal lässt sich nicht definieren, welcher medizinische Standard im Behandlungszeitpunkt konkret zur Anwendung kommt und über welche Risiken aufzuklären ist. Daher kommt der Einzelfall-Beurteilung durch den medizinischen Sachverständigen meist eine hohe Bedeutung zu.

     

    Durch eine gewissenhafte Fortbildung und Lektüre der einschlägigen Fachzeitschriften kann der (Chef-)Arzt zudem sichergehen, keine Entwicklungen des medizi­nischen Standards in seinem Fachgebiet zu verpassen.

     

     

    Quelle: Ausgabe 01 / 2014 | Seite 5 | ID 42453193