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  • 16.08.2024 · IWW-Abrufnummer 243256

    Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 22.07.2024 – 14 W 50/24 Wx

    Für die Bestimmung des unionsautonom auszulegenden Begriffes des "gewöhnlichen Aufenthalts" eines Erblassers im Sinne des Art. 4 EuErbVO ist neben dem objektiven Kriterium des tatsächlichen Aufenthalts in subjektiver Hinsicht das Vorliegen eines animus manendi (Bleibewille) erforderlich. An dem fehlt es, wenn ein demenzkranker Erblasser gegen oder ohne seinen Willen in ein Pflegeheim im Ausland verbracht wurde, ohne dass der Erblasser über die reine Pflege hinausgehende Bindungen zu dem Land hatte, in dem er bis zu seinem Tod gepflegt wurde.


    Oberlandesgericht Karlsruhe 

    Beschluss vom 22.07.2024


    In Sachen
    HG,
    verstorben am , letzte Anschrift: ..., Polen
    - Erblasser -
    Beteiligte:
    M G, Z-Straße , 78... G
    - Beschwerdeführerin -
    Verfahrensbevollmächtigte:
    Rechtsanwälte ...

    wegen Zuständigkeit nach EuErbVO (Erbscheinsantrag)

    hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 14. Zivilsenat - durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

    Tenor:

    Auf die Beschwerde der Beteiligten wird der Beschluss des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen vom 07.05.2024, Az. 26 VI 118/24, aufgehoben.

    Die Sache wird an das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen zurückverwiesen.

    Gründe

    I.

    Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob vorliegend die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit nach der EuErbVO gegeben ist.

    Der am 12.07.1955 geborene Erblasser, ein deutscher Staatsangehöriger, ist am 10.10.2023 in einem Pflegeheim in Polen verstorben. Zuvor lebte er zusammen mit der Beteiligten, seiner (zweiten) Ehefrau, in der Z-Straße in 78... G (bzw. verschiedenen Pflegeheimen in Deutschland). Der Erblasser verstarb kinderlos.

    Im Mai 2022 machte sich bei dem Erblasser eine zunehmende Demenz bemerkbar, die ihn zu einem Pflegefall machte. Nachdem eine häusliche Betreuung nur noch schwer bewerkstelligt werden konnte, wurde der Erblasser zunächst ab Ende Juni 2022 in verschiedenen Pflegeheimen in Deutschland versorgt. Ab dem 01.04.2023 lebte der Erblasser in einem Pflegeheim in Polen. Nach seiner aktiven Berufstätigkeit bezog der Erblasser Bezüge in Form einer Rente in Höhe von ca. 192 € pro Monat zuzüglich Pflegegeld in Höhe von ca. 1.861,92 € pro Monat. Der Erblasser hatte kein Vermögen in Polen, sein gesamtes Vermögen - maßgeblich bestehend aus einem Immobilien- und einem Gesellschaftsanteil - befand sich in G, er sprach kein polnisch und hatte familiäre sowie soziale Verbindungen allein nach Deutschland. Der Erblasser wurde von seiner Ehefrau gegen bzw. ohne seinen Willen in dem Pflegeheim in Polen untergebracht.

    Mit öffentlicher Urkunde der Notarin Dr. S vom 14.03.2024, Urkundenverzeichnis UVZ ..., UZ ..., stellte die Beteiligte gegenüber dem Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen einen Antrag auf Erteilung eines Erbscheins, wonach sie von dem Erblasser allein beerbt worden ist.

    Das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen hat den Erbscheinsantrag der Beteiligten mit Beschluss vom 07.05.2024 mangels internationaler Zuständigkeit nach Art. 4 EuErbVO zurückgewiesen.

    Gegen diesen der Beteiligten am 08.05.2024 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Beteiligten vom 28.05.2024.

    Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 28.05.2024 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

    Die Beteiligte hat die Beschwerde mit Schriftsatz vom 02.07.2024 begründet. Dort wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Erblasser entgegen der Auffassung des Amtsgerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor im Sinne des Art. 4 EuErbVO in G hatte.

    Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf den Akteninhalt Bezug genommen.

    II.

    Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beteiligten ist begründet.

    Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen ist die deutsche Gerichtsbarkeit vorliegend nach Art. 4 EuErbVO zur Erteilung des Erbscheins international zuständig, da der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Norm in Deutschland hatte. Örtlich zuständig ist das Amtsgericht Singen. Daher ist der Beschluss des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen aufzuheben und die Sache gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG an das Amtsgericht Singen zurückzuverweisen.

