10.07.2012 · IWW-Abrufnummer 122091
Bundesgerichtshof: Urteil vom 01.06.2012 – V ZR 225/11
§ 16 Abs. 3 WEG begründet nicht die Befugnis, einen Wohnungseigentümer, der nach einer bestehenden Vereinbarung von der Tragung bestimmter Kosten oder der Kostentragungspflicht insgesamt befreit ist, durch Beschluss erstmals an den Kosten zu beteiligen.
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2012 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Czub und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision gegen das Urteil der Zivilkammer 85 des Landgerichts Berlin vom 15. April 2011 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
1
Die Parteien sind die Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Das vierstöckige Gebäude hat einen unausgebauten Dachraum, der die Teileigentumseinheit 22 bildet. Nach der Teilungserklärung vom 5. Juni 1997 ist der jeweilige Eigentümer dieser Einheit befugt, das Dachgeschoss zu Wohnzwecken auszubauen und in Wohnungseigentum umzuwandeln, wobei er das Wohngeld und die sonstigen Kosten für die noch zu errichtenden Wohnungen erst ab dem in § 21 Ziff. 5 der Teilungserklärung genannten Zeitpunkt zu tragen hat. Dort heißt es, dass für die Zeit bis zum Beginn der Bauarbeiten die Dachräume bezüglich der gemeinschaftlichen Lasten und Kosten wie Gemeinschaftseigentum behandelt werden und der jeweilige Eigentümer erst nach Fertigstellung der Bauarbeiten oder nach Wohnungsbezug an den gemeinschaftlichen Lasten und Kosten im Verhältnis der übrigen Wohn-/Nutzflächen beteiligt wird.
2
In der Eigentümerversammlung vom 16. Juli 2007 beschlossen die Wohnungseigentümer unter TOP 3, dass der jeweilige Eigentümer der Teileigentumseinheit 22 künftig an den durch Wirtschaftsplan festgesetzten verbrauchsunabhängigen Kosten (für 2007: Gebäudeversicherung, Gebäudehaftpflichtversicherung, Rechtskosten, laufende Instandhaltungskosten, Kontoführungsgebühren, Instandhaltungsrücklage, sonstige Kosten) seinem Miteigentumsanteil entsprechend beteiligt wird. In der Folgezeit zahlte der jeweilige Eigentümer der Einheit 22 der Beschlussfassung entsprechend das Hausgeld.
3
Seit dem 18. Februar 2008 ist die Klägerin Eigentümerin der Teileigentumseinheit 22; sie beabsichtigte deren Ausbau bis Ende 2009. In der Eigentümerversammlung vom 6. Juni 2008 wurde mit ihrer Zustimmung unter TOP 9 der Beschluss gefasst, dass die Zahlungspflicht für das monatliche Wohngeld für die Teileigentumseinheit 22 während der Zeit vom 1. Juni 2008 bis zum 31. Dezember 2009 ausgesetzt wird und dass der Eigentümer dieser Einheit bzw. seine Nachfolger anerkennen, danach wieder zur Zahlung des Wohngeldes gemäß Beschluss der Eigentümerversammlung vom 16. Juli 2007 verpflichtet zu sein. Zu einem Ausbau der Wohnungen kam es nicht.
4
Auf Antrag der Klägerin vom Februar 2010 hat das Amtsgericht die Nichtigkeit der am 16. Juli 2007 zu TOP 3 und am 6. Juni 2008 zu TOP 9 gefassten Beschlüsse festgestellt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten ist vor dem Landgericht ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Revision wollen die Beklagten die Klageabweisung erreichen. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
I.
5
Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die angegriffenen Beschlüsse wegen absoluter Beschlussunzuständigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft nichtig. Die in der Teilungserklärung enthaltene Regelung über die Hausgeldbefreiung der Einheit 22 könne nicht durch Beschluss, sondern nur im Wege einer Vereinbarung aller Wohnungseigentümer ge ändert werden. Eine Beschlusskompetenz folge nicht aus § 16 Abs. 3 WEG. Diese Regelung ermögliche nur im Rahmen einer bereits bestehenden Kostentragungsverpflichtung die Wahl eines anderen Verteilungsmaßstabes, nicht aber die Begründung einer Kostenbeteiligungspflicht überhaupt. § 16 Abs. 4 WEG greife ebenfalls nicht ein, da es hier nicht um die Kosten für eine Instandhaltung oder Instandsetzung in einem Einzelfall gehe. Schließlich führe auch der Umstand, dass die jeweiligen Eigentümer der Einheit 22 zeitweise das Wohngeld gezahlt hätten, nicht zu einer Abänderung der in der Teilungserklärung enthaltenen Kostenbefreiung.
II.
6
Dies hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
7
1. Ohne Erfolg rügt die Revision, die Klage sei unzulässig.
8
a) Die Klägerin hat ihr Klagerecht nicht wie die Beklagten meinen gemäß § 242 BGB verwirkt, weil sie die Klage erst eineinhalb bzw. zweieinhalb Jahre nach den beanstandeten Beschlussfassungen erhoben hat. Zwar kann die Befugnis zur Anrufung der Gerichte im Einzelfall der Verwirkung unterliegen (BVerfGE 32, 305, 308 ff.). Der bloße Zeitablauf genügt hierfür jedoch nicht. Hinzutreten müssen besondere Umstände, die eine Inanspruchnahme des Gerichtsschutzes als treuwidrig erscheinen lassen (vgl. Dütz, NJW 1972, 1025, 1026). Hierfür liegen keine Anhaltspunkte vor. Soweit die Beklagten die erforderlichen besonderen Umstände darin sehen, dass die jeweiligen Eigentümer der betroffenen Teileigentumseinheit über Monate hinweg der Beschlussfassung entsprechend Hausgeld entrichtet haben, wodurch etwaige Mängel der Beschlüsse geheilt worden seien, verkennen sie, dass dieser Einwand die Berechtigung des materiellen Klagebegehrens betrifft, nicht aber die Frage der Verwirkung des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz.
9
b) Ein Rechtsschutzinteresse für die erhobene Nichtigkeitsfeststellungsklage kann der Klägerin nicht deswegen abgesprochen werden, weil sie bei der Beschlussfassung im Jahr 2008 zugestimmt hat. Ein nichtiger Beschluss entfaltet zwischen den Wohnungseigentümern keine Rechtswirkungen und kann nicht in Bestandskraft erwachsen. Die Nichtigkeit tritt von Anfang an ein, nicht erst durch Geltendmachung in einem gerichtlichen Verfahren; eine gerichtliche Entscheidung hat nur deklaratorische Bedeutung (Senat, Beschluss vom 18. Mai 1989 V ZB 4/89, BGHZ 107, 168, 270). Besteht Streit über die Wirksamkeit eines Eigentümerbeschlusses, steht das Recht zur Erhebung einer Nichtigkeitsfeststellungsklage daher jedem Wohnungseigentümer zu. Für die Frage des Rechtsschutzinteresses ist es ohne Bedeutung, ob er für oder gegen den Beschluss gestimmt hat.
10
c) Schließlich stellt sich die Klage auch nicht deswegen als rechtsmissbräuchlich dar, weil sich die Klägerin anlässlich der Beschlussfassung im Jahr 2008 verpflichtet hatte, ihre vor dem Amtsgericht Tiergarten erhobene Klage auf Rückzahlung des für die Teileigentumseinheit 22 gezahlten Wohngeldes für erledigt zu erklären. Dies mag für eine erneute Klage auf Rückzahlung von bereits geleistetem Wohngeld von Bedeutung sein. Das Recht der Klägerin, die Gültigkeit der Beschlüsse über die zeitliche Vorverlegung der Hausgeldzahlungspflicht gerichtlich überprüfen zu lassen, wird hiervon jedoch nicht berührt.
11
2. Zu Recht nimmt das Berufungsgericht an, dass der Beschluss vom 16. Juli 2007 von der Beschlusskompetenz der Wohnungseigentümer gemäß § 16 Abs. 3 WEG nicht gedeckt und daher nichtig ist.
12
a) § 16 Abs. 3 WEG eröffnet den Wohnungseigentümern bei den in der Vorschrift näher bezeichneten Betriebs- und Verwaltungskosten die Möglichkeit, auch einen im Wege der Vereinbarung festgelegten Umlageschlüssel durch Mehrheitsbeschluss zu ändern (Senat, Urteil vom 9. Juli 2010 V ZR 202/09, NJW 2010, 2654; Urteil vom 16. Juli 2010 V ZR 221/09, NJW 2010, 3298). Die Beschlusskompetenz bezieht sich - anders als das Berufungsgericht meint - nicht lediglich auf solche Kosten, die nach Verbrauch oder Verursachung erfasst werden können. Vielmehr werden auch verbrauchs- und verursachungsunabhängige Kosten erfasst (Becker in Bärmann, WEG, 11. Aufl., § 16 Rn. 91; Jennißen in Jennißen, WEG, 2. Aufl., § 16 Rn. 35, Riecke/Schmidt/Elzer, WEG, 3. Aufl. § 16 Rn. 74).
