04.12.2000 · IWW-Abrufnummer 001440
Bundesfinanzhof: Urteil vom 18.10.2000 – II R 50/98
BUNDESFINANZHOF
Die Aufforderung zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung führt auch dann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zu einem von Absatz 1 der Vorschrift abweichenden Beginn der Festsetzungsfrist, wenn sie zwar nach Ablauf des dritten auf das Kalenderjahr der Steuerentstehung folgenden Kalenderjahres, aber noch innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist ergeht. Die Anlaufhemmung ist auch für diesen Fall auf drei Jahre begrenzt.
AO 1977 § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
ErbStG § 31 Abs. 1
Urteil vom 18. Oktober 2000 - II R 50/98 -
Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (DStRE 1999, 197)
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erwarb durch notariell beurkundeten Vertrag vom ... September 1992 von ihrem Sohn Thomas (S) dessen Anteil am Nachlass seines im ... Juli 1992 verstorbenen Vaters (V), der ihn zusammen mit seinem Bruder (B) als Erben zu gleichen Teilen eingesetzt hatte. Als Gegenleistung für die Übertragung des Erbanteils übertrug die Klägerin einen 1/4 Miteigentumsanteil an einem Grundstück auf S. Sie verpflichtete sich ferner, S von jeglicher Inanspruchnahme aufgrund von Nachlassverbindlichkeiten freizustellen. Ergänzend heißt es in § 2 Ziff. 1 des Vertrags: "Im übrigen erfolgt die Übertragung der Erbteile im Wege der Schenkung." Der Erbteilsübertragung ging ein Abschn. I voraus, in dem die Klägerin erklärte, dass sie ein von V zu ihren Gunsten ausgesetztes Nießbrauchsvermächtnis an den Erbanteilen von S und B nicht annehme.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) forderte die Klägerin am 3. April 1996 auf, eine Schenkungsteuererklärung über die Zuwendung seitens des S abzugeben. Die Erklärung ging am 24. Oktober 1996 beim FA ein. Durch Bescheid vom 5. März 1997 setzte das FA gegen die Klägerin wegen dieses Erwerbs Schenkungsteuer in Höhe von ... DM fest. Es ging von einer gemischten Schenkung von S an die Klägerin aus. Als Wert der Bereicherung ermittelte es einen Betrag von 83 165 DM.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Es könne --so das FG-- offen bleiben, ob die Übertragung des Erbanteils von S auf die Klägerin die Voraussetzungen einer gemischten Schenkung, d.h. einer freigebigen Zuwendung unter Lebenden erfülle (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes --ErbStG--) oder ob es sich im Hinblick auf die Ausschlagung des Nießbrauchsvermächtnisses durch die Klägerin bei der Übertragung des Erbanteils um eine Abfindung i.S. von § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG gehandelt habe. Jedenfalls habe der angefochtene Bescheid wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr ergehen dürfen. Der Beginn der vierjährigen Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 1992 sei insbesondere nicht durch § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) hinausgeschoben worden. Einer Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 stehe entgegen, dass das FA die Klägerin nicht innerhalb des für den Eintritt der Anlaufhemmung längstens vorgesehenen Zeitraums von drei Jahren, sondern erst im darauffolgenden Jahr zur Abgabe der Steuererklärung aufgefordert habe. Das Urteil des FG ist in Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (DStRE) 1999, 197 veröffentlicht.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt, das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 10. Juni 1998 9 K 147/97 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der angefochtene Bescheid ist entgegen der Rechtsauffassung des FG vor Eintritt der Festsetzungsverjährung ergangen, weil eine Aufforderung zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung auch dann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 einen von Abs. 1 der Vorschrift abweichenden Beginn der Festsetzungsfrist bewirkt, wenn sie zwar nach Ablauf des dritten auf das Kalenderjahr der Steuerentstehung folgenden Kalenderjahres, aber noch innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist ergeht.
1. Nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I, 2310) beginnt die Festsetzungsfrist --soweit hier maßgebend-- dann, wenn eine Steuererklärung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erklärung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten auf die Steuerentstehung folgenden Kalenderjahres. Im Streitfall ist bereits diese Fassung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 anzuwenden, weil sie nach Art. 97 § 10 Abs. 5 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) für alle bei In-Kraft-Treten des StMBG noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen gilt.
Im Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer ergibt sich die Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht unmittelbar aufgrund gesetzlicher Vorschrift. Sie hängt vielmehr davon ab, dass das FA den Steuerpflichtigen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG zur Abgabe einer Erklärung auffordert. Eine Frist für diese Aufforderung ist weder in dieser Vorschrift noch in § 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 oder in § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 vorgesehen. Aus dem in § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 für die Anlaufhemmung vorgesehenen Zeitraum von längstens drei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres der Steuerentstehung lässt sich keine Frist für die Aufforderung ableiten. Die Anlaufhemmung von längstens drei Jahren stellt die Rechtsfolge des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 dar, deren Eintritt sich bei bestehender Erklärungs- oder Anzeigepflicht danach richtet, ob bzw. wann der Steuerpflichtige die Steuererklärung abgibt oder die Anzeige erstattet. Eine Frist für die dem Tatbestand der Vorschrift zuzurechnende Aufforderung zur Erklärungsabgabe, deren Voraussetzungen sich aus § 31 Abs. 1 ErbStG ergeben, kann daraus nicht abgeleitet werden. Eine zeitliche Grenze für die Aufforderung als das die Erklärungspflicht konkretisierende (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 5. Mai 1999 II R 96/97, BFH/NV 1999, 1341, m.w.N.) und damit den Beginn der Festsetzungsfrist beeinflussende Ereignis ergibt sich lediglich aus § 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 AO 1977. Ergeht die Aufforderung erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist, so kann sie --weil der Steueranspruch bereits durch Verjährung erloschen ist (§ 47 AO 1977)-- keine anlaufhemmende Wirkung mehr entfalten (BFH-Beschluss vom 9. Juni 1999 II B 101/98, BFHE 188, 440, BStBl II 1999, 529).
Der Ablauf der Festsetzungsfrist wird bei dieser Auslegung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 nicht weiter hinausgeschoben als bei einer sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebenden Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung. Auch bei einer Aufforderung zur Abgabe einer Steuererklärung, die erst im letzten Jahr der Festsetzungsfrist ergeht, beträgt die Anlaufhemmung nicht mehr als drei Jahre, so dass sie in den Fällen des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 --vorbehaltlich anderweitiger An- oder Ablaufhemmung-- spätestens nach sieben Jahren endet. Die Anlaufhemmung tritt damit zwar zu einem Zeitpunkt ein, in dem die Festsetzungsfrist bereits läuft. Dies ist jedoch stets der Fall, wenn die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung der Konkretisierung durch eine Aufforderung des FA bedarf, und damit nicht nur bei einer Aufforderung, die erst innerhalb des vierten Jahres der Festsetzungsfrist ergeht.
Diese Auslegung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 bedeutet keine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den Steuerpflichtigen, die unmittelbar kraft Gesetzes zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet sind und widerspricht damit nicht dem mit der Änderung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 durch das StMBG verfolgten Ziel des Gesetzgebers, beide Gruppen von Steuerpflichtigen gleich zu stellen (vgl. BTDrucks 12/5630, 99). Denn ein Steuerpflichtiger, dessen Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung von einer entsprechenden Aufforderung des FA abhängt, kann einem unmittelbar kraft Gesetzes zu deren Abgabe verpflichteten Steuerpflichtigen erst mit der Bekanntgabe der Aufforderung gleich gestellt werden. Auch Gründe des Vertrauensschutzes stehen der Anwendung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 in Fällen wie dem Streitfall nicht entgegen. Gibt der Steuerpflichtige nicht von sich aus eine Erbschaftsteuer- bzw. Schenkungsteuererklärung ab, muss er damit rechnen, dass das FA sie bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist anfordert. Da das FG von anderen Erwägungen ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat --von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht-- offen gelassen, ob es sich bei dem Erwerb des Erbanteils des S durch die Klägerin um eine gemischte Schenkung (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) handelt oder nicht, und darüber hinaus im Hinblick auf die Ausschlagung des Nießbrauchsvermächtnisses durch die Klägerin auch die Möglichkeit eines Erwerbs von Todes wegen gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG angedeutet. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG sind jedoch durch die Übertragung des Erbanteils von S auf die Klägerin und die Ausschlagung des Nießbrauchsvermächtnisses durch die Klägerin nicht erfüllt, weil ein Nießbrauch der Klägerin an dem Erbanteil des S mit der Übertragung des Erbanteils ohnehin gemäß § 1063 Abs. 1 i.V.m. den §§ 1068, 1072 des Bürgerlichen Gesetzbuchs erloschen wäre. Ob und ggf. inwieweit in der Übertragung des Erbanteils eine gemischte Schenkung zu sehen ist, wird das FG bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung der Sache anhand der Werte des Erbanteils einerseits und des Miteigentumsanteils an dem Grundstück andererseits zu prüfen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Erbanteil nur mit dem Wert angesetzt werden darf, der sich nach Abzug der Belastung mit dem Vermächtnis ergeben hätte. Die anteilig auf den Erbanteil entfallenden Verbindlichkeiten, die beim Tod des V bereits bestanden, mindern ebenfalls den Wert des Erbanteils; ihre Übernahme durch die Klägerin stellt --anders als die Übertragung ihres Miteigentums an dem Grundstück auf S-- keine Gegenleistung für den Erwerb des Erbanteils dar.