    1. Nach Art. 4 EuErbVO ist die deutsche Gerichtsbarkeit zur Entscheidung über den beantragten Erbschein international zuständig.

    a) Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17.08.2015 ergibt sich grundsätzlich aus Art. 4 ff. EuErbVO i. V. m. § 97 FamFG. Die EuErbVO ist ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG hat (OLG Hamm, Beschluss vom 17.12.2019 - I-15 W 488/17, Rn. 3, juris).

    Nach Art. 4 EuErbVO sind für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

    Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist unionsautonom auszulegen (vgl. BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO, Stand: 01.12.2023, Art. 4 Rn. 19; Dutta/Weber/Lein, Internationales Erbrecht, 2. Aufl. 2021, Art. 4 EuErbVO Rn. 9; Münchener Kommentar/Dutta, BGB, 9. Aufl. 2024, Art. 4 EuErbVO Rn. 3 mwN). Bei der Auslegung sind die Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO zu berücksichtigen, aus denen folgt, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers von der mit der Erbsache befassten Behörde anhand einer Gesamtbeurteilung der Umstände des Einzelfalls in einem einzigen Mitgliedstaat festzulegen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-80/19, Rn. 40, juris). Zu berücksichtigen sind im Einzelfall die Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthalts, Umstände und Gründe für die Präsenz im betreffenden Staat (Erwägungsgrund 23 Satz 2 der EuErbVO), der Wille des Erblassers, in dem Staat den ständigen und gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen zu begründen und dem Aufenthalt Beständigkeit zu verleihen, familiäre und soziale Bindungen, gegebenenfalls die Begründung der Staatsangehörigkeit des Staates (Erwägungsgrund 24 Satz 4), die Belegenheit der wesentlichen Vermögensgegenstände im Staat sowie die Sprachkenntnisse des Erblassers (vgl. zum Ganzen: BeckOGK/J. Schmidt, a. a. O., Art. 4 Rn. 21 bis 27; Münchener Kommentar/Dutta, a. a. O., Art. 4 Rn. 4 mwN; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.11.2020 - I-3 Wx 138/20, Rn. 22, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.09.2020 - 21 W 59/20, Rn. 28, juris).

    Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers sind demnach sowohl objektive als auch subjektive Kriterien maßgeblich. In objektiver Hinsicht muss zumindest ein tatsächlicher Aufenthalt ("körperliche Anwesenheit") gegeben sein, auf eine konkrete Dauer oder die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kommt es hingegen nicht an; unschädlich ist auch eine vorübergehende Abwesenheit, soweit ein Rückkehrwille bestand. In subjektiver Hinsicht ist das Vorliegen eines animus manendi (Bleibewille) erforderlich, also der nach außen manifestierte Wille, seinen Lebensmittelpunkt am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes auf Dauer zu begründen. Eines rechtsgeschäftlichen Willens bedarf es insoweit nicht. Werden pflegebedürftige Personen in ausländischen Pflegeheimen untergebracht, kommt es ebenfalls grundsätzlich auf deren Bleibewillen an. Können diese zum Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels keinen eigenen Willen mehr bilden oder erfolgt die Unterbringung gegen ihren Willen, fehlt es an dem für die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts erforderlichen animus manendi (Gierl/Köhler/Kroiß/Wilsch, Internationales Erbrecht, Teil 1 § 4 Internationales Privatrecht Rn. 14 ff., beck-online; vgl. auch Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger/Eichel, jurisPK-BGB, 10. Aufl., Stand: 01.07.2023, Art. 4 EuErbVO, Rn. 50 juris; BeckOGK/Schmidt, Stand: 01.03.2024, EuErbVO Art. 4 Rn. 33.2 beck-online; Lehman, Anmerkung zu OLG Celle, Beschluss vom 12.09.2019 - 6 AR 1/19, ErbR 2020, 129 beck-online; OGH Österreich, Beschluss vom 26.05.2021 - 2 Ob 48/21, BeckRS 2021, 17113, Rn. 26, beck-online).