13
Allerdings räumt § 16 Abs. 3 WEG nur die Kompetenz ein, im Rahmen einer dem Grunde nach bereits bestehenden Kostentragungsverpflichtung einen anderen Verteilungsmaßstab zu wählen. Die Bestimmung begründet hingegen nicht die Befugnis, einen Wohnungseigentümer, der nach einer bestehenden Vereinbarung von der Tragung bestimmter Kosten oder der Kostentragungspflicht insgesamt befreit ist, durch Beschluss erstmals an den Kosten zu beteiligen (AG Bremen, NJW-RR 2010, 811, 812; Lemke/Müller, Immobilienrecht, § 16 WEG Rn. 9; Drasdo, NJW-Spezial 2010, 289; a.A. Elzer, NJW 2010, 3473, 3474; wohl auch Becker in Bärmann, WEG, 11. Aufl., § 16 Rn. 98). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm. Danach können die Wohnungseigentümer "abweichend von Absatz 2" durch Stimmenmehrheit beschließen, ob sie eine verursachungs- oder verbrauchsabhängige Abrechnung einführen oder nach einem "anderen Maßstab" abrechnen wollen. Mit der Bezugnahme auf § 16 Abs. 2 WEG, wonach die Wohnungseigentümer die Lasten und Kosten nach dem Verhältnis ihrer Miteigentumsanteile tragen, knüpft die Norm an eine dem Grunde nach bestehende Kostentragungspflicht an und begründet lediglich die Möglichkeit zur Veränderung des Kostenverteilungsschlüssels. Die erstmalige Begründung einer Kostentragungspflicht unter Aufhebung einer vereinbarten Kostenbefreiung stellt jedoch keine Veränderung des Kostenverteilungsmaßstabes dar, sondern eine Erweiterung des Kreises der Kostenschuldner und wird von der Regelung nicht erfasst. Dies wird auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt, wonach § 16 Abs. 3 WEG eine Beschlusskompetenz für die Verteilung der dort genannten Kosten nach Verbrauch, Verursachung oder einem sonst geeigneten Maßstab statt wie bisher nach Miteigentumsanteilen normiert (BT-Drucks. 16/887, S.11).
14
b) Gemessen daran kann die von der Eigentümergemeinschaft beschlossene Beteiligung der Teileigentumseinheit 22 an den verbrauchsunabhängigen Kosten keinen Bestand haben. Sie ist von der Beschlusskompetenz des § 16 Abs. 3 WEG nicht gedeckt, da Gegenstand des Beschlusses nicht eine Änderung des Verteilungsschlüssels ist - dieser blieb unverändert -, sondern die Aufhebung der in der Teilungserklärung vereinbarten aufschiebend bedingten Kostenbefreiung für den Eigentümer der Teileigentumseinheit 22. Dies hat zur Folge, dass der Beschluss wegen absoluter Beschlussunzuständigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft nichtig ist (vgl. Senat, Beschluss vom 20. September 2000 V ZB 58/99, BGHZ 145, 158, 168).
15
c) Entgegen der Auffassung der Revision ist die Nichtigkeit des Beschlusses nicht dadurch geheilt worden, dass die jeweiligen Eigentümer der betroffenen Teileigentumseinheit über mehrere Monate der Beschlussfassung entsprechend Hausgeld entrichtet haben. Es kann dahin gestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen ein wegen absoluter Beschlussunzuständigkeit nichtiger Beschluss geheilt werden kann. Hierfür genügt jedenfalls nicht die bloße Umsetzung eines Beschlusses; sie vermag nicht nachträglich eine nach der Teilungserklärung nicht bestehende Beschlusskompetenz zu schaffen.
16
3. Ebenso ist der Beschluss vom 6. Juni 2008, in welchem die Wohnungseigentümer die beschlossene Hausgeldzahlungspflicht des Eigentümers der Teileigentumseinheit 22 nochmals bestätigten, wegen absoluter Beschlussunzuständigkeit nichtig.
17
4. Ob die Beklagten gemäß § 10 Abs. 2 Satz 3 WEG die Anpassung der Teilungserklärung verlangen können, ist vom Senat nicht zu entscheiden, da dies nicht Gegenstand des Verfahrens ist.
III.
18
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Krüger
Stresemann
Czub
Brückner
Weinland
Von Rechts wegen
Verkündet am: 1. Juni 2012