29.10.2020 · IWW-Abrufnummer 218630
Finanzgericht Sachsen: Urteil vom 10.09.2020 – 3 K 1498/18
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Sachsen
Prozessbevollmächtigter:
gegen
Finanzamt
- Beklagter -
Tenor:
Streitig ist, ob Kosten einer Liposuktion bei Lipödem im Jahr 2017 als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigt werden können.
Die Kläger sind zusammen veranlagte Eheleute. Sie erzielen Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit.
Bei der Klägerin wurde bereits im Jahr 2012 "Lipohypertrophie vom Ganzbeintyp Stadium I Typ IVb diagnostiziert" (Arztbrief ..... vom 23. August 2012, Blatt 29 der Finanzgerichtsakte). Mit Schreiben vom 12. Januar 2016 bescheinigte eine privatärztliche Praxis für Operative Lymphologie, dass die Klägerin seit mehreren Jahren an einem Lipödem leide und die Erkrankung weder durch Ernährung noch durch Sport positiv zu beeinflussen sei. Es bestehe eine deutliche Einschränkung im täglichen Leben. Eine Schmerzlosigkeit habe auch durch komplexe Entstauungstherapie nicht erreicht werden können. Als Therapie der Wahl zur Verhinderung der Chronizität gelte daher eine Lymphologische Liposculptur (Blatt 30 Finanzgerichtsakte).
Im Streitjahr 2017 wurde die Klägerin dreimal operiert und zwar am ......, ..... und ...... Die Kosten hierfür beliefen sich auf insgesamt € ..... (Blatt 31 ff. der Finanzgerichtsakte). Eine Kostenerstattung der Krankenkasse ....... erfolgte nicht, da der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinen Richtlinien keine Empfehlungen zu dieser Methode gegeben habe (Schreiben der ..... vom 2. August 2016, Blatt 43 der Finanzgerichtsakte). In ihrer Einkommensteuererklärung 2017 beantragten die Kläger u.a. die Berücksichtigung von Aufwendungen für die ärztliche Behandlung mittels Liposuktion iHv. € ...... als außergewöhnliche Belastung.
Mit dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2017 vom 17. Mai 2018 setzte der Beklagte - das Finanzamt - die Einkommensteuer auf € .... fest. Da - so die Erläuterungen des Bescheids - kein vor der Behandlung erstelltes amtsärztliches Attest vorlag, wurden die geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen nicht steuerlich berücksichtigt.
Mit dem Einspruch legten die Kläger ein amtsärztliches Attest vom ...2018 vor (Blatt 13 R Rechtsbehelfsakte): Die bereits langjährig andauernde Erkrankung Lip- und Lymphödem bessere sich nicht trotz Ausschöpfung konservativer Methoden. Drei operative Behandlungen mittels Liposuktion im Arm- und Beinbereich habe der Klägerin eine Besserung ihrer Beschwerden gebracht. Aktuell sei eine Nachoperation im Beinbereich geplant. Die Behandlung erscheine aussichtsreich.
Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. September 2018). Bei der durchgeführten Liposuktion handele es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Methode. Es liege kein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vor.
Hiergegen richtet sich die am Montag, den 8. Oktober 2018 erhobene Klage. Die Kläger machen geltend, die Kosten für die Liposuktion im Jahr 2017 seien als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen. § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV sei auf den Streitfall nicht anwendbar. Denn die Liposuktion stelle keine "nicht wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode" dar.
Das vorliegende amtsärztliche Attest vom .... bescheinige die medizinische Notwendigkeit der Liposuktion sowohl für die Behandlung in 2017 als auch eine Nachoperation in 2018. Die Indikation zur Nachoperation im .... 2018 und die Operationen im Streitjahr 2017 könnten nicht isoliert betrachtet werden. Wenn die Nach-Liposuktionsoperation amtsärztlich für medizinisch erforderlich bestätigt werde, so seien aufgrund des kausalen Zusammenhangs auch die vorangegangenen Operationen betroffen.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2017 vom 17. Mai 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. September 2018 dahingehend zu ändern, dass die Aufwendungen iHv. € ..... als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen seien.
Da Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen,
da ein vor den Operationen im Jahr 2017 erstelltes amtsärztliches Gutachten fehle. Bei der Liposuktion handele es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode iSd. § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Nr. 2 Bucht. f. EStDV.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Steuerakten und die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Die Prozessbevollmächtigte der Kläger ist - nach vorheriger Ankündigung - zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Die Ladung enthielt den Hinweis, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten das Gericht auch ohne ihn verhandeln und entscheiden kann.
Liposuktion bei Lipödem
Der Senat hat durch eigene Literaturrecherche Ermittlungen angestellt, ob im Jahr 2017 die Liposuktion bei Lipödem als "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff-, Chelat- und Eigenbluttherapie" nach § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV anzusehen ist (vgl. zu dieser Methode BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015 S. 803). Diese Ermittlungen führten zu folgenden Erkenntnissen, die den Beteiligten mit der Ladung vom 2. Juli 2020 übermittelt wurden. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
1. Das Lipödem ist eine chronische und nach aktueller Lehrmeinung erfahrungsgemäß progrediente (d.h. sich verschlimmernde) Erkrankung, die fast nur Frauen betrifft. Die Erkrankung besteht in einer disproportionalen Fettverteilungsstörung zwischen Körperstamm und Extremitäten unter Aussparung der Hände und Füße. Es werden nach Schwere drei Stadien der Krankheit unterschieden. Die Ursachen der Erkrankung sind unbekannt; unklar ist auch, ob die Fettverteilungsstörung auf einer Zunahme der Zellzahl oder einer Zunahme der Zellmasse der subkutanen Fettzellen beruht.
Folgeerscheinungen des Lipödems sind ein sekundäres Lymphödem, Hautmazerationen, Störungen des Gangbildes mit sekundären Arthrosen, psychische Beeinträchtigung und ein reduziertes Selbstwertgefühl. Das Lipödem ist eine schmerzhafte Erkrankung mit Spontanschmerz und Druckschmerz; das Schmerzempfinden wird vermutlich durch eine inflammatorisch bedingte Dysregulation von sensorischen Nervenfasern verursacht. Dies ist jedoch ebenfalls nicht erforscht (vgl. zum ganzen: Kruppa P. Georgiou, I; Biermann N, Prantl. L. Klein-Weigel P, Ghods M; Lipödem - Pathogenese, Diagnostik und Behandlungsoptionen, Deutsches Ärzteblatt International, 2020, S. 396 - 403; zu den Erfahrungen betroffener Patientinnen vgl. einen Bericht der Lipödemhilfe http://lipoedem-hilfe-ev.de/form/Lipoedem-Alltagsprobleme-Patientenerfahrungen.pdf.
2. Eine kausale Therapie, d.h. eine Behandlungsmöglichkeit der Krankheitsursache, ist nicht bekannt. Die Therapiemöglichkeiten bestehen in konservativer Therapie (s. unten a) und der Liposuktion (s. unten b).
a) Die sogenannte konservative Therapie zur Behandlung des Lipödems besteht in der "komplexen physikalischen Entstauungsbehandlung" (KPE); einer Kombination von Lymphdrainagen, Kompressionstherapie (Bandagen, Strümpfe), Hautpflege und Bewegungstherapie. Diese Maßnahmen müssen dauerhaft, konsequent und mit gleichbleibend hoher Intensität angewandt und lebenslang wiederholt werden. Die Wirkungen sind nicht nachhaltig und für die betroffenen Frauen häufig schmerzhaft und belastend. Die konservative Therapie führt nicht zur Heilung des Lipödems, sondern dient primär zur Linderung der Beschwerden, was aber in vielen Fällen nicht vollständig gelingt. Es existieren auch keine überzeugenden Beweise dafür, dass eine Progredienz der Erkrankung durch eine klassische konservative Therapie verhindert werden kann ( vgl. m.w.N. Kuppa, u.a., aaO S. 400).
Das pathologisch subkutane Lipödem-Fettgewebe gilt nach wohl ganz überwiegender Meinung als diät- und sportresistent, da durch eine Gewichtsreduzierung die disproportionale Fettverteilung nicht beeinflusst wird. Durch Gewichtsnormalisierung kann nur eine Symptomverbesserung erzielt werden (Kruppa u.a. aaO, s. 402, aA wohl Bertsch, Erbacher, Torio-Padron, Lipödem, Mythen und Fakten Teil 4, Phlebogie 2019, S. 47 ff).
b) Seit circa 1990 wird die Liposuktion als Maßnahme zur dauerhaften Reduktion des Fettgewebes in einer Vielzahl von Kliniken in Deutschland und weltweit durchgeführt, z.B. https://stanfordhealthcare.org/medical-conditions/blood-heart circulation/lipedema.html.
Bei der Liposuktion werden die krankhaft veränderten Unterhautfettzellen in meist mehreren Operationen abgesaugt (meist mit der sog. Tumeszenz-Liposuktion).