    b) Gemessen hieran hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 4 EuErbVO nach wie vor in Deutschland, sein bis zu seinem Versterben andauernder Aufenthalt in dem polnischen Pflegeheim änderte hieran nichts. Nach dem zu Grunde zu legenden Vortrag der Beteiligten fehlte es dem Erblasser an einem Bleibewillen in Polen. Denn der demenzkranke Erblasser wurde gegen oder zumindest ohne seinen Willen in dem polnischen Pflegeheim untergebracht. Wie sich aus dem Vortrag der Beteiligten weiter ergibt, erfolgte die Unterbringung des an Demenz erkrankten Erblassers in dem Pflegeheim in Polen (allein) aus finanziellen Gründen und nicht, um einen neuen Lebensmittelpunkt zu begründen. Dies ist auch in Ansehung der Umstände des vorliegenden Falles plausibel, denn der Erblasser hatte - einschließlich des Pflegegeldes - monatlich etwa 2050 € zur Verfügung, mit denen sich ein Aufenthalt in einem deutschen Pflegeheim nicht finanzieren ließ. Der Erblasser war zudem deutscher Staatsangehöriger, lebte vorher durchweg in Deutschland und sein gesamtes Vermögen war in Deutschland belegen. Er war der polnischen Sprache nicht mächtig und aufgrund seiner (fortschreitenden) Erkrankung war auch nicht zu erwarten, dass er in Polen soziale Bindungen eingehen wird. Damit hatte der Erblasser keinerlei persönlichen Bezug zu Polen, eine über die Unterbringung in dem Pflegeheim hinausgehende Verbundenheit bestand gerade nicht. Damit hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gerade nicht im Sinne des Art. 4 EuErbVO aufgegeben.

    2. Das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen ist gemäß § 47 Nr. 2 IntErbRVG i. V. m. § 343 Abs. 2 FamFG örtlich zuständig.

    a) Die EuErbVO enthält keine Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit. Maßgeblich sind die Vorschriften des IntErbRVG zur Durchführung der EuErbVO. Sie enthalten allgemeine Vorschriften für die örtliche Zuständigkeit in bürgerlich-rechtlichen Erbstreitigkeiten (§ 2 IntErbRVG) und für Verfahren in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie hier (§ 47 IntErbRVG). Sie tragen Sorge dafür, dass stets ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland zuständig ist, wenn seine internationale Zuständigkeit nach Art. 4 ff. EuErbVO begründet ist (vgl. Dutta, in: Weber/Dutta, a. a. O., IntErbRVG, § 47 Rn. 1; Köhler, in: Kroiß/Horn/Solomon, IntErbRVG, 3. Aufl. 2023, § 47 Rn. 2). § 47 Nr. 2 IntErbRVG erfasst - wie die EuErbVO - Erbscheinsverfahren als Nachlasssachen im Sinne von § 342 Abs. 1 Nr. 6 FamFG (vgl. Dutta, in: Dutta/Weber, a. a. O., § 47 Rn. 7; KG, Beschluss vom 26.04.2016 - 1 AR 8/16, Rn. 13, juris).

    Örtlich zuständig ist nach § 343 Abs. 1 FamFG das Gericht, in dessen Bezirk der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

    b) Die Voraussetzungen von § 343 Abs. 1 FamFG sind erfüllt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist wie in Art. 4 EuErbVO unionsautonom auszulegen (vgl. BeckOK/Schlögel, FamFG, a. a. O., § 343 Rn. 5; Staudinger/Herzog, a. a. O., § 2353 Rn. 336 mwN). Danach hatte der Erblasser - wie bereits dargelegt - seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Todeszeitpunkt nach wie vor in Deutschland, namentlich in G, das im Bezirk des Amtsgerichts Singen liegt. Der jeweils kurzfristige Aufenthalt in den deutschen Pflegeheimen vermochte aufgrund der oben dargestellten Umstände keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers zu begründen.

    3. Da das Amtsgericht noch nicht in der Sache entschieden hat, ist der Beschluss vom 07.05.2024 aufzuheben und die Sache nach § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG zurückzuverweisen.

    III.

    Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens unterbleibt, da noch ungewiss ist, ob das Rechtsmittel Erfolg hat oder nicht (Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023, § 84 FamFG Rn. 9, beck-online).

    Ein Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren ist nicht festzusetzen, da in Folge der Zurückverweisung das weitere Verfahren mit dem früheren Verfahren vor diesem Gericht gemäß § 57 Abs. 1 GNotKG einen Rechtszug im Sinne des § 55 GNotKG bildet.

    Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, sind nicht ersichtlich.

    RechtsgebietIntErbRVG. EuErbVOVorschriften§ 47 Nr. 2 IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO