25.08.2011 · IWW-Abrufnummer 112922
Bundesfinanzhof: Urteil vom 12.04.2011 – VII R 5/10
Behält die Prüfungsbehörde ein vom Prüfling angefertigtes Konzept für seinen mündlichen Vortrag und seine Mitschrift des Prüfungsablaufs ein und vernichtet diese vor Bestandskraft der Prüfungsentscheidung, kann der Prüfling Anspruch auf Wiederholung der mündlichen Prüfung haben, sofern er glaubhaft macht, dass ihn die Vernichtung dieser Unterlagen in seinen Möglichkeiten, Rechtsschutz gegen die Bewertung seiner Leistungen zu erlangen, wesentlich beeinträchtigt.
Gründe
I.
1
Die als Rechtsanwältin zugelassene Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist bei der zweiten Wiederholung der Steuerberaterprüfung gescheitert. Die Leistungen der Klägerin in der schriftlichen Prüfung wurden jeweils mit der Note 4,5 bewertet. In der mündlichen Prüfung am 12. Februar 2008 wurden von dem bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Landesamt) gebildeten Prüfungsausschuss für den Kurzvortrag der Klägerin die Note 3,5 und für die folgenden sechs Prüfungsