08.04.2022 · IWW-Abrufnummer 228589
Oberlandesgericht Hamm: Urteil vom 09.11.2021 – 10 U 19/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Hamm
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 26.02.2021 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des nach diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe
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I.
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Der Kläger macht aus übergeleitetem Recht im Wege der Stufenklage ‒ hier auf der Auskunftsstufe - Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach dem am 24.02.2017 verstorbenen Erblasser K A geltend.
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Die Beklagte (geb. 00.00.1934) war mit dem Erblasser verheiratet. Die Eheleute hatten zwei Kinder, L und B A. Der am 00.00.1967 geborene B A ist aufgrund eines cerebralen Geburtsschadens mit verminderter Sauerstoffversorgung seit seiner Geburt in seinen kognitiven und mnestischen Fähigkeiten eingeschränkt. Er besuchte die Sonderschule, erwarb einen Hauptschulabschluss und arbeitet heute in einer Behindertenwerkstatt (vgl. Gutachten vom 24.11.2017, AG Detmold 23 XVII 69/18, Bl. 6, 7).
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Die Eheleute A errichteten am 29.08.1988 ein gemeinschaftliches Testament (Bl. 10 ff. d. A.), in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben und den Sohn L zum Schlusserben einsetzten. Nach dem Tod des Erblassers nahm die Beklagte die Erbschaft an.
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Seit dem Tod ihres Ehemannes kann die Beklagte den bis zu diesem Zeitpunkt bei ihr wohnenden Sohn B nicht mehr allein versorgen. Deshalb regte sie am 28.01.2018 die Einrichtung einer Betreuung an. Der Sohn B A zog am 03.02.2018 in den stationären Wohnbereich des C-Hauses in J. Seit dem 01.02.2018 erhält er vom Kläger Sozialhilfe in Form von stationärer Eingliederungshilfe und Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von zuletzt 1.371,66 EUR monatlich. Am 23.04.2018 wurde für ihn eine gesetzliche Betreuung für die Bereiche Gesundheitsfürsorge, Vermögensangelegenheiten und Wohnungsangelegenheiten angeordnet (AG Detmold 23 XVII 69/18, Bl. 35). Im Frühjahr / Sommer 2018 zog die Beklagte in eine ambulant betreute Wohneinrichtung nach Z. Ab dem 05.11.2020 wurde ihr der Pflegegrad 3 bewilligt; eine stationäre Pflege ist geplant.
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Mit notariellem Vertrag vom 03.07.2018 verkaufte die Beklagte das zum Nachlass gehörende Wohnhaus in X, Dstraße 00, zu einem Verkaufspreis von 235.000,00 EUR. Mit notariellem Vertrag vom 11.06.2019 erklärte B A gegenüber der Beklagten den Verzicht auf Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach dem Erblasser (Bl. 13 ff d.A.). Der Kläger leitete durch Bescheid vom 04.02.2020 Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche des Leistungsempfängers B A nach dem Erblasser auf sich über, §§ 141 SGB IX, 93 SGB XII. Dieser Bescheid ist inzwischen bestandskräftig.
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Mit anwaltlichem Schreiben vom 10.02.2020 forderte der Kläger von der Beklagten Auskunft über den Nachlass. Nach Fristablauf hat er mit Klageschrift vom 20.10.2020 die vorliegende Stufenklage zur Geltendmachung von Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüchen aus übergeleitetem Recht anhängig gemacht und auf erster Stufe Auskunft über den Bestand des Nachlasses begehrt.
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Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der am 11.06.2019 geschlossene Verzichtsvertrag sei sittenwidrig und damit unwirksam, § 138 BGB. Hilfsweise hat er sich darauf berufen, dass der Vertrag auch wegen Geschäftsunfähigkeit des B A gem. § 104 Ziff. 1 BGB unwirksam sei.
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Die Beklagte hat vorgetragen, B A sei unbeschränkt geschäftsfähig gewesen. Der Verzicht sei rechtswirksam mit ihm vereinbart worden, insbesondere sei der Verzicht nicht sittenwidrig.
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Das Landgericht hat die Beklagte mit Teil-Urteil vom 26.02.2021 verurteilt, dem Kläger Auskunft über den Nachlass sowie den Ergänzungsnachlass des Erblassers durch Vorlage eines schriftlichen Bestandsverzeichnisses zu erteilen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ein Anspruch gem. § 2314 Abs. 1 S. 1 BGB bestehe aus übergeleitetem Recht, §§ 141 SGB IX, 93 SGB XII. B A sei pflichtteilsberechtigt, § 2303 BGB. Der am 11.06.2019 geschlossene Pflichtteilsverzichtsvertrag sei kein Verzicht gem. § 2346 Abs. 2 BGB, sondern ein Erlassvertrag i.S.d. § 397 BGB. Auf diesen seien zwar die Wertungen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu übertragen, wonach Pflichtteilsverzichtsverträge nicht generell sittenwidrig seien. Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls sei die Kammer hier aber davon überzeugt, dass alleinige Motivation des Vertragsschlusses gewesen sei, den Zugriff des Klägers auf bereits entstandene, werthaltige Ansprüche des Leistungsempfängers zu verhindern, um so zu Lasten der Allgemeinheit die Bedürftigkeit des Leistungsbeziehers aufrecht zu erhalten. Aufgrund dessen sei der hier erklärte Verzicht sittenwidrig und der Vertrag damit nichtig, § 138 Abs. 1 BGB. Auf die weitere Frage, ob der Leistungsbezieher bei Beurkundung des Erlassvertrages geschäftsunfähig gewesen sei, komme es deshalb nicht an.
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Gegen dieses Urteil hat die Beklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der sie ihren erstinstanzlichen Antrag auf Klageabweisung weiterverfolgt. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, insbesondere des Urteils vom 19.01.2011 (AZ: IV ZR 7/10) hält sie das ergangene Urteil für fehlerhaft. Sie trägt vor, es sei unerheblich, ob der Pflichtteilsberechtigte vor oder nach dem Erbfall verzichte. Auch komme es nicht auf die Motivation der Beteiligten an. Selbst die Motivation, eine Überleitung von Pflichtteilsansprüchen auf den Sozialhilfeträger zu verhindern, sei für eine Sittenwidrigkeit nicht ausreichend.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Paderborn vom 26.02.2021 abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil, insbesondere die vorgenommenen Wertungen zur Sittenwidrigkeit des vereinbarten Pflichtteilsverzichts. Er meint, der Vertrag sei als Pflichtteilserlassvertrag anders zu beurteilen als ein mit dem Erblasser geschlossener Verzicht auf den Pflichtteil. Er trägt vor, Ziel des Vertrages sei es gewesen, eine Durchsetzung des Pflichtteilsanspruchs durch den Kläger zu verhindern.
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Die Betreuungsakte des Amtsgerichts Detmold (23 XVII 69/18) war beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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II.
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Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Die Stufenklage war daher insgesamt abzuweisen.
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Dem Kläger stehen die mit Bescheid vom 04.02.2020 gem. §§ 141 SGB IX, 93 SGB XII übergeleiteten Ansprüche nicht zu, weil der Leistungsempfänger, B A, rechtswirksam auf etwaige Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach seinem Vater, dem Erblasser K A, verzichtet hat.
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Der am 11.06.2019 zwischen ihm als Pflichtteilsberechtigten und der Beklagten als Alleinerbin abgeschlossene Pflichtteilsverzichtsvertrag ist rechtsgültig.
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Bei dieser Vereinbarung handelt es sich ‒ wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat - nicht um einen Pflichtteilsverzicht i.S.d. § 2346 Abs. 2 BGB, bei dem der Pflichtteilsberechtigte vor dem Erbfall gegenüber dem Erblasser auf sein Pflichtteilsrecht verzichtet und damit bereits die Entstehung eines solchen Anspruch ausschließt. Vielmehr ist der Vertrag als Erlassvertrag gem. § 397 BGB zu qualifizieren. Durch den Vertrag hat der Pflichtteilsberechtigte auf den mit dem Erbfall gem. § 2317 BGB entstandenen Anspruch auf seinen Pflichtteil- bzw. Pflichtteilsergänzung gegenüber der Beklagten als Alleinerbin ihres Ehemannes verzichtet, die den Verzicht angenommen hat.
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Dieser nach dem Erbfall vereinbarte Pflichtteilsverzicht verstößt nicht gegen die guten Sitten und ist deshalb nicht gem. § 138 Abs. 1 BGB unwirksam.
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Nach Auffassung des Senats sind die Grundsätze, die der BGH in seiner Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Pflichtteilsverzichtsverträgen gem. § 2346 Abs. 2 BGB aufgestellt hat (vgl. BGH, Urteil vom 19.01.2011, - IV ZR 7/10 - Juris), auf den vorliegenden Erlass von Pflichtteilsansprüchen durch den pflichtteilsberechtigten Leistungsempfänger ohne weiteres übertragbar.
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Nach dem Grundsatz der Privatautonomie sind Rechtsgeschäfte, die das bürgerliche Recht vorsieht, wirksam, solange sie nicht gegen entgegenstehende Gesetze verstoßen (§ 134 BGB). Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen kann ihnen gleichwohl die Wirksamkeit versagt werden, wenn dies aufgrund übergeordneter Wertungen, etwa infolge objektiver Wertentscheidungen der Grundrechte, die über Generalklauseln wie § 138 Abs. 1 BGB in das Zivilrecht hineinwirken, erforderlich ist. In solchen Fällen muss jedoch stets die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts, nicht etwa dessen Rechtfertigung konkret begründet werden. Grundsätzlich können demzufolge alle vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente einschließlich ihrer Kombinationsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Daher ist auch in Fällen etwaiger nachteiliger Wirkungen zu Lasten der Allgemeinheit nicht die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts durch besondere Gründe im Einzelfall zu rechtfertigen, sondern positiv festzustellen und zu begründen, gegen welche übergeordneten Wertungen das Rechtsgeschäft verstößt und weshalb seine Wirksamkeit nicht hingenommen werden kann (BGH, a.a.O.).
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Das Sozialhilferecht ist zwar von dem Grundsatz durchzogen, dass jeder nur insoweit staatliche Hilfe beanspruchen kann, als er die betreffenden Aufwendungen (insbesondere den Lebensunterhalt) nicht durch den Einsatz eigener Einkünfte und eigenen Vermögens bestreiten kann, er somit bedürftig ist (Nachranggrundsatz, Subsidiaritätsprinzip). Zivilrechtliche Gestaltungen können mit diesem Grundsatz in Konflikt geraten, wenn sie darauf gerichtet sind, die Bedürftigkeit einer Person gezielt herbeizuführen (BGH, a.a.O.). Daraus folgt aber nicht schon deren Sittenwidrigkeit.
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Wie der BGH (Urteil vom 19.01.2011, - IV ZR 7/10 ‒ juris) jedoch überzeugend dargelegt hat, ist der Nachranggrundsatz, auf den sich der Kläger vorliegend maßgeblich beruft, schon im Sozialhilferecht selbst in erheblichem Maße durchbrochen (BGH, Urteil vom 21. März 1990 ‒ IV ZR 169/89 ‒, BGHZ 111, 36-44), vom Gesetzgeber für die unterschiedlichen Leistungsarten differenziert ausgestaltet und nicht überall beibehalten worden, weshalb dem Subsidiaritätsprinzip als Grundsatz die Prägekraft weitgehend genommen worden ist (BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 ‒ IV ZR 231/92 ‒, BGHZ 123, 368-379). Der Gesetzgeber respektiert bei allen Leistungsarten Schonvermögen des Leistungsempfängers, seines Ehegatten und seiner Eltern. Bei Leistungen für behinderte Menschen ist der Einsatz eigenen Vermögens zudem auf das Zumutbare begrenzt und vor allem die Überleitung von Unterhaltsansprüchen - insbesondere gegenüber den Eltern des Behinderten - nur in sehr beschränktem Umfang möglich (§§ 19 Abs. 3, 92, 94 Abs. 2 SGB XII). Nach Auffassung des BGH, der sich der Senat im vorliegenden Fall anschließt, ist zudem das dem Nachranggrundsatz gegenläufige Prinzip des Familienlastenausgleichs zu beachten, nach welchem die mit der Versorgung, Erziehung und Betreuung von Kindern verbundenen wirtschaftlichen Lasten, die im Falle behinderter Kinder besonders groß ausfallen, zu einem gewissen Teil endgültig von der Allgemeinheit getragen werden sollen (BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 ‒ IV ZR 231/92 ‒, BGHZ 123, 368-379). Insbesondere bei Hilfebeziehern mit Behinderungen lässt sich somit keine hinreichend konsequente Durchführung des Nachrangs der öffentlichen Hilfe entnehmen, die für den hier in Rede stehenden Pflichtteilserlass die Einschränkung der Privatautonomie über § 138 Abs. 1 BGB rechtfertigen würde.
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Die Sittenwidrigkeit eines nachträglichen Erlasses kann auch nicht damit begründet werden, dass der Leistungsempfänger selbst tätig wird, in dem er durch den Abschluss des Erlassvertrages mit der Alleinerbin auf seine Ansprüche verzichtet. Nach Auffassung des Senats sind die vom BGH herangezogenen Wertungen für das erbrechtlich relevante Handeln Behinderter auf den vorliegenden Fall uneingeschränkt zu übertragen. Auch hier gilt, dass die Entscheidung darüber, ob jemand die Erbschaft bzw. den Pflichtteil erhalten will, zunächst durch die Privatautonomie gedeckt wird. Grundsätzlich ist jeder frei in seiner Entscheidung, ob er Erbe eines anderen werden oder auf andere Art etwas aus dessen Nachlass bekommen will. Es gibt keine Pflicht zu erben oder sonst etwas aus einem Nachlass anzunehmen. Deshalb muss nach Auffassung des BGH (Urteil vom 19.01.2011, - IV ZR 7/10 ‒ Juris) den Betreffenden wenigstens das Recht zur Ausschlagung zustehen, um sich gegen den vom Gesetz vorgesehenen Von-selbst-Erwerb (§§ 1922, 1942 BGB) wehren zu können. Insoweit kann für einen erbrechtlichen Erwerb von Vermächtnis- oder Pflichtteilsansprüchen im Grundsatz nichts anders gelten als für die Erbenstellung selbst. In diesem Sinn steht Pflichtteilsberechtigten für einen Verzicht nicht nur die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, sondern auch der Grundgedanke der Erbfreiheit zur Seite (BGH, a.a.O.). Das muss auch für den Fall gelten, dass nicht schon zu Lebzeiten des Erblassers vertraglich ein Pflichtteilsverzicht gem. § 2346 BGB vereinbart worden ist, sondern nachträglich nach Entstehen des Pflichtteilsanspruchs auf diesen gegenüber dem Erben verzichtet wird. Denn auch bei dieser Fallkonstellation muss es dem Pflichtteilsberechtigten zugebilligt werden, seine Ansprüche nicht geltend zu machen. Dieses Recht darf der Kläger dem Berechtigten nicht dadurch nehmen, dass er etwaige Pflichtteilsansprüche auf sich überleitet.
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Weiterhin stellt der BGH darauf ab, dass das Handeln des behinderten Pflichtteilsberechtigten nur eine Situation herbeiführe, die in vergleichbarer Weise durch eine testamentarische Gestaltung der Eltern hätte erreicht werden könne. Hätten diese sich nicht gegenseitig als Alleinerben eingesetzt, sondern dem behinderten Nachkommen bereits beim ersten Erbfall eine Miterbenstellung eingeräumt, hätte der Sozialhilfeträger nur bei einer Ausschlagung der Erbschaft auf den Pflichtteilsanspruch zugreifen können (BGH a.a.O.). Der Sozialhilfeträger ist jedoch nicht befugt, das Ausschlagungsrecht auf sich überzuleiten und auszuüben, um den Pflichtteilsanspruch nach § 2306 Abs. 1 BGB geltend zu machen (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 16. Juli 2009 ‒ I-15 Wx 85/09 ‒, juris; Palandt-Weidlich, 80. Aufl., § 1937 BGB Rz.16). Auch dieser Gesichtspunkt ist auf den vorliegenden nachträglichen Erlass ohne weiteres zu übertragen.
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Zudem gilt nach Auffassung des Senats auch im vorliegenden Fall des Erlasses bereits entstandener Pflichtteilsansprüche, dass anzuerkennen ist, dass Behinderte mit dem Pflichtteilsverzicht typischerweise einer Erwartungshaltung der Eltern nachkommen, die sich gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt haben und sicherstellen wollen, dass die Nachkommen nicht bereits beim Tode des Erstversterbenden Nachlasswerte für sich beanspruchen. Verzichtet ein nicht behinderter Abkömmling ohne Sozialleistungsbezug in dieser Situation auf seinen Pflichtteil, ist dies sittlich anzuerkennen. Widersetzt er sich - trotz Berücksichtigung im Schlusserbfall - einem solchen Wunsch der Eltern, sieht er sich dem Vorwurf des Undanks und der Illoyalität gegenüber der Familie ausgesetzt. Verzichtet ein Behinderter mit Rücksicht auf die gegenläufigen Interessen des Sozialhilfeträgers nicht auf den Pflichtteilsanspruch, setzt er sich zugleich in einen Gegensatz zu den Wünschen und Vorstellungen seiner Familie. Dasselbe Verhalten, das bei einem nicht behinderten Nachkommen als sittlich billigenswert gälte, stellte sich mithin bei einem behinderten Kind als sittenwidrig dar (BGH, a.a.O.).
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Im vorliegenden Fall ist schließlich zu beachten, dass mit dem Erlass der Pflichtteilsansprüche durch den Leistungsempfänger zwar einerseits dessen Bedürftigkeit aufrechterhalten werden sollte, andererseits aber auch die finanzielle Versorgung der Beklagten nach dem Tod ihres Ehemannes sichergestellt werden sollte. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der beim Tod des Erblassers gegebenen Verhältnisse nicht nur nachvollziehbar, sondern auch in vollem Umfang zu billigen. Die Beklagte war bei Abschluss des Verzichtsvertrages 85 Jahre alt und aus gesundheitlichen Gründen im Frühjahr / Sommer 2018 in eine ambulant betreute Wohneinrichtung nach Z gezogen. Im Hinblick auf eine absehbare Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes ist eine stationäre Pflege geplant. Angesichts der offensichtlichen, zunehmenden Bedürftigkeit der Beklagten ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund ihre Leistungsfähigkeit zugunsten des ebenfalls bedürftigen Sohnes durch die Erfüllung von Pflichtteilsansprüchen vermindert werden sollte. Jedenfalls kann der von den Beteiligten gewählte Weg des Abschlusses eines Erlassvertrages vor diesem Hintergrund nicht als sittenwidrig zu missbilligen sein.
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Es lässt sich letztlich auch nicht feststellen, dass der notarielle Erlassvertrag gem. § 105 Abs. 1 BGB unwirksam ist.
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Dafür fehlt es - auch in der Berufungsinstanz ‒ bereits an einem hinreichend substantiierten Vortrag des Klägers zur Geschäftsunfähigkeit des Leistungsempfängers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 11.06.2019. Allein die Anordnung einer Betreuung indiziert die Geschäftsunfähigkeit nicht, weil die Einrichtung einer Betreuung nicht die Geschäftsunfähigkeit des Betreuten voraussetzt (Palandt-Götz, BGB, 80. Auf., Einf v. § 1896 BGB Rz. 13). Der Beschluss des Amtsgerichts Detmold vom 23.04.2018, mit dem die Betreuung des Leistungsempfängers angeordnet worden ist, enthält auch keinen Einwilligungsvorbehalt, so dass es auch nicht der Mitwirkung der Betreuerin bei Beurkundung des Erlassvertrages bedurfte. Schließlich hat auch das Betreuungsgericht nach Kenntnisnahme von dem Verzichtsvertrag keine Veranlassung für die Einholung einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung gesehen (vgl. AG Detmold, 23 XVII 69/18, Bl. 35, 76).
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Unabhängig davon lassen sich auch dem Inhalt der beigezogenen Betreuungsakte keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Leistungsempfänger geschäftsunfähig ist. Aus den in der Akte enthaltenen Stellungnahmen geht hervor, dass es dem Leistungsempfänger trotz seiner Behinderung gelungen ist, den Hauptschulabschluss zu erlangen. Nach einem in dem Betreuungsverfahren eingeholten Fachgutachten des Neurologen und Psychiaters E vom 15.03.2018 erreichte der Leistungsempfänger in einem Mini-Mental-Test 24 von 30 möglichen Punkten. Diese Leistung liegt zwar im Grenzbereich, deutet aber noch nicht auf eine Geschäftsunfähigkeit hin, wie dem Senat aus zahlreichen erbrechtlichen Rechtsstreitigkeiten, in denen Sachverständige zur Beurteilung der Testier- und Geschäftsfähigkeit hinzugezogen worden sind, bekannt ist. Auf eine Begutachtung der Geschäftsfähigkeit des Leistungsempfängers durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, die ohnehin von dem Verzicht des Sohnes der Beklagten auf sein Zeugnisverweigerungsrecht abhängig wäre, ist im Senatstermin angesichts dieser Sach- und Rechtslage durch die Klägervertreterin verzichtet worden.
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III.
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Die Entscheidung über die Kostenverteilung beruht auf § 91 I ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 II 1 ZPO.