3. Zur wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode Liposuktion ist Folgendes festzustellen:
a) Die Durchführung einer Liposuktion entspricht der S 1 Leitlinie Lipödem (AWMF Registernummer 037-012 Stand 10/2015). Höherrangige S2 oder S 3 Leitlinien (vgl. hierzu Kunte, Kostroman, das Qualitäts- und Wissenschaftsgebot am Beispiel der Liposuktion bei Lip- und Lymphödem, SGb 2014, S. 607) zur Behandlung des Lipödems existieren - soweit ersichtlich - nicht. S 1 Leitlinie bedeutet, dass die Leitlinie von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet wurde. In der betreffenden Leitlinie heißt es: "Zur dauerhaften Reduktion des krankhaften Unterhautfettgewebes an Beinen und Armen wird die Liposuktion eingesetzt. Sie ist insbesondere dann angezeigt, wenn trotz konsequent durchgeführter konservativer Therapie noch Beschwerden bestehen, bzw. wenn eine Progredienz von Befund (Unterhautfettvolumen) oder Beschwerden (Schmerzen, Ödeme) auftritt (...) Die Liposuktion in Tumeszenz Lokalanästhesie ist heutzutage eine etablierte und risikoarme operative Methode (...). Der Eingriff führt zu ausgeprägten Verbesserungen von Spontanschmerz, Druckschmerz, Ödem -und Hämatomneigung mit signifikanten Unterschieden prä- und postoperativ. Es wird eine Verminderung der konservativen Therapie, z.T. sogar eine Therapiefreiheit erzielt (...). Die Befundverbesserungen bleiben mehrheitlich über viele Jahre bestehen (...) Weiterhin werden durch die Reduktion des Fettgewebsdepots an den Oberschenkel- und Knieinnenseiten die mechanisch und okklusiv bedingten Hautschäden reduziert bzw. beseitigt. Die Korrektur der Beinfehlstellung bewirkt eine Besserung der Beweglichkeit und des Gangbildes, sowie eine Reduktion des Risikos für weitere orthopädische Komplikationen in Folge des Lipödem-assoziierten pathologischen Gangbildes".
b) Die vorhandenen Studien zum Nutzen der Liposuktion beschreiben die Liposuktion als erfolgreiche Therapie bei geringem Risiko für die Patientinnen, vgl. hierzu zB:
- - Schmeller, Meier-Vollrath, erfolgreiche operative Therapie des Lipödems mittels Liposuktion, Phlebologie 2004, S. 23 - 29;
- Cornely, Lymphologische Liposkulptur, Hautarzt, 2007;
- Stutz, Krahl; Water Jet-assisted Liposuction for Patients with Lipoedema: Histologic an Immunohistologic Analaysis of the Aspirates of 30 Lipoedema Patients, Aesth Plast Surg. 2009, 33, 153-162;
- Schmeller, Hüppe, Meier-Vollrath, Langzeitveränderungen nach Liposuktion bei Lipödem, LymphForsch 2010, S. 17;
- Schmeller, Hueppe und Meier Vollrath, Tumescent liposuction in lipedema yields good long-term results, British Journal of Dermatology, 2011;
- Rapprich, Dingler, Podda: Liposuction is an effective treatment for lipedema of a study with 25 patients, Journal der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 2011;
- Peled, Summer, Slavin, Brorson, Long-term outcome after surgical treatment of Lipedema, Annals of plastic surgery, Volume 68, Nr. 3, März 2012
- Cornely, Lebensqualität gravierend verbessert, DERMAForum 2014;
- Baumgartner, Hueppe, Schmeller, long-term benefit of liposuction in patients with lipoedema, a follow-up study after an average of 4 and 8 years, British Journal of Dermatology, 2016, Seite 1061;
- Dadras, Mallinger, Corerier, Thedosiadi, Ghods, Liposuction in the treatment of Lipedem, A longitudinal Study, Archives of Plastic Surgery, 2017;
- Münch, Wasserstrahlassistierte Liposuktion zur Therapie des Lipödems, Journal für Ästhetische Chirurgie, 30. März 2017.
Auch ein wissenschaftlicher Beitrag, der der Liposuktion eher kritisch gegenübersteht und die Auffassung vertritt, eine Behandlung einer gleichzeitig bestehenden Adipositas sei vorrangig, hält eine Liposuktion für angezeigt, wenn trotz konservativer Therapie, die mindestens 6 Monate durchgeführt wurde, weiter Schmerzen bestehen und zunächst eine eventuell bestehende Adipositas behandelt wird (vgl. Bertsch, Erbacher, Torio-Padron, Lipödem, Mythen und Fakten Teil IV, Phlebologie 2019, S. 57).
c) Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass die vorhandenen Beobachtungsstudien zur Liposuktion bei Lipödem nach Evidenzkriterien methodische Mängel aufweisen, weil es keine Kontrollgruppen gab. Die Studien wurden daher mit dem Evidenzgrad IV (dem niedrigsten Evidenzgrad) eingestuft. Diese Evidenzstufe wird vergeben für "Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, u.ä, nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten, Berichte von Expertenkommitees und Konsensuskonferenzen" (vgl. Verfahrensordnung des G-BA, Kapitel II § 11 Abs. 3).
Daher wurde z.B. auch durch ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDS) vom 6. Oktober 2011, aktualisiert am 15. Januar 2015, der Schluss gezogen, die Ergebnisse aus den vorhandenen Publikationen, wie auch die Aussagen zur Liposuktion in den verfügbaren nicht evidenzbasierten Leitlinien und in zahlreichen Reviews ließen nicht die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei der Liposuktion um eine etablierte Standardtherapie handele und einen patientenrelevanten Vorteil gegenüber einer konventionellen Therapie biete (Gutachten Seite 45). Dieses Gutachten ist mittlerweile im Internet nicht mehr verfügbar. Nach Auskunft des MDS vom 26. Februar 2020 wurde das Gutachten 2019 oder 2020 von der Homepage des MDS entfernt, weil die sozialmedizinischem Empfehlungen aufgrund aktueller Beschlüsse des G-BA zur Liposuktion bei Lipödem nicht mehr aktuell seien (E-Mail des MDS vom 25. und 26. Februar 2020, Blatt 67 ff. Finanzgerichtsakte).
Auch das - mittlerweile entfernte - Gutachten der Abteilung Fachberatung Medizin des G-BA vom 23. November 2015 zum aktuellen Wissensstand zum Lipödem kam zu dem Ergebnis, dass den vorhandenen Publikationen keine Hinweise auf eine generelle Unwirksamkeit oder Schädlichkeit der Methode Liposuktion zu entnehmen seien (Seite 17). Allerdings könne sich die Einschätzung der S 1 Leitlinie nicht auf methodisch hochwertige Primärstudien stützen (Seite 16; vgl. zum ganzen: Zusammenfassende Dokumentation des GBA Beratungsverfahren nach §§ 135 Abs. 1, § 137c SGB V, Liposuktion bei Lipödem (im folgenden Dokumentation), S. 44 ff; https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4515/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD.pdf.
d) Auf Antrag der Patientenvertretung findet seit dem Jahr 2014 ein Bewertungsverfahren der Methode Liposuktion durch den G-BA statt, das mit Beschluss vom 20. Juli 2017 zur Durchführung einer Erprobungsstudie ausgesetzt wurde (dazu unten dd). Zu entscheiden ist die Frage, ob die Liposuktion Kassenleistung werden soll. Bewertet werden der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit dieser Behandlungsmethode. Die in diesem Verfahren eingereichten Stellungnahmen geben Aufschluss über den Stand der Wissenschaft vor dem 20. Juli 2017.
aa) Im Rahmen des Bewertungsverfahrens waren bereits im Jahr 2015 in Form von Fragebögen Stellungnahmen von Experten und Privatpersonen eingeholt worden, aus denen sich folgendes ergibt (Darstellung nicht abschließend; Im einzelnen wird auf die Anlage zur Zusammenfassenden Dokumentation Liposuktion bei Lipödem (ohne Seitenzahlen) verwiesen: https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4689/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD-Anlage.pdf.
- Professor Dr. Wollina, Klinik für Dermatologie und Allergologie des Städtischen Klinikums Dresden, äußerte sich am 3. April 2015 dahingehend, eine Liposuktion sei bei Progress der Krankheit und bei Intolerabilität der KPE angezeigt. Keine andere Therapieform sei in der Lage, die Schmerzhaftigkeit rasch und dauerhaft zu verbessern, die Gelenkbeweglichkeit zu erhalten und der Gonarthrose vorzubeugen und die Risiken des metabolischen Syndroms zu mindern. Es existiere derzeit keine andere medikamentöse, physikalische oder chirurgische Methode, das Lipödem nachhaltig zu bessern. Die Methode der KPE seien nur von sehr begrenzter Wirksamkeit; Schmerzen und Progredienz der Erkrankung könnten nicht beseitigt werden. Eine Liposuktion bei Lipödempatientinnen sei nicht mit der ästhetischen Liposuktion bei gesunden jungen Menschen gleichzusetzen.
- Professor Manuel Cornely, Gründungspräsident des Berufsverbandes für Lymphologie, äußerte sich am 9. April 2015 dahingehend, dass der Einsatz des Liposuktionsverfahrens immer medizinisch indiziert sei. Es handele sich niemals um eine kosmetische Indikation. Aus therapeutischer Sicht sei die medizinische Notwendigkeit durch die nachfolgend lebenslange Beschwerdefreiheit und daraus folgend den Verzicht auf lebenslange KPE begründet. Bei mangelnder Erfahrung sei die Abgrenzung zur Fettleibigkeit schwierig. Es fehlten ausgebildete Lymphologen.
- Dr. Thorsten Matthes, Chefarzt des Krankenhauses Tabea in Hamburg, führt am 14. April 2015 aus, die Liposuktion sei der "Goldstandard" zur Behandlung der Liposuktion. Ab Stadium II der Erkrankung sei die Liposuktion neben weiterführenden Allgemeinmaßnahmen und KPE indiziert. Es existierten keine Behandlungsalternativen.
- Frau Dr. Reich-Schupke von der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie teilte in ihrer Stellungnahme vom 16. April 2015 mit, es lägen mittlerweile Daten über einen Zeitraum von 20 Jahren vor. Das Behandlungsergebnis bei Liposuktion sei bei entsprechender Compliance nachhaltig,
- Der Berufsverband der Deutschen Dermatologen äußerte sich am 20. April 2015 dahingehend, dass nach 20jähriger Erfahrung mit der Liposuktion feststehe, dass das Ergebnis nachhaltig sei und das Fortschreiten der Erkrankung gestoppt werden könne. Es seien sich alle Experten einig, dass beim Lipödem krankhaft verändertes Fettgewebe vorliege. Zur Entfernung dieses Fettgewebes stehe derzeit nur die Liposuktion als geeignetes Verfahren zur Verfügung. Die Leitlinien-Experten-Gruppe sei sich darin einig, dass die Liposuktion beim Lipödem eine wirksame Therapie darstelle. Die Empfehlung zur Liposuktion erfülle nach derzeitigem Stand den Evidenzgrad Klasse IIb (optional anwendbar, gut bewiesener Vorteil, Therapiealternative für Erfahrene).
- Die Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie, Frau Dr. Anya Miller vertrat am 20. April 2015 die Auffassung, die Liposuktion sei zu empfehlen, wenn die konservative Therapie nicht ausreichend sei. Bei der Liposuktion reduzierten sich die Beschwerden der Betroffenen bis hin zur Beschwerdefreiheit. Die Beweglichkeit und die Lebensqualität würden gesteigert. Hierdurch seien die Betroffenen auch in der Lage, zur Verminderung oder Vermeidung von Adipositas Sport zu betreiben.
- Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Lymphologen, Dr. Klaus Schrader, gab am 24. April 2015 an, eine Liposuktion solle erwogen werden, wenn bei guter Adhärenz eine konsequent durchgeführte konservative Behandlung nicht zur Schmerz- und Ödemfreiheit führe und die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in einem nicht hinnehmbaren Maße eingeschränkt sei. Es gehe nicht um den kosmetischen Aspekt, auch wenn sich die betroffenen Frauen schlankere Beine wünschten. Entscheidungskriterien seien Schmerz und Ödem. Die Liposuktion sei, wie sie in Deutschland ausgeführt werde, keine kosmetische Operation.
- Dr. med. Falk-ChristianHeck (seit Mai 2013 ausschließlich Therapie des Lipödems, im Jahr 2014 ca. 300 durchgeführte Liposuktionen) gab am 26. April 2015 an, die konservative Behandlung führe nicht zu einer richtungsweisenden und nachhaltigen Verbesserung der Lipödem-Erkrankung. Da die Natur des Krankheitsverlaufs bekannt sei, sei die operative Therapie in jedem Stadium zu empfehlen, wenn der entsprechende Leidensdruck vorhanden sei. Im Gegensatz zu der nur symptomatischen Wirkung der konservativen Behandlung sei die Liposuktion nachhaltig wirksam.
- Die Deutsche Gesellschaft für Wundheilung, vertreten durch Herrn Dr. Gerson Strubel vertrat am 29. April 2915 die Auffassung, eine Indikation zur Liposuktion könne bei jedem Schweregrad, vor allen in den Stadien I und II erwogen werden. Bei 99,1 % der Patientinnen habe sich nach Liposuktion eine hochsignifikante Verbesserung ergeben. Bemerkenswert sei, dass die meisten Patientinnen in einer Untersuchung sich zuvor einer langjährigen leitliniengerechten konservativen Therapie unterzogen hätten, so dass sich daraus ein indirekter, den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin nicht genügender Hinweis auf eine mögliche Überlegenheit der operativen Maßnahme entnehmen lasse. Die Entfernung des Lipödem Fettes sei zuverlässig, sicher und wohl auch anhaltend aktuell nur durch die Liposuktion möglich.
- Die Gesellschaft deutschsprachiger Lymphologen vertrat in ihrer Stellungnahme vom 30. April 2015 die Auffassung, dass die Liposuktion praktisch eine kausale Therapie gegen das Lipödem sei, denn mögliche Ursache könne eine genetische oder epigenetische Entwicklungsstörung der kutanen Adipzyten sein. Die Liposuktion führe zu einem verminderten Umfang konservativer Therapien.
bb) Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse gab es im Verfahren beim G-BA zunächst verschiedene Auffassung über die Anerkennung der Behandlungsmethode:
(1) Der GKV-SV (Spitzenverband Bund der Krankenkassen) hatte sich in einem Entwurf vom 9. Juni 2016 unter Berufung auf das Gutachten der Abteilung Fachberatung Medizin des G-BA wegen der bestehenden Evidenzlücke dagegen ausgesprochen, die Liposuktion ohne Erprobungsstudie als Kassenleistung anzuerkennen (Dokumentation S. 34).
(2) Der Entwurf der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie der Patientenvertretung (Stand 9. Juni 2016) sah hingegen vor, dass die Liposuktion unter bestimmten Voraussetzungen zulasten der Krankenkassen erbracht werden solle (Dokumentation Seite 52 ff. 59). Alle ausgewerteten Studien hätten einen gleichgerichteten positiven Effekt der Liposuktion ergeben. Die nach der Verfahrensordnung (Kapitel 2 § 13) erforderliche Abwägung ergebe, dass Studien einer höheren Evidenzstufe nicht gefordert werden müssten. Denn das Lipödem sei eine im Orphanet gelistete seltene Erkrankung, für die eine Therapie zur Heilung der Erkrankung nicht bekannt sei. Die konservativen Therapien könnten lediglich die Begleiterscheinungen lindern und die Progredienz verlangsamen. Bei der Betrachtung der medizinischen Notwendigkeit sei offenkundig, dass diese in allen wesentlichen Aspekten gegeben sei; insbesondere handele es sich bei der Liposuktion aufgrund der realisierbaren dauerhaften Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes um eine ansatzweise kurative Behandlungsstrategie. Der Ansatz der Liposuktion, der mehrheitlich über viele Jahre zu Befundbesserungen oder Therapiefreiheit führen könne, stelle sich daher als alternativlos dar. Die zur Nutzenbewertung herangezogenen Studien seien der Evidenzstufe IV zuzuordnen und zeigten trotz der methodischen Mängel einen gleichgerichtet positiven Effekt. Der potentielle Nutzen der Methode stehe zu den festgestellten Risiken der Anwendungen in einem so günstigen Verhältnis, dass die Empfehlung der Behandlung gerechtfertigt werden könne.
In der Gesamtabwägung nach der mündlichen Anhörung verließen die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung ihre ursprüngliche Position und hielten eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf eine Erprobungsstudie für sachgerecht (Dokumentation, Seite 125).
cc) Ganz überwiegend vertraten die im Verfahren des G-BA im Jahr 2016 angehörten Institutionen die Auffassung, dass die Liposuktion den Patientinnen eine sinnvolle Therapie zur Behandlung des Lipödems sei. Im einzelnen wird auf die Anlage zur Zusammenfassenden Dokumentation Liposuktion bei Lipödem (ohne Seitenzahlen) verwiesen https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4689/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD-Anlage.pdf.
Beispielhaft sind folgende Stellungnahmen zu nennen:
- Die Bundesärztekammer schloss sich mit Stellungnahme vom 22. Juli 2016 dem Entwurf von KBV, DKG und Patientenvertretung an und empfahl dem G-BA eine Aufnahme der Therapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen.
- Die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie verwies in ihrer Stellungnahme vom 11. Juli 2016 auf die geltende AWMF S1 Leitlinie 037/12, in der die Liposuktion als mögliche Therapieform des Lipödems genannt wurde (s. oben a). Die Kombination von konservativen und operativen Therapiemaßnahmen ermögliche eine ausgeprägte Befind- und Beschwerdeverbesserung. Primär solle ein Therapieversuch mit konservativen Maßnahmen unternommen werden. Bleibe eine Besserung der Beschwerden aus, sei die Liposuktion zu erwägen. Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie solle eine leitliniengerechte Therapie auch gesetzlich versicherten Patienten zugänglich sein. Die Gesellschaft präferiere daher den Entwurf von DKG, KBV und PatV.
- Die deutsche Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC) sprach sich in ihrer Stellungnahme vom 21. Juli 2016 in Absprache mit der deutschen Gesellschaft für Wundbehandlung und der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft ebenfalls für den Entwurf der DKG, KBV und Patientenvertreter aus und schlug ein strukturiertes Behandlungsprogramm gemäß § 137 f. SGB V zur Erhebung von Daten vor, die kurz-, mittel- und langfristig Aufschlüsse über die Ergebnisse und Komplikationsraten geben könnten.
- Die Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e.V. sprach sich in der Stellungnahme ebenfalls für die Aufnahme der Liposuktion in den Leistungskatalog der Krankenversicherungen entsprechend dem Entwurf der DKG, der KBV und der Patientenvertretung aus.
- Die Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation eV begrüßte in der Stellungnahme vom 10. August 2016 den Vorschlag des GKV-Spitzenverbandes, durch den die weitere Beratung zur Methode der Liposuktion für die Dauer einer Erprobungsstudie ausgesetzt werden sollte. Es gebe bislang keine ausreichenden Aussagen zu den Langzeitergebnissen der Liposuktion. Es würden dringend Studien höherer Ergebnisqualität benötigt. Die konservativen Methoden würden häufig nicht ausgeschöpft, Aussagen zur Unwirksamkeit vorschnell getroffen. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen Adipositas und Lipödem. Die Liposuktion stelle aber keine Adipositastherapie dar. Das Lipödem sei auch keine seltene Erkrankung; daher könne eine Erprobungsstudie mit Erfolg in realistischer Zeit durchgeführt werden.
dd) Mit Beschluss vom 20. Juli 2017 wurde das Verfahren des G-BA ausgesetzt, um eine Erprobungsstudie zur Bewertung der Liposuktion in Auftrag zu geben. Diese Erprobungsstudie wird wohl nicht vor Ende 2024 abgeschlossen sein. Im Beschluss vom 20. Juli 2017 wurde der Behandlungsmethode das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsmethode zugebilligt; allerdings sei bislang der Nutzen noch nicht hinreichend belegt. Der G-BA führt aus:
"Die Voraussetzungen für einen hinreichenden Nutzenbeleg der Liposuktion bei Lipödem gemäß G-BA Verfahrensordnung sind nicht erfüllt. Die wenigen gefundenen Studien ensprechen der Evidenzklasse IV. Die darin beschriebenen Ergebnisse werden vom G-BA in ihrer Ergebnissicherheit als nicht ausreichend bewertet, um damit bereits abschließend den Nutzen bewerten zu können (...) Auf Basis der gefundenen Studien kann jedoch das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative angenommen werden. Bei allen bestehenden methodischen Limitationen (keine Kontrollgruppen, hoher Anteil fehlender Daten) geben die berichteten Ergebnisse Anhaltspunkte dafür, dass mindestens ein Teil der behandelten Patientinnen jedenfalls kurzfristig von der Liposuktion profitiert (..)" (tragende Gründe des Beschlusses des G-BA vom 20.7.2017, Seite 8) https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4489/2017-07-20-MVV-RL-Liposuktion-TrG.pdf.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass der G-BA in einem Beschluss vom 19. September 2019 aufgrund der Forderungen des Bundesgesundheitsministers die Liposuktion bei Lipödem im Stadium III unter bestimmten Voraussetzungen als Kassenleistung befristet bis zum 31. Dezember 2024 anerkannte: https://www.g-ba.de/downloads/39-261-3961/2019-09-19-KHMe-Liposuktion-Lipoedem-III-BAnz.pdf
Das Gericht konnte entscheiden, obwohl die Klägerseite - nach Vorankündigung - nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Ladung enthielt einen Hinweis nach § 91 Abs. 2 FGO.
I. Die zulässige Klage ist begründet. Das Finanzamt hat es zu Unrecht abgelehnt, die Kosten für die Liposuktion bei der Klägerin als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid ist daher insoweit nicht rechtmäßig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Entgegen der Auffassung des beklagten Finanzamtes ist die Liposuktion bei Lipödem im Jahr 2017 nicht als "nicht wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode" iSd. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV anzusehen. Der angefochtene Bescheid war daher zu ändern. Die Berechnung der nach Abzug der zumutbaren Eigenbelastung anzuerkennenden Kosten und der Einkommensteuer wird dem Finanzamt übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
Krankheitskosten sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes - ohne Rücksicht auf Art und Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig. Es können aber nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt werden, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen. Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung sind typisierend als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, ohne dass es im Einzelfall einer Prüfung der Zwangsläufigkeit bedarf. Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung der Linderung der Krankheit angezeigt sind und vorgenommen werden, d.h. medizinisch indiziert sind (vgl. mit zahlreichen Nachweisen BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015, S. 803).
Gemäß § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStDV muss der Steuerpflichtige den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall z.B. durch eine ärztliche Verordnung erbringen. Eine solche liegt im Streitfall vor. Einwendungen gegen Art und Höhe der Kosten hat das Finanzamt nicht erhoben. Zweifel hieran sind auch aus den Akten nicht ersichtlich.
2. Entgegen der Auffassung des Finanzamtes steht das Fehlen eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung der Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastung nicht entgegen.
a) Gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 Buchst. f EStDV hat der Steuerpflichtige den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendung bei wissenschaftlich nicht anerkannten Behandlungsmethoden wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlung, Sauerstoff, Chelat- und Eigenbluttherapie) durch ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zu führen. Dieser Nachweis gemäß § 64 Abs. 1 Satz 2 EStDV muss vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestellt worden sein.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ist eine Behandlung wissenschaftlich anerkannt, wenn im Zeitpunkt der Behandlung Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Dies ist nach Auffassung des Bundesfinanzhofes und des Bundessozialgerichts dann der Fall, wenn die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute die Behandlungsmethode befürwortet und über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setze - so der Bundesfinanzhof im Anschluss an das Bundessozialgericht - im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, aaO).
Um zu beurteilen, ob eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode vorliegt, ist es Aufgabe des Finanzamtes, diese Voraussetzungen aufgrund der ihm obliegenden Würdigung des Einzelfalles, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt der zu beurteilenden Behandlung, zu prüfen. Das Finanzamt und das Gericht können sich hierfür auf allgemein zugängliche Fachgutachten stützen. Will das Finanzgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, muss es die Beteiligten auf diese Absicht hinweisen und ihnen die entsprechenden Unterlagen zugänglich machen (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, aaO).
b) Die Liposuktion bei Lipödem im Jahr 2017 stellte keine "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode" dar. Der Senat stützt sich hierbei auf seine eigene Literaturrecherche, deren Ergebnis oben dargestellt ist. Die Ausführungen des Senates sind den Beteiligten mit der Ladung zur Kenntnisnahme und Stellungnahme überlassen worden (Blatt 72 ff. der Finanzgerichtsakte). Die jetzige Fassung enthält geringfügige redaktionelle Änderungen.
Der Senat hat keine wissenschaftliche Publikation finden können, die der Liposuktion bei Lipödem einen medizinischen Nutzen für die erkrankten Frauen abspricht. Im Gegenteil gehen alle vorhandenen Studien - wenn wohl auch mit nach Evidenzkriterien methodischen Mängeln - davon aus, dass eine Liposuktion medizinisch indiziert sein kann, wenn konservative Therapie nicht die gewünschte Linderung der Symptome bringt. Es ist allgemein anerkannt, dass konservative Therapien nur zur Linderung der Begleitsymptome beitragen können, dies aber häufig nicht vollständig tun und auch die Progredienz der Erkrankung häufig nicht aufhalten können.
Fast sämtliche medizinischen Fachgesellschaften, die mit der Erkrankung befasst sind, haben in dem Stellungnahmeverfahren des G-BA im Jahr 2016 die Auffassung vertreten, dass bei Lipödem eine Liposuktion in den meisten Fällen positive Wirkungen hat.
Auch der G-BA selbst hat - obwohl das Verfahren zur Durchführung einer Erprobungsstudie ausgesetzt ist - das Potential der Methode bestätigt. Er hat ihr nicht - wie z.B. bei der Mehrschritt Sauerstofftherapie (s. dazu unten) - die medizinische Wirksamkeit abgesprochen.
c) Es mag zutreffen, dass die Studien, die den medizinischen Nutzen der Liposuktion bei Lipödem belegen, in der evidenzbasierten Medizin einen niedrigen Grad haben, gleichwohl liegt ein Beweis nach Evidenzkriterien vor. Ein bestimmter Evidenzgrad für die wissenschaftliche Anerkennung ist in § 64 EStDV nicht vorgesehen.
d) Ob die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlungskosten der Liposuktion generell oder nur in Einzelfällen übernehmen oder nicht, ist für die Beurteilung der Frage der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV nicht bindend, da es insoweit auch um andere Aspekte geht (die Methode muss nach der Bewertung durch den G-BA gemäß § 137c SGB V als für eine ausreichende zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten erforderlich angesehen werden, vgl. Dokumentation, S. 1). Eine fehlende Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkasse ist sogar Voraussetzung für eine Geltendmachung als außergewöhnliche Belastung, da sonst eine Belastung des Steuerpflichtigen nicht vorliegt.
e) Der Senat schließt auch aus den in § 64 Abs. EStDV beispielhaft aufgezählten Behandlungsmethoden, dass es sich bei wissenschaftlich nicht anerkannten Behandlungsmethoden nach der Intention des Gesetzgebers um Methoden handelt, deren medizinischer Nutzen zur Heilung und Linderung von Krankheiten wissenschaftlich widerlegt ist. Dies gilt zum Beispiel bei Trocken- und Frischzellenbehandlungen, die als Anti-Aging-Mittel eingesetzt werden und Wissenschaftlern als unwirksam und gefährlich gelten, ( https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Frischzellen-Therapie-Unwirksam- und-gefaehrlich,frischzellentherapie100.html ). Ähnliches gilt für Eigenblutbehandlungen, deren Nutzen bisher in keiner Studie wissenschaftlich belegt werden konnte, und die lediglich die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren sollen (https://web.archive.org/web/20070929101338/http://www.ikk.de/ikk/generator/ikk/fuer-medizinberufe/aerzte/3444.pdf ). Auch die Chelat-Therapie ist eine Methode zur Verzögerung der Alterung, deren Nutzen in keiner Studie wissenschaftlich belegt ist https://de.wikipedia.org/wiki/Chelat-Therapie#cite-note-pmid11266328-5. Bei der Sauerstofftherapie, die bei einer Vielzahl von Krankheiten helfen soll (Sauerstoffmehrschritttherapie nach Ardenne) sind Nutzen und Wirksamkeit der Therapie nicht wissenschaftlich belegt https://www.g-ba.de/downloads/40-268-251/HTA-Sauerstoff-Mehrschritt-.pdf.
Mit diesen "Katalogmethoden", die nicht nur zur Heilung von Krankheiten eingesetzt werden können, sondern auch als eine "den Organismus nur kräftigende vorbeugende Maßnahme" darstellen (so BFH-Urteil vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, BStBl. I 1981, S. 711 zur Frischzellentherapie) ist die Liposuktion bei Lipödem nach dem oben gesagten nicht einmal ansatzweise vergleichbar und zwar weder im Hinblick auf die wissenschaftliche Anerkennung der Methode noch im Hinblick auf das zugrunde liegende Krankheitsbild und den damit einhergehenden Leidensdruck der betroffenen Frauen.
f) Nach den oben dargestellten Stellungnahmen der Wissenschaft handelt es sich bei der Liposuktion auch um keine kosmetische Operation, die nicht medizinisch indiziert sind (vgl. hierzu zB BFH-Beschluss vom 24. November 2006 III B 57/06, BFH/NV 2007, s. 438). Ziel ist nicht eine optische Verschönerung der Patientinnen, sondern die Heilung von Schmerzen und die Vermeidung von Sekundärerkrankungen. Ferner dient die Liposuktion dazu, die - häufig nutzlose und die Patientinnen erheblich einschränkende und belastende - konservative Behandlung zu reduzieren oder sogar überflüssig zu machen. Dies ergibt sich aus den unter II zitierten Stellungnahmen der mit der Behandlung des Lipödems befassten Wissenschaftler.
g) Zutreffend führt das Finanzamt an, dass in der bisherigen finanzgerichtlichen Rechtsprechung die Liposuktion bei Lipödem einkommensteuerlich als "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode" angesehen worden ist (vgl. z.B. Finanzgericht Baden-Württemberg vom 27. September 2017 7 K 1940/17, EFG 2017, S. 1954 - Streitjahr 2007; FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 1. Oktober 2014 2 K 272/12, EFG 2015, 33 sowie BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015, 803 - Streitjahr 2010). Diese Entscheidungen stützen sich zur Beurteilung der wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode auf das Gutachten "Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen vom 6. Oktober 2011 mit Aktualisierung vom 15. Januar 2015.
Die Entscheidungen sind auf das Streitjahr 2017 nicht übertragbar. Der Stand der Wissenschaft befindet sich in stetem Wandel. In dem für die Klägerin maßgebenden Jahr 2017 sind zur Beurteilung der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode auch die Stellungnahmen der Fachgesellschaften im Bewertungsverfahren des G-BA zu berücksichtigen, die weder dem Finanzgericht Baden-Württemberg und noch dem Finanzgericht Schleswig-Holstein und dem BFH bei ihren Entscheidung nicht vorgelegen haben dürften. Das Gutachten des MDK, auf das sich die genannten Entscheidungen berufen, ist von der erstellenden Institution selbst zurückgezogen worden, wobei unklar ist, ab welchem Zeitpunkt es als wissenschaftlich überholt zu gelten hatte (s.o.).
