· Fachbeitrag · Beschränkungen und Beschwerungen
Wahlrecht gem. § 2306 Abs. 1 BGB bei Ausschlagung „aus allen Berufungsgründen“
von RiOLG Dr. Andreas Möller, Hamm
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Sachverhalt
Der Kläger (S) begehrt als Pflichtteilsberechtigter im Wege der Stufenklage Auskunft über den Bestand des Nachlasses seines 2012 verstorbenen Vaters V durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses. S und die Beklagte (Tochter T) sind die beiden Kinder des V und seiner vorverstorbenen Ehefrau M. Der V und die M hatten ein gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig zu alleinigen Erben und S und T zu gleichen Teilen als Schlusserben nach dem Tod des Letztversterbenden einsetzten. Außerdem beschwerten sie die Schlusserben mit einem Vermächtnis, wonach die T ein Hausgrundstück zu Alleineigentum und S und T ein weiteres Hausgrundstück zu je ½ ideellen Miteigentumsanteil erhalten sollten. Es war der Wunsch der Eltern, dass die beiden Grundstücke im Familienbesitz verbleiben sollten. Mit notariell beglaubigtem Schreiben hat der S „die Erbschaft aus allen Berufungsgründen“ ausgeschlagen. Auch die beiden Kinder des S haben die Erbschaft aus allen Berufungsgründen ausgeschlagen. Das LG hat dem Auskunftsbegehren in der ersten Stufe stattgegeben.
Entscheidungsgründe
Dem S steht ein Anspruch gegen die T auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses des V durch Vorlage eines notariellen Bestandsverzeichnisses gem. § 2314 Abs. 1 BGB zu.
Kläger ist pflichtteilsberechtigt
Gem. § 2306 Abs. 1 BGB kann ein als Erbe berufener Pflichtteilsberechtigter, der durch die Einsetzung eines Nacherben, die Ernennung eines Testamentsvollstreckers oder eine Teilungsanordnung beschränkt oder mit einem Vermächtnis oder einer Auflage beschwert ist, den Pflichtteil verlangen. Er muss den Erbteil ausschlagen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der S ist als Sohn des V pflichtteilsberechtigt, § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB. Er wurde durch das Testament aus 2008 gemeinsam mit der beklagten T als Schlusserbe eingesetzt und durch das in diesem Testament vorgesehene Vermächtnis beschwert. Die Erbschaft hat er fristgerecht ausgeschlagen. Auch der als Erbe berufene Pflichtteilsberechtigte kann nach der Ausschlagung die in § 2314 Abs. 1 BGB genannten Auskunftsansprüche geltend machen (OLG Brandenburg ZErb 04, 132).
Kläger hat nicht auf den Pflichtteilsanspruch verzichtet
Der S hat seinen Pflichtteilsanspruch nicht dadurch verloren, dass er die Ausschlagung „aus allen Berufungsgründen“ erklärt hat. Hierin liegt kein ausdrücklicher Pflichtteilsverzicht. In der Literatur ist die Frage, ob eine umfassende Erbausschlagung nach § 2306 Abs. 1 BGB zum Ausschluss auch des Pflichtteilsanspruchs führt, nur vereinzelt erörtert worden:
- Zum Teil wird vertreten, dass eine derartige umfassende Ausschlagungserklärung auch den Berufungsgrund der gesetzlichen Erbfolge einschließe, der gerade Grundlage für die Zuerkennung eines Pflichtteilsanspruchs sei. Ohne den von der allumfassenden Ausschlagungserklärung erfassten gesetzlichen Erbteil gebe es keinen Pflichtteil (de Leve, ZEV 10, 184, 185).
- Nach anderer Ansicht bedeutet die umfassende Lossagung des Erben von der Erbschaft durch eine Ausschlagung nicht zugleich auch eine Lossagung vom Pflichtteilsanspruch (Sachs, ZEV 10, 556, 557). Erbenstellung und bloße Pflichtteilsberechtigung unterschieden sich bekanntlich gravierend.
- Eine weitere Meinung vertritt eine differenzierende Sichtweise und lehnt eine abstrakt-generelle Aussage ab, ob die hinterlassene Erbschaft immer nur nach dem Berufungsgrund der gesetzlichen bzw. der testamentarischen Erbfolge oder umgekehrt stets umfassend auszuschlagen ist (MüKo/Lange, BGB, 6. Aufl., § 2306 Rn. 19). Vielmehr sei auf den Einzelfall abzustellen: Schlage der als testamentarischer Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte aus dem Berufungsgrund der testamentarischen Erbfolge aufgrund der in § 2306 Abs. 1 BGB genannten Belastungen aus, dürfe er nicht den Pflichtteil verlangen können, sofern er nach den allgemeinen Regeln unbeschränkter und unbeschwerter Erbe aufgrund gesetzlicher Erbfolge werde. Denn er sei nicht schutzwürdig. Daher sei es nicht überzeugend, stets eine umfassende Ausschlagung zu verlangen (so die Argumentation von Lange, a.a.O.). Danach besteht das in § 2306 Abs. 1 BGB eingeräumte Wahlrecht nur, wenn alle dem Erben hinterlassenen Erbteile, also sowohl der Erbteil aufgrund letztwilliger Verfügung als auch der Erbteil kraft gesetzlicher Erbfolge, mit Beschränkungen und Beschwerungen verbunden sind. Deshalb seien in jedem Einzelfall die Auswirkungen zu prüfen, die sich nach den allgemeinen Regeln nach Ausschlagung eines durch letztwillige Verfügung zugewendeten belasteten Erbteils hinsichtlich der Beschränkungen und Beschwerungen für den gesetzlichen Erbteil ergeben (juris-Pk/Birkenheier, BGB, 6. Aufl., § 2306 Rn. 93; Palandt/Weidlich, BGB, 73. Aufl., § 2306 Rn. 2).
Der Senat folgt der dritten Ansicht. Gegen die Ansicht de Leves spricht danach Folgendes:
- Die Ausschlagung der Erbschaft wirkt ex tunc, der Anfall der Erbschaft gilt gemäß § 1953 Abs. 1 BGB als nicht erfolgt. Der Pflichtteilsberechtigte, der zum Erben berufen war, aber ausgeschlagen hat, ist nie Erbe gewesen (Damrau, ZEV 06, 557). Ein Pflichtteilsverzicht wird mit der Ausschlagung nicht erklärt.
- Es ist nicht einzusehen, wieso der als Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte, der die Erbschaft ausschlägt, zwar nach § 2306 Abs. 1 BGB den Pflichtteil verlangen darf, ihm aber der Auskunftsanspruch nach § 2314 Abs. 1 BGB nicht zustehen soll. Dies würde dazu führen, dass es Pflichtteilsberechtigte mit umfassenden und mit eingeschränkten Rechten geben würde, wofür es keinen plausiblen Grund gibt. Der als Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte, der die Erbschaft ausschlägt, macht lediglich von einer ihm durch das Gesetz gewährten Möglichkeit Gebrauch, ihm ist weder eine Gesetzesumgehung noch sittenwidriges Verhalten vorzuwerfen (so Damrau, a.a.O., 557, 558).
Pflichtteilsanspruch besteht
Dem Kläger steht ein Pflichtteils- und damit auch ein Auskunftsanspruch nach § 2314 BGB zu, da die vom Erblasser angeordneten Belastungen nicht nur bei der Erbfolge aufgrund letztwilliger Verfügung, sondern auch für den gesetzlichen Erbfall gelten sollen. Als Beschränkung bzw. Belastung kommt hier die im Testament als „Vermächtnis“ bezeichnete Regelung in Betracht. Ob es sich dabei um ein Vermächtnis, eine Auflage oder eine Teilungsanordnung handelt, kann offen bleiben, da es sich in jedem Fall um Beschränkungen bzw. Belastungen i.S. von § 2306 Abs. 1 BGB handelt. Der Kläger ist beschwert, da das Testament genaue Anordnungen hinsichtlich der Aufteilung der beiden zum Nachlass gehörenden Immobilien enthält und der auf die Beklagte entfallende Anteil deutlich größer ist. Die Beklagte erhält zusätzlich zum hälftigen Miteigentumsanteil an der einen Immobilie auch noch das Alleineigentum an der anderen Immobilie. Auch die Regelung im Testament, wonach eine Belastung oder Veräußerung des gemeinsamen Objekts ohne Zustimmung des anderen Vermächtnisnehmers praktisch ausgeschlossen werden soll, stellt eine Beschwerung dar, auch wenn sie beide Kinder in gleicher Weise trifft.
Kläger wäre auch als gesetzlicher Erbe mit dem Vermächtnis belastet
Gem. § 2161 BGB bleibt ein Vermächtnis wirksam, wenn der Beschwerte nicht Erbe oder Vermächtnisnehmer wird, sofern kein anderer Wille des Erblassers anzunehmen ist. Der Kläger ist aufgrund der Ausschlagung nicht Erbe geworden. Das LG hat das Testament dahingehend ausgelegt, dass der Erblasser und seine Frau vor allem den Wunsch hatten, die beiden Grundstücke im Familienbesitz zu erhalten. Dieser Wunsch wird im Testament ausdrücklich ausgesprochen. Die Auslegung des LG, dass dieser Wunsch auch gelten sollte, wenn einer der beiden Schlusserben die gewillkürte Erbfolge ausschlagen sollte und sodann als gesetzlicher Erbe ebenfalls einen Anspruch auf das Erbe hätte, ist lebensnah und plausibel. Daher wäre der Kläger auch als gesetzlicher Erbe durch das Vermächtnis belastet gewesen. Dementsprechend musste er die Erbschaft aus allen Berufungsgründen ausschlagen.
Urteilstenor ist zu präzisieren
Der Urteilstenor auf Auskunft über die vom Erblasser zu seinen Lebzeiten zugunsten Dritter getätigten Zuwendungen ist dahingehend zu präzisieren, dass er sich auf den Zeitraum von zehn Jahren vor dem Erbfall bezieht. Der Auskunftsanspruch ist hinsichtlich der Schenkungen an die Beklagte nicht auf einen Zeitraum von zehn Jahren zu begrenzen. Die Auskunft bezieht sich nicht nur auf pflichtteilsergänzungspflichtige Schenkungen i.S. des § 2325 BGB, sondern auch auf die anrechnungs- und ausgleichungspflichtigen Zuwendungen i.S. der §§ 2315, 2316, 2052 und 2055 BGB. Letztere sind auch über einen Zehn-Jahres-Zeitraum hinweg zu beachten (Bittler, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz, Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl., S. 371, Rn. 19 f.). Zuwendungen i.S. der §§ 2315, 2316, 2052 und 2055 BGB können jedoch nur zugunsten der Beklagten, nicht aber zugunsten Dritter getätigt worden sein. Insofern ist die Auskunftspflicht hinsichtlich der vom Erblasser zugunsten Dritter getätigten Zuwendungen auf einen Zeitraum von zehn Jahren zu begrenzen.
Praxishinweis
Eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage liegt nicht vor. Das OLG Celle hat § 2314 Abs. 1 BGB dahingehend einschränkend ausgelegt, dass ein durch Ausschlagung Nichtmehr-Erbe keinen Auskunftsanspruch hat (ZEV 96, 557). Dies ist zu Recht auf Kritik gestoßen (Damrau, ZEV 96, 557, 558).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist beim BGH anhängig (Az: IV ZR 375/14). Die Ansicht von De Leve überzeugt zwar nicht im Einzelnen. Sinnvoll ist aber die von ihm empfohlene Formulierung der Ausschlagung (ZEV 10, 184):
Musterformulierung / Ausschlagung aus allen Berufungsgründen (nach de Leve, ZEV 10, 184, 185) |
... schlage ich die mir hinterlassene Erbschaft aus, um den Pflichtteil geltend machen zu können (§ 2306 BGB). |
Der Zusatz schadet nicht, wenn die Rechtsfrage wie mit dem OLG Schleswig entschieden wird. Wenn die Rechtsfrage aber anders gesehen wird, nützt sie (a.A. allerdings Sachs, ZEV 10, 556, die in diesem Zusatz nicht den Hinweis auf das Motiv, sondern eine ggf. gefährliche Bedingung sehen möchte).