· Fachbeitrag · Kindergeld
Differenzkindergeld bei Bezug in mehreren EU-Staaten
von RA Prof. Dr. Ralf Jahn, Würzburg
Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, können auch dann in Deutschland kindergeldberechtigt sein, wenn sie weiterhin in das Sozialsystem ihres Heimatlandes eingegliedert bleiben und dort Kindergeld beziehen. Allerdings ist dann das deutsche Kindergeld um die ausländischen Leistungen zu kürzen - so urteilte das FG Köln in aktuellen Entscheidungen (FG Köln 30.1.13, 15 K 47/09, 15 K 930/09 und 15 K 20 58/09, Abruf-Nr. unter 131335, 131336 und 131374. |
Sachverhalt
15 K 47/09:Eine in Deutschland lebende unbeschränkt steuerpflichtige polnische Staatsangehörige übte eine selbstständige Tätigkeit in Polen aus und beantragte in Deutschland Kindergeld für ihr minderjähriges Kind. Die Familienkasse lehnte unter Hinweis auf die selbstständige Tätigkeit in Polen und unter Verweis auf Art. 13 VO Nr. 1408/71 die Zahlung von Differenzkindergeld ab. Das FG Köln hat demgegenüber deutsches Kindergeld unter Anrechnung der polnischen Familienleistungen zugesprochen. Jetzt ist das Verfahren beim BFH anhängig (BFH XI R 10/13).
15 K 930/09:Ein in Deutschland lebender unbeschränkt steuerpflichtiger polnischer Staatsangehöriger war für seinen polnischen Arbeitgeber im Inland tätig. In Polen bezog er für sein Kind Familienleistungen, die mit dem deutschen Kindergeld vergleichbar sind. Die Familienkasse lehnte den Anspruch auf Gewährung deutschen Kindergeldes ab, weil der Antragsteller im Streitzeitraum Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gewesen sei, der zugleich in Polen Familienleistungen bezogen habe. Das FG Köln hat entschieden, dass für die Entsendemonate deutsches Kindergeld zu gewähren ist, das um die im Ausland erhaltenen Familienleistungen gekürzt wird.
15 K 2058/09:Ein in Deutschland mit Zweitwohnsitz lebender Niederländer war im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Für seine Kinder, die er in seinem Haushalt in den Niederlanden aufgenommen hatte, bezog er in den Niederlanden - und zugleich in Deutschland - Kindergeld. Die Familienkasse forderte später das in Deutschland gezahlte Kindergeld mit der Begründung zurück, dass der Kindergeldanspruch in den Niederlanden wegen seiner Beschäftigung und Sozialversicherung in den Niederlanden gemäß Art. 13 VO 1408/71 vorrangig sei.
Das FG Köln hat jetzt entschieden, dass der Vater nach deutschem Recht Anspruch auf Kindergeld hat, das der Differenz zwischen den niederländischen Ansprüchen und den deutschen Ansprüchen entspricht. Die im europäischen Ausland gewährten Familienleistungen seien anzurechnen, da der gänzliche Ausschluss des deutschen Kindergeldes einen Verstoß gegen die EU-Grundfreiheiten darstelle. Deshalb bestehe der Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld, selbst wenn die Niederlande an sich der für die Kindergeldzahlung primär zuständige Mitgliedstaat sei.
Anmerkungen
Nach nationalen Vorschriften (§ 62 ff. EStG) hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG derjenige Anspruch auf Kindergeld, der im Inland seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat und damit im Inland unbeschränkt steuerpflichtig ist. Kindergeld wird nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG allerdings nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland Leistungen gewährt werden, die dem (deutschen) Kindergeld vergleichbar sind.
Diese nationale Kollisionsvorschrift wird jedoch ihrerseits durch das Europäische Gemeinschaftsrecht, insbesondere auch die EU-Regelungen der VO Nr. 1408/71 (vom 14.6.71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABL L 149 vom 5.7.71, 2 ff.) verdrängt.
Hierbei gilt Folgendes:
- Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates eine selbstständige Tätigkeit ausüben, unterliegen nach Art. 13 VO Nr. 1408/71 grundsätzlich den sozialrechtlichen Vorschriften dieses Mitgliedstaates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen.
- Arbeitnehmer unterliegen grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie abhängig beschäftigt sind. Personen, die zur Ausübung einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nur entsandt werden (entsandte Arbeitnehmer) oder nur vorrübergehend in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind (Saisonarbeitnehmer), unterliegen jedoch weiterhin den sozialrechtlichen Vorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie normalerweise beschäftigt sind, und nicht denen des Mitgliedstaates, in dem sie tatsächlich einer Beschäftigung nachgehen. Voraussetzung ist bei entsandten Arbeitnehmern allerdings, dass die voraussichtliche Dauer der Beschäftigung zwölf Monate nicht überschreitet (vgl. Jahn, PIStB 12, 312).
Nach der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (12.6.12, C-611/10 und C-612/10, DStRE 12, 999) können nationale Vorschriften, soweit sie nicht lediglich zu einer Kürzung des Kindergelds wegen einer vergleichbaren Leistung in einem anderen Mitgliedstaat, sondern zu deren Ausschluss führen, einen erheblichen Nachteil darstellen, der eine weitaus größere Zahl Wanderarbeitnehmer als sesshafte Arbeitnehmer beeinträchtigt. Auch wenn sich ein solcher Nachteil durch die Unterschiede der Systeme der sozialen Sicherheit erklären lässt, steht er im Widerspruch zu den Anforderungen des Unionsrechts auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer.
Die Besonderheiten der drei Urteile des FG Köln können wie folgt zusammengefasst werden:
- Der Anwendungsbereich der jüngsten EuGH-Entscheidungen ist nach Ansicht des FG Köln nicht auf die dort entschiedenen Fallkonstellationen beschränkt. Die Grundsätze müssen danach auch und erst recht für andere als entsandte oder nur saisonal beschäftigte Arbeitnehmer gelten, wenn diese von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht und ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach Deutschland verlegt haben. Es ist nach Ansicht des FG Köln nicht erkennbar, aus welchem Grund dieser Personenkreis eine Einschränkung der Grundfreiheiten nach dem AEUV hinnehmen müsste, während das bei entsandten Arbeitnehmern oder Saisonarbeitnehmern nicht der Fall sein soll.
- Die gleichen Grundsätze gelten, wenn ein Staatsangehöriger im EU-Ausland aufgrund einer selbstständigen Tätigkeit in das dortige Sozialsystem eingeordnet ist und nach der VO 1408/71 an sich das dortige Sozialsystem vorrangig anzuwenden wäre.
- Nach Ansicht des FG Köln verstößt § 65 EStG, der nach seinem Wortlaut einen inländischen Kindergeldanspruch im Falle des Bezuges ausländischer Familienleistungen ausschließt, insoweit gegen die im EU-Vertrag garantierten Freizügigkeitsrechte. Diese inländische Regelung ist daher geltungserhaltend dahin auszulegen, dass das deutsche Kindergeld lediglich um die ausländischen Familienleistungen gekürzt werden darf.
PRAXISHINWEISA | Auch nach den EuGH-Urteilen vom 12.6.12 (C-611/10 und C-612/10) ist höchstrichterlich vom BFH noch immer nicht abschließend geklärt, welche Auswirkungen die Rechtsprechung des EuGH auf die Gewährung von Kindergeld im Inland hat (s. dazu das BFH-Revisionsverfahren III R 44/12). Deshalb hat das FG Köln (15 K 47/09) auch die Revision zum BFH zugelassen, die inzwischen anhängig ist (BFH XI R 10/13). Betroffene sollten Ablehnungsbescheide der Familienkasse deshalb in Vergleichsfällen unter Hinweis auf die anhängigen Revisionsverfahren beim BFH offen halten, bis der BFH die Auswirkungen der jüngsten EuGH-Rechtsprechung auf den deutschen Kindergeldbezug abschließend geklärt hat. |
Weiterführende Hinweise
- Zum gleichzeitigen Kindergeldbezug in mehreren EU-Staaten, s. auch Pressemitteilung des FG Köln vom 15.3.13 zu den Urteilen 15 K 47/09, 15 K 930/09 und 15 K 2058/09 vom 30.1.13
- Neues zum Kindergeldanspruch bei Auslandsbezug, s. Jahn, PIStB 13, 59
- Zur Minderung bzw. Hinzurechnung ausländischer Familienleistungen, s. Jahn, PIStB 13, 4