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Entscheidung über die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten ergibt sich aus § 139 Abs. 3 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
Urteil vom 10.09.2020
Az.: 3 K 1498/18
In dem Finanzrechtsstreit
- Kläger -Prozessbevollmächtigter:
gegen
Finanzamt
- Beklagter -
wegen Einkommensteuer 2017
hat der 3. Senat unter Mitwirkung
auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 10. September 2020 für Recht erkannt:
Tenor:
- Der Einkommensteuerbescheid 2017 vom 17. Mai 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. September 2018 wird dahingehend geändert, dass Aufwendungen iHv. € ..... als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen sind. Die Berechnung wird nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem Finanzamt übertragen.
- Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
- Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung iHv. 110% der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
- Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger sind zusammen veranlagte Eheleute. Sie erzielen Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit.
Bei der Klägerin wurde bereits im Jahr 2012 "Lipohypertrophie vom Ganzbeintyp Stadium I Typ IVb diagnostiziert" (Arztbrief ..... vom 23. August 2012, Blatt 29 der Finanzgerichtsakte). Mit Schreiben vom 12. Januar 2016 bescheinigte eine privatärztliche Praxis für Operative Lymphologie, dass die Klägerin seit mehreren Jahren an einem Lipödem leide und die Erkrankung weder durch Ernährung noch durch Sport positiv zu beeinflussen sei. Es bestehe eine deutliche Einschränkung im täglichen Leben. Eine Schmerzlosigkeit habe auch durch komplexe Entstauungstherapie nicht erreicht werden können. Als Therapie der Wahl zur Verhinderung der Chronizität gelte daher eine Lymphologische Liposculptur (Blatt 30 Finanzgerichtsakte).
Im Streitjahr 2017 wurde die Klägerin dreimal operiert und zwar am ......, ..... und ...... Die Kosten hierfür beliefen sich auf insgesamt € ..... (Blatt 31 ff. der Finanzgerichtsakte). Eine Kostenerstattung der Krankenkasse ....... erfolgte nicht, da der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinen Richtlinien keine Empfehlungen zu dieser Methode gegeben habe (Schreiben der ..... vom 2. August 2016, Blatt 43 der Finanzgerichtsakte). In ihrer Einkommensteuererklärung 2017 beantragten die Kläger u.a. die Berücksichtigung von Aufwendungen für die ärztliche Behandlung mittels Liposuktion iHv. € ...... als außergewöhnliche Belastung.
Mit dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2017 vom 17. Mai 2018 setzte der Beklagte - das Finanzamt - die Einkommensteuer auf € .... fest. Da - so die Erläuterungen des Bescheids - kein vor der Behandlung erstelltes amtsärztliches Attest vorlag, wurden die geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen nicht steuerlich berücksichtigt.
Mit dem Einspruch legten die Kläger ein amtsärztliches Attest vom ...2018 vor (Blatt 13 R Rechtsbehelfsakte): Die bereits langjährig andauernde Erkrankung Lip- und Lymphödem bessere sich nicht trotz Ausschöpfung konservativer Methoden. Drei operative Behandlungen mittels Liposuktion im Arm- und Beinbereich habe der Klägerin eine Besserung ihrer Beschwerden gebracht. Aktuell sei eine Nachoperation im Beinbereich geplant. Die Behandlung erscheine aussichtsreich.
Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. September 2018). Bei der durchgeführten Liposuktion handele es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Methode. Es liege kein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vor.
Hiergegen richtet sich die am Montag, den 8. Oktober 2018 erhobene Klage. Die Kläger machen geltend, die Kosten für die Liposuktion im Jahr 2017 seien als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen. § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV sei auf den Streitfall nicht anwendbar. Denn die Liposuktion stelle keine "nicht wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode" dar.
Das vorliegende amtsärztliche Attest vom .... bescheinige die medizinische Notwendigkeit der Liposuktion sowohl für die Behandlung in 2017 als auch eine Nachoperation in 2018. Die Indikation zur Nachoperation im .... 2018 und die Operationen im Streitjahr 2017 könnten nicht isoliert betrachtet werden. Wenn die Nach-Liposuktionsoperation amtsärztlich für medizinisch erforderlich bestätigt werde, so seien aufgrund des kausalen Zusammenhangs auch die vorangegangenen Operationen betroffen.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2017 vom 17. Mai 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. September 2018 dahingehend zu ändern, dass die Aufwendungen iHv. € ..... als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen seien.
Da Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen,
da ein vor den Operationen im Jahr 2017 erstelltes amtsärztliches Gutachten fehle. Bei der Liposuktion handele es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode iSd. § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Nr. 2 Bucht. f. EStDV.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Steuerakten und die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Die Prozessbevollmächtigte der Kläger ist - nach vorheriger Ankündigung - zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Die Ladung enthielt den Hinweis, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten das Gericht auch ohne ihn verhandeln und entscheiden kann.
Liposuktion bei Lipödem
Der Senat hat durch eigene Literaturrecherche Ermittlungen angestellt, ob im Jahr 2017 die Liposuktion bei Lipödem als "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff-, Chelat- und Eigenbluttherapie" nach § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV anzusehen ist (vgl. zu dieser Methode BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015 S. 803). Diese Ermittlungen führten zu folgenden Erkenntnissen, die den Beteiligten mit der Ladung vom 2. Juli 2020 übermittelt wurden. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
1. Das Lipödem ist eine chronische und nach aktueller Lehrmeinung erfahrungsgemäß progrediente (d.h. sich verschlimmernde) Erkrankung, die fast nur Frauen betrifft. Die Erkrankung besteht in einer disproportionalen Fettverteilungsstörung zwischen Körperstamm und Extremitäten unter Aussparung der Hände und Füße. Es werden nach Schwere drei Stadien der Krankheit unterschieden. Die Ursachen der Erkrankung sind unbekannt; unklar ist auch, ob die Fettverteilungsstörung auf einer Zunahme der Zellzahl oder einer Zunahme der Zellmasse der subkutanen Fettzellen beruht.
Folgeerscheinungen des Lipödems sind ein sekundäres Lymphödem, Hautmazerationen, Störungen des Gangbildes mit sekundären Arthrosen, psychische Beeinträchtigung und ein reduziertes Selbstwertgefühl. Das Lipödem ist eine schmerzhafte Erkrankung mit Spontanschmerz und Druckschmerz; das Schmerzempfinden wird vermutlich durch eine inflammatorisch bedingte Dysregulation von sensorischen Nervenfasern verursacht. Dies ist jedoch ebenfalls nicht erforscht (vgl. zum ganzen: Kruppa P. Georgiou, I; Biermann N, Prantl. L. Klein-Weigel P, Ghods M; Lipödem - Pathogenese, Diagnostik und Behandlungsoptionen, Deutsches Ärzteblatt International, 2020, S. 396 - 403; zu den Erfahrungen betroffener Patientinnen vgl. einen Bericht der Lipödemhilfe http://lipoedem-hilfe-ev.de/form/Lipoedem-Alltagsprobleme-Patientenerfahrungen.pdf.
2. Eine kausale Therapie, d.h. eine Behandlungsmöglichkeit der Krankheitsursache, ist nicht bekannt. Die Therapiemöglichkeiten bestehen in konservativer Therapie (s. unten a) und der Liposuktion (s. unten b).
a) Die sogenannte konservative Therapie zur Behandlung des Lipödems besteht in der "komplexen physikalischen Entstauungsbehandlung" (KPE); einer Kombination von Lymphdrainagen, Kompressionstherapie (Bandagen, Strümpfe), Hautpflege und Bewegungstherapie. Diese Maßnahmen müssen dauerhaft, konsequent und mit gleichbleibend hoher Intensität angewandt und lebenslang wiederholt werden. Die Wirkungen sind nicht nachhaltig und für die betroffenen Frauen häufig schmerzhaft und belastend. Die konservative Therapie führt nicht zur Heilung des Lipödems, sondern dient primär zur Linderung der Beschwerden, was aber in vielen Fällen nicht vollständig gelingt. Es existieren auch keine überzeugenden Beweise dafür, dass eine Progredienz der Erkrankung durch eine klassische konservative Therapie verhindert werden kann ( vgl. m.w.N. Kuppa, u.a., aaO S. 400).
Das pathologisch subkutane Lipödem-Fettgewebe gilt nach wohl ganz überwiegender Meinung als diät- und sportresistent, da durch eine Gewichtsreduzierung die disproportionale Fettverteilung nicht beeinflusst wird. Durch Gewichtsnormalisierung kann nur eine Symptomverbesserung erzielt werden (Kruppa u.a. aaO, s. 402, aA wohl Bertsch, Erbacher, Torio-Padron, Lipödem, Mythen und Fakten Teil 4, Phlebogie 2019, S. 47 ff).
b) Seit circa 1990 wird die Liposuktion als Maßnahme zur dauerhaften Reduktion des Fettgewebes in einer Vielzahl von Kliniken in Deutschland und weltweit durchgeführt, z.B. https://stanfordhealthcare.org/medical-conditions/blood-heart circulation/lipedema.html.
Bei der Liposuktion werden die krankhaft veränderten Unterhautfettzellen in meist mehreren Operationen abgesaugt (meist mit der sog. Tumeszenz-Liposuktion).
3. Zur wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode Liposuktion ist Folgendes festzustellen:
a) Die Durchführung einer Liposuktion entspricht der S 1 Leitlinie Lipödem (AWMF Registernummer 037-012 Stand 10/2015). Höherrangige S2 oder S 3 Leitlinien (vgl. hierzu Kunte, Kostroman, das Qualitäts- und Wissenschaftsgebot am Beispiel der Liposuktion bei Lip- und Lymphödem, SGb 2014, S. 607) zur Behandlung des Lipödems existieren - soweit ersichtlich - nicht. S 1 Leitlinie bedeutet, dass die Leitlinie von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet wurde. In der betreffenden Leitlinie heißt es: "Zur dauerhaften Reduktion des krankhaften Unterhautfettgewebes an Beinen und Armen wird die Liposuktion eingesetzt. Sie ist insbesondere dann angezeigt, wenn trotz konsequent durchgeführter konservativer Therapie noch Beschwerden bestehen, bzw. wenn eine Progredienz von Befund (Unterhautfettvolumen) oder Beschwerden (Schmerzen, Ödeme) auftritt (...) Die Liposuktion in Tumeszenz Lokalanästhesie ist heutzutage eine etablierte und risikoarme operative Methode (...). Der Eingriff führt zu ausgeprägten Verbesserungen von Spontanschmerz, Druckschmerz, Ödem -und Hämatomneigung mit signifikanten Unterschieden prä- und postoperativ. Es wird eine Verminderung der konservativen Therapie, z.T. sogar eine Therapiefreiheit erzielt (...). Die Befundverbesserungen bleiben mehrheitlich über viele Jahre bestehen (...) Weiterhin werden durch die Reduktion des Fettgewebsdepots an den Oberschenkel- und Knieinnenseiten die mechanisch und okklusiv bedingten Hautschäden reduziert bzw. beseitigt. Die Korrektur der Beinfehlstellung bewirkt eine Besserung der Beweglichkeit und des Gangbildes, sowie eine Reduktion des Risikos für weitere orthopädische Komplikationen in Folge des Lipödem-assoziierten pathologischen Gangbildes".
b) Die vorhandenen Studien zum Nutzen der Liposuktion beschreiben die Liposuktion als erfolgreiche Therapie bei geringem Risiko für die Patientinnen, vgl. hierzu zB:
- - Schmeller, Meier-Vollrath, erfolgreiche operative Therapie des Lipödems mittels Liposuktion, Phlebologie 2004, S. 23 - 29;
- Cornely, Lymphologische Liposkulptur, Hautarzt, 2007;
- Stutz, Krahl; Water Jet-assisted Liposuction for Patients with Lipoedema: Histologic an Immunohistologic Analaysis of the Aspirates of 30 Lipoedema Patients, Aesth Plast Surg. 2009, 33, 153-162;
- Schmeller, Hüppe, Meier-Vollrath, Langzeitveränderungen nach Liposuktion bei Lipödem, LymphForsch 2010, S. 17;
- Schmeller, Hueppe und Meier Vollrath, Tumescent liposuction in lipedema yields good long-term results, British Journal of Dermatology, 2011;
- Rapprich, Dingler, Podda: Liposuction is an effective treatment for lipedema of a study with 25 patients, Journal der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 2011;
- Peled, Summer, Slavin, Brorson, Long-term outcome after surgical treatment of Lipedema, Annals of plastic surgery, Volume 68, Nr. 3, März 2012
- Cornely, Lebensqualität gravierend verbessert, DERMAForum 2014;
- Baumgartner, Hueppe, Schmeller, long-term benefit of liposuction in patients with lipoedema, a follow-up study after an average of 4 and 8 years, British Journal of Dermatology, 2016, Seite 1061;
- Dadras, Mallinger, Corerier, Thedosiadi, Ghods, Liposuction in the treatment of Lipedem, A longitudinal Study, Archives of Plastic Surgery, 2017;
- Münch, Wasserstrahlassistierte Liposuktion zur Therapie des Lipödems, Journal für Ästhetische Chirurgie, 30. März 2017.
Auch ein wissenschaftlicher Beitrag, der der Liposuktion eher kritisch gegenübersteht und die Auffassung vertritt, eine Behandlung einer gleichzeitig bestehenden Adipositas sei vorrangig, hält eine Liposuktion für angezeigt, wenn trotz konservativer Therapie, die mindestens 6 Monate durchgeführt wurde, weiter Schmerzen bestehen und zunächst eine eventuell bestehende Adipositas behandelt wird (vgl. Bertsch, Erbacher, Torio-Padron, Lipödem, Mythen und Fakten Teil IV, Phlebologie 2019, S. 57).
c) Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass die vorhandenen Beobachtungsstudien zur Liposuktion bei Lipödem nach Evidenzkriterien methodische Mängel aufweisen, weil es keine Kontrollgruppen gab. Die Studien wurden daher mit dem Evidenzgrad IV (dem niedrigsten Evidenzgrad) eingestuft. Diese Evidenzstufe wird vergeben für "Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, u.ä, nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten, Berichte von Expertenkommitees und Konsensuskonferenzen" (vgl. Verfahrensordnung des G-BA, Kapitel II § 11 Abs. 3).
Daher wurde z.B. auch durch ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDS) vom 6. Oktober 2011, aktualisiert am 15. Januar 2015, der Schluss gezogen, die Ergebnisse aus den vorhandenen Publikationen, wie auch die Aussagen zur Liposuktion in den verfügbaren nicht evidenzbasierten Leitlinien und in zahlreichen Reviews ließen nicht die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei der Liposuktion um eine etablierte Standardtherapie handele und einen patientenrelevanten Vorteil gegenüber einer konventionellen Therapie biete (Gutachten Seite 45). Dieses Gutachten ist mittlerweile im Internet nicht mehr verfügbar. Nach Auskunft des MDS vom 26. Februar 2020 wurde das Gutachten 2019 oder 2020 von der Homepage des MDS entfernt, weil die sozialmedizinischem Empfehlungen aufgrund aktueller Beschlüsse des G-BA zur Liposuktion bei Lipödem nicht mehr aktuell seien (E-Mail des MDS vom 25. und 26. Februar 2020, Blatt 67 ff. Finanzgerichtsakte).
Auch das - mittlerweile entfernte - Gutachten der Abteilung Fachberatung Medizin des G-BA vom 23. November 2015 zum aktuellen Wissensstand zum Lipödem kam zu dem Ergebnis, dass den vorhandenen Publikationen keine Hinweise auf eine generelle Unwirksamkeit oder Schädlichkeit der Methode Liposuktion zu entnehmen seien (Seite 17). Allerdings könne sich die Einschätzung der S 1 Leitlinie nicht auf methodisch hochwertige Primärstudien stützen (Seite 16; vgl. zum ganzen: Zusammenfassende Dokumentation des GBA Beratungsverfahren nach §§ 135 Abs. 1, § 137c SGB V, Liposuktion bei Lipödem (im folgenden Dokumentation), S. 44 ff; https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4515/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD.pdf.
d) Auf Antrag der Patientenvertretung findet seit dem Jahr 2014 ein Bewertungsverfahren der Methode Liposuktion durch den G-BA statt, das mit Beschluss vom 20. Juli 2017 zur Durchführung einer Erprobungsstudie ausgesetzt wurde (dazu unten dd). Zu entscheiden ist die Frage, ob die Liposuktion Kassenleistung werden soll. Bewertet werden der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit dieser Behandlungsmethode. Die in diesem Verfahren eingereichten Stellungnahmen geben Aufschluss über den Stand der Wissenschaft vor dem 20. Juli 2017.
aa) Im Rahmen des Bewertungsverfahrens waren bereits im Jahr 2015 in Form von Fragebögen Stellungnahmen von Experten und Privatpersonen eingeholt worden, aus denen sich folgendes ergibt (Darstellung nicht abschließend; Im einzelnen wird auf die Anlage zur Zusammenfassenden Dokumentation Liposuktion bei Lipödem (ohne Seitenzahlen) verwiesen: https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4689/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD-Anlage.pdf.
- Professor Dr. Wollina, Klinik für Dermatologie und Allergologie des Städtischen Klinikums Dresden, äußerte sich am 3. April 2015 dahingehend, eine Liposuktion sei bei Progress der Krankheit und bei Intolerabilität der KPE angezeigt. Keine andere Therapieform sei in der Lage, die Schmerzhaftigkeit rasch und dauerhaft zu verbessern, die Gelenkbeweglichkeit zu erhalten und der Gonarthrose vorzubeugen und die Risiken des metabolischen Syndroms zu mindern. Es existiere derzeit keine andere medikamentöse, physikalische oder chirurgische Methode, das Lipödem nachhaltig zu bessern. Die Methode der KPE seien nur von sehr begrenzter Wirksamkeit; Schmerzen und Progredienz der Erkrankung könnten nicht beseitigt werden. Eine Liposuktion bei Lipödempatientinnen sei nicht mit der ästhetischen Liposuktion bei gesunden jungen Menschen gleichzusetzen.
- Professor Manuel Cornely, Gründungspräsident des Berufsverbandes für Lymphologie, äußerte sich am 9. April 2015 dahingehend, dass der Einsatz des Liposuktionsverfahrens immer medizinisch indiziert sei. Es handele sich niemals um eine kosmetische Indikation. Aus therapeutischer Sicht sei die medizinische Notwendigkeit durch die nachfolgend lebenslange Beschwerdefreiheit und daraus folgend den Verzicht auf lebenslange KPE begründet. Bei mangelnder Erfahrung sei die Abgrenzung zur Fettleibigkeit schwierig. Es fehlten ausgebildete Lymphologen.
- Dr. Thorsten Matthes, Chefarzt des Krankenhauses Tabea in Hamburg, führt am 14. April 2015 aus, die Liposuktion sei der "Goldstandard" zur Behandlung der Liposuktion. Ab Stadium II der Erkrankung sei die Liposuktion neben weiterführenden Allgemeinmaßnahmen und KPE indiziert. Es existierten keine Behandlungsalternativen.
- Frau Dr. Reich-Schupke von der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie teilte in ihrer Stellungnahme vom 16. April 2015 mit, es lägen mittlerweile Daten über einen Zeitraum von 20 Jahren vor. Das Behandlungsergebnis bei Liposuktion sei bei entsprechender Compliance nachhaltig,
- Der Berufsverband der Deutschen Dermatologen äußerte sich am 20. April 2015 dahingehend, dass nach 20jähriger Erfahrung mit der Liposuktion feststehe, dass das Ergebnis nachhaltig sei und das Fortschreiten der Erkrankung gestoppt werden könne. Es seien sich alle Experten einig, dass beim Lipödem krankhaft verändertes Fettgewebe vorliege. Zur Entfernung dieses Fettgewebes stehe derzeit nur die Liposuktion als geeignetes Verfahren zur Verfügung. Die Leitlinien-Experten-Gruppe sei sich darin einig, dass die Liposuktion beim Lipödem eine wirksame Therapie darstelle. Die Empfehlung zur Liposuktion erfülle nach derzeitigem Stand den Evidenzgrad Klasse IIb (optional anwendbar, gut bewiesener Vorteil, Therapiealternative für Erfahrene).
- Die Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie, Frau Dr. Anya Miller vertrat am 20. April 2015 die Auffassung, die Liposuktion sei zu empfehlen, wenn die konservative Therapie nicht ausreichend sei. Bei der Liposuktion reduzierten sich die Beschwerden der Betroffenen bis hin zur Beschwerdefreiheit. Die Beweglichkeit und die Lebensqualität würden gesteigert. Hierdurch seien die Betroffenen auch in der Lage, zur Verminderung oder Vermeidung von Adipositas Sport zu betreiben.
- Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Lymphologen, Dr. Klaus Schrader, gab am 24. April 2015 an, eine Liposuktion solle erwogen werden, wenn bei guter Adhärenz eine konsequent durchgeführte konservative Behandlung nicht zur Schmerz- und Ödemfreiheit führe und die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in einem nicht hinnehmbaren Maße eingeschränkt sei. Es gehe nicht um den kosmetischen Aspekt, auch wenn sich die betroffenen Frauen schlankere Beine wünschten. Entscheidungskriterien seien Schmerz und Ödem. Die Liposuktion sei, wie sie in Deutschland ausgeführt werde, keine kosmetische Operation.
- Dr. med. Falk-ChristianHeck (seit Mai 2013 ausschließlich Therapie des Lipödems, im Jahr 2014 ca. 300 durchgeführte Liposuktionen) gab am 26. April 2015 an, die konservative Behandlung führe nicht zu einer richtungsweisenden und nachhaltigen Verbesserung der Lipödem-Erkrankung. Da die Natur des Krankheitsverlaufs bekannt sei, sei die operative Therapie in jedem Stadium zu empfehlen, wenn der entsprechende Leidensdruck vorhanden sei. Im Gegensatz zu der nur symptomatischen Wirkung der konservativen Behandlung sei die Liposuktion nachhaltig wirksam.
- Die Deutsche Gesellschaft für Wundheilung, vertreten durch Herrn Dr. Gerson Strubel vertrat am 29. April 2915 die Auffassung, eine Indikation zur Liposuktion könne bei jedem Schweregrad, vor allen in den Stadien I und II erwogen werden. Bei 99,1 % der Patientinnen habe sich nach Liposuktion eine hochsignifikante Verbesserung ergeben. Bemerkenswert sei, dass die meisten Patientinnen in einer Untersuchung sich zuvor einer langjährigen leitliniengerechten konservativen Therapie unterzogen hätten, so dass sich daraus ein indirekter, den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin nicht genügender Hinweis auf eine mögliche Überlegenheit der operativen Maßnahme entnehmen lasse. Die Entfernung des Lipödem Fettes sei zuverlässig, sicher und wohl auch anhaltend aktuell nur durch die Liposuktion möglich.
- Die Gesellschaft deutschsprachiger Lymphologen vertrat in ihrer Stellungnahme vom 30. April 2015 die Auffassung, dass die Liposuktion praktisch eine kausale Therapie gegen das Lipödem sei, denn mögliche Ursache könne eine genetische oder epigenetische Entwicklungsstörung der kutanen Adipzyten sein. Die Liposuktion führe zu einem verminderten Umfang konservativer Therapien.
bb) Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse gab es im Verfahren beim G-BA zunächst verschiedene Auffassung über die Anerkennung der Behandlungsmethode:
(1) Der GKV-SV (Spitzenverband Bund der Krankenkassen) hatte sich in einem Entwurf vom 9. Juni 2016 unter Berufung auf das Gutachten der Abteilung Fachberatung Medizin des G-BA wegen der bestehenden Evidenzlücke dagegen ausgesprochen, die Liposuktion ohne Erprobungsstudie als Kassenleistung anzuerkennen (Dokumentation S. 34).
(2) Der Entwurf der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie der Patientenvertretung (Stand 9. Juni 2016) sah hingegen vor, dass die Liposuktion unter bestimmten Voraussetzungen zulasten der Krankenkassen erbracht werden solle (Dokumentation Seite 52 ff. 59). Alle ausgewerteten Studien hätten einen gleichgerichteten positiven Effekt der Liposuktion ergeben. Die nach der Verfahrensordnung (Kapitel 2 § 13) erforderliche Abwägung ergebe, dass Studien einer höheren Evidenzstufe nicht gefordert werden müssten. Denn das Lipödem sei eine im Orphanet gelistete seltene Erkrankung, für die eine Therapie zur Heilung der Erkrankung nicht bekannt sei. Die konservativen Therapien könnten lediglich die Begleiterscheinungen lindern und die Progredienz verlangsamen. Bei der Betrachtung der medizinischen Notwendigkeit sei offenkundig, dass diese in allen wesentlichen Aspekten gegeben sei; insbesondere handele es sich bei der Liposuktion aufgrund der realisierbaren dauerhaften Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes um eine ansatzweise kurative Behandlungsstrategie. Der Ansatz der Liposuktion, der mehrheitlich über viele Jahre zu Befundbesserungen oder Therapiefreiheit führen könne, stelle sich daher als alternativlos dar. Die zur Nutzenbewertung herangezogenen Studien seien der Evidenzstufe IV zuzuordnen und zeigten trotz der methodischen Mängel einen gleichgerichtet positiven Effekt. Der potentielle Nutzen der Methode stehe zu den festgestellten Risiken der Anwendungen in einem so günstigen Verhältnis, dass die Empfehlung der Behandlung gerechtfertigt werden könne.
In der Gesamtabwägung nach der mündlichen Anhörung verließen die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung ihre ursprüngliche Position und hielten eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf eine Erprobungsstudie für sachgerecht (Dokumentation, Seite 125).
cc) Ganz überwiegend vertraten die im Verfahren des G-BA im Jahr 2016 angehörten Institutionen die Auffassung, dass die Liposuktion den Patientinnen eine sinnvolle Therapie zur Behandlung des Lipödems sei. Im einzelnen wird auf die Anlage zur Zusammenfassenden Dokumentation Liposuktion bei Lipödem (ohne Seitenzahlen) verwiesen https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4689/2017-07-20-KHMe-RL-Liposuktion-ZD-Anlage.pdf.
Beispielhaft sind folgende Stellungnahmen zu nennen:
- Die Bundesärztekammer schloss sich mit Stellungnahme vom 22. Juli 2016 dem Entwurf von KBV, DKG und Patientenvertretung an und empfahl dem G-BA eine Aufnahme der Therapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen.
- Die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie verwies in ihrer Stellungnahme vom 11. Juli 2016 auf die geltende AWMF S1 Leitlinie 037/12, in der die Liposuktion als mögliche Therapieform des Lipödems genannt wurde (s. oben a). Die Kombination von konservativen und operativen Therapiemaßnahmen ermögliche eine ausgeprägte Befind- und Beschwerdeverbesserung. Primär solle ein Therapieversuch mit konservativen Maßnahmen unternommen werden. Bleibe eine Besserung der Beschwerden aus, sei die Liposuktion zu erwägen. Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie solle eine leitliniengerechte Therapie auch gesetzlich versicherten Patienten zugänglich sein. Die Gesellschaft präferiere daher den Entwurf von DKG, KBV und PatV.
- Die deutsche Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC) sprach sich in ihrer Stellungnahme vom 21. Juli 2016 in Absprache mit der deutschen Gesellschaft für Wundbehandlung und der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft ebenfalls für den Entwurf der DKG, KBV und Patientenvertreter aus und schlug ein strukturiertes Behandlungsprogramm gemäß § 137 f. SGB V zur Erhebung von Daten vor, die kurz-, mittel- und langfristig Aufschlüsse über die Ergebnisse und Komplikationsraten geben könnten.
- Die Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e.V. sprach sich in der Stellungnahme ebenfalls für die Aufnahme der Liposuktion in den Leistungskatalog der Krankenversicherungen entsprechend dem Entwurf der DKG, der KBV und der Patientenvertretung aus.
- Die Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation eV begrüßte in der Stellungnahme vom 10. August 2016 den Vorschlag des GKV-Spitzenverbandes, durch den die weitere Beratung zur Methode der Liposuktion für die Dauer einer Erprobungsstudie ausgesetzt werden sollte. Es gebe bislang keine ausreichenden Aussagen zu den Langzeitergebnissen der Liposuktion. Es würden dringend Studien höherer Ergebnisqualität benötigt. Die konservativen Methoden würden häufig nicht ausgeschöpft, Aussagen zur Unwirksamkeit vorschnell getroffen. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen Adipositas und Lipödem. Die Liposuktion stelle aber keine Adipositastherapie dar. Das Lipödem sei auch keine seltene Erkrankung; daher könne eine Erprobungsstudie mit Erfolg in realistischer Zeit durchgeführt werden.
dd) Mit Beschluss vom 20. Juli 2017 wurde das Verfahren des G-BA ausgesetzt, um eine Erprobungsstudie zur Bewertung der Liposuktion in Auftrag zu geben. Diese Erprobungsstudie wird wohl nicht vor Ende 2024 abgeschlossen sein. Im Beschluss vom 20. Juli 2017 wurde der Behandlungsmethode das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsmethode zugebilligt; allerdings sei bislang der Nutzen noch nicht hinreichend belegt. Der G-BA führt aus:
"Die Voraussetzungen für einen hinreichenden Nutzenbeleg der Liposuktion bei Lipödem gemäß G-BA Verfahrensordnung sind nicht erfüllt. Die wenigen gefundenen Studien ensprechen der Evidenzklasse IV. Die darin beschriebenen Ergebnisse werden vom G-BA in ihrer Ergebnissicherheit als nicht ausreichend bewertet, um damit bereits abschließend den Nutzen bewerten zu können (...) Auf Basis der gefundenen Studien kann jedoch das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative angenommen werden. Bei allen bestehenden methodischen Limitationen (keine Kontrollgruppen, hoher Anteil fehlender Daten) geben die berichteten Ergebnisse Anhaltspunkte dafür, dass mindestens ein Teil der behandelten Patientinnen jedenfalls kurzfristig von der Liposuktion profitiert (..)" (tragende Gründe des Beschlusses des G-BA vom 20.7.2017, Seite 8) https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4489/2017-07-20-MVV-RL-Liposuktion-TrG.pdf.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass der G-BA in einem Beschluss vom 19. September 2019 aufgrund der Forderungen des Bundesgesundheitsministers die Liposuktion bei Lipödem im Stadium III unter bestimmten Voraussetzungen als Kassenleistung befristet bis zum 31. Dezember 2024 anerkannte: https://www.g-ba.de/downloads/39-261-3961/2019-09-19-KHMe-Liposuktion-Lipoedem-III-BAnz.pdf
Entscheidungsgründe
I. Die zulässige Klage ist begründet. Das Finanzamt hat es zu Unrecht abgelehnt, die Kosten für die Liposuktion bei der Klägerin als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid ist daher insoweit nicht rechtmäßig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Entgegen der Auffassung des beklagten Finanzamtes ist die Liposuktion bei Lipödem im Jahr 2017 nicht als "nicht wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode" iSd. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV anzusehen. Der angefochtene Bescheid war daher zu ändern. Die Berechnung der nach Abzug der zumutbaren Eigenbelastung anzuerkennenden Kosten und der Einkommensteuer wird dem Finanzamt übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
Krankheitskosten sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes - ohne Rücksicht auf Art und Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig. Es können aber nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt werden, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen. Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung sind typisierend als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, ohne dass es im Einzelfall einer Prüfung der Zwangsläufigkeit bedarf. Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung der Linderung der Krankheit angezeigt sind und vorgenommen werden, d.h. medizinisch indiziert sind (vgl. mit zahlreichen Nachweisen BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015, S. 803).
Gemäß § 33 Abs. 4 EStG iVm. § 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStDV muss der Steuerpflichtige den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall z.B. durch eine ärztliche Verordnung erbringen. Eine solche liegt im Streitfall vor. Einwendungen gegen Art und Höhe der Kosten hat das Finanzamt nicht erhoben. Zweifel hieran sind auch aus den Akten nicht ersichtlich.
2. Entgegen der Auffassung des Finanzamtes steht das Fehlen eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung der Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastung nicht entgegen.
a) Gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 Buchst. f EStDV hat der Steuerpflichtige den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendung bei wissenschaftlich nicht anerkannten Behandlungsmethoden wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlung, Sauerstoff, Chelat- und Eigenbluttherapie) durch ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zu führen. Dieser Nachweis gemäß § 64 Abs. 1 Satz 2 EStDV muss vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestellt worden sein.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ist eine Behandlung wissenschaftlich anerkannt, wenn im Zeitpunkt der Behandlung Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Dies ist nach Auffassung des Bundesfinanzhofes und des Bundessozialgerichts dann der Fall, wenn die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute die Behandlungsmethode befürwortet und über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setze - so der Bundesfinanzhof im Anschluss an das Bundessozialgericht - im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, aaO).
Um zu beurteilen, ob eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode vorliegt, ist es Aufgabe des Finanzamtes, diese Voraussetzungen aufgrund der ihm obliegenden Würdigung des Einzelfalles, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt der zu beurteilenden Behandlung, zu prüfen. Das Finanzamt und das Gericht können sich hierfür auf allgemein zugängliche Fachgutachten stützen. Will das Finanzgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, muss es die Beteiligten auf diese Absicht hinweisen und ihnen die entsprechenden Unterlagen zugänglich machen (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, aaO).
b) Die Liposuktion bei Lipödem im Jahr 2017 stellte keine "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode" dar. Der Senat stützt sich hierbei auf seine eigene Literaturrecherche, deren Ergebnis oben dargestellt ist. Die Ausführungen des Senates sind den Beteiligten mit der Ladung zur Kenntnisnahme und Stellungnahme überlassen worden (Blatt 72 ff. der Finanzgerichtsakte). Die jetzige Fassung enthält geringfügige redaktionelle Änderungen.
Der Senat hat keine wissenschaftliche Publikation finden können, die der Liposuktion bei Lipödem einen medizinischen Nutzen für die erkrankten Frauen abspricht. Im Gegenteil gehen alle vorhandenen Studien - wenn wohl auch mit nach Evidenzkriterien methodischen Mängeln - davon aus, dass eine Liposuktion medizinisch indiziert sein kann, wenn konservative Therapie nicht die gewünschte Linderung der Symptome bringt. Es ist allgemein anerkannt, dass konservative Therapien nur zur Linderung der Begleitsymptome beitragen können, dies aber häufig nicht vollständig tun und auch die Progredienz der Erkrankung häufig nicht aufhalten können.
Fast sämtliche medizinischen Fachgesellschaften, die mit der Erkrankung befasst sind, haben in dem Stellungnahmeverfahren des G-BA im Jahr 2016 die Auffassung vertreten, dass bei Lipödem eine Liposuktion in den meisten Fällen positive Wirkungen hat.
Auch der G-BA selbst hat - obwohl das Verfahren zur Durchführung einer Erprobungsstudie ausgesetzt ist - das Potential der Methode bestätigt. Er hat ihr nicht - wie z.B. bei der Mehrschritt Sauerstofftherapie (s. dazu unten) - die medizinische Wirksamkeit abgesprochen.
c) Es mag zutreffen, dass die Studien, die den medizinischen Nutzen der Liposuktion bei Lipödem belegen, in der evidenzbasierten Medizin einen niedrigen Grad haben, gleichwohl liegt ein Beweis nach Evidenzkriterien vor. Ein bestimmter Evidenzgrad für die wissenschaftliche Anerkennung ist in § 64 EStDV nicht vorgesehen.
d) Ob die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlungskosten der Liposuktion generell oder nur in Einzelfällen übernehmen oder nicht, ist für die Beurteilung der Frage der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV nicht bindend, da es insoweit auch um andere Aspekte geht (die Methode muss nach der Bewertung durch den G-BA gemäß § 137c SGB V als für eine ausreichende zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten erforderlich angesehen werden, vgl. Dokumentation, S. 1). Eine fehlende Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkasse ist sogar Voraussetzung für eine Geltendmachung als außergewöhnliche Belastung, da sonst eine Belastung des Steuerpflichtigen nicht vorliegt.
e) Der Senat schließt auch aus den in § 64 Abs. EStDV beispielhaft aufgezählten Behandlungsmethoden, dass es sich bei wissenschaftlich nicht anerkannten Behandlungsmethoden nach der Intention des Gesetzgebers um Methoden handelt, deren medizinischer Nutzen zur Heilung und Linderung von Krankheiten wissenschaftlich widerlegt ist. Dies gilt zum Beispiel bei Trocken- und Frischzellenbehandlungen, die als Anti-Aging-Mittel eingesetzt werden und Wissenschaftlern als unwirksam und gefährlich gelten, ( https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Frischzellen-Therapie-Unwirksam- und-gefaehrlich,frischzellentherapie100.html ). Ähnliches gilt für Eigenblutbehandlungen, deren Nutzen bisher in keiner Studie wissenschaftlich belegt werden konnte, und die lediglich die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren sollen (https://web.archive.org/web/20070929101338/http://www.ikk.de/ikk/generator/ikk/fuer-medizinberufe/aerzte/3444.pdf ). Auch die Chelat-Therapie ist eine Methode zur Verzögerung der Alterung, deren Nutzen in keiner Studie wissenschaftlich belegt ist https://de.wikipedia.org/wiki/Chelat-Therapie#cite-note-pmid11266328-5. Bei der Sauerstofftherapie, die bei einer Vielzahl von Krankheiten helfen soll (Sauerstoffmehrschritttherapie nach Ardenne) sind Nutzen und Wirksamkeit der Therapie nicht wissenschaftlich belegt https://www.g-ba.de/downloads/40-268-251/HTA-Sauerstoff-Mehrschritt-.pdf.
Mit diesen "Katalogmethoden", die nicht nur zur Heilung von Krankheiten eingesetzt werden können, sondern auch als eine "den Organismus nur kräftigende vorbeugende Maßnahme" darstellen (so BFH-Urteil vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, BStBl. I 1981, S. 711 zur Frischzellentherapie) ist die Liposuktion bei Lipödem nach dem oben gesagten nicht einmal ansatzweise vergleichbar und zwar weder im Hinblick auf die wissenschaftliche Anerkennung der Methode noch im Hinblick auf das zugrunde liegende Krankheitsbild und den damit einhergehenden Leidensdruck der betroffenen Frauen.
f) Nach den oben dargestellten Stellungnahmen der Wissenschaft handelt es sich bei der Liposuktion auch um keine kosmetische Operation, die nicht medizinisch indiziert sind (vgl. hierzu zB BFH-Beschluss vom 24. November 2006 III B 57/06, BFH/NV 2007, s. 438). Ziel ist nicht eine optische Verschönerung der Patientinnen, sondern die Heilung von Schmerzen und die Vermeidung von Sekundärerkrankungen. Ferner dient die Liposuktion dazu, die - häufig nutzlose und die Patientinnen erheblich einschränkende und belastende - konservative Behandlung zu reduzieren oder sogar überflüssig zu machen. Dies ergibt sich aus den unter II zitierten Stellungnahmen der mit der Behandlung des Lipödems befassten Wissenschaftler.
g) Zutreffend führt das Finanzamt an, dass in der bisherigen finanzgerichtlichen Rechtsprechung die Liposuktion bei Lipödem einkommensteuerlich als "wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode" angesehen worden ist (vgl. z.B. Finanzgericht Baden-Württemberg vom 27. September 2017 7 K 1940/17, EFG 2017, S. 1954 - Streitjahr 2007; FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 1. Oktober 2014 2 K 272/12, EFG 2015, 33 sowie BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BStBl. II 2015, 803 - Streitjahr 2010). Diese Entscheidungen stützen sich zur Beurteilung der wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode auf das Gutachten "Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen vom 6. Oktober 2011 mit Aktualisierung vom 15. Januar 2015.
Die Entscheidungen sind auf das Streitjahr 2017 nicht übertragbar. Der Stand der Wissenschaft befindet sich in stetem Wandel. In dem für die Klägerin maßgebenden Jahr 2017 sind zur Beurteilung der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung der Behandlungsmethode auch die Stellungnahmen der Fachgesellschaften im Bewertungsverfahren des G-BA zu berücksichtigen, die weder dem Finanzgericht Baden-Württemberg und noch dem Finanzgericht Schleswig-Holstein und dem BFH bei ihren Entscheidung nicht vorgelegen haben dürften. Das Gutachten des MDK, auf das sich die genannten Entscheidungen berufen, ist von der erstellenden Institution selbst zurückgezogen worden, wobei unklar ist, ab welchem Zeitpunkt es als wissenschaftlich überholt zu gelten hatte (s.o.).
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Entscheidung über die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten ergibt sich aus § 139 Abs. 3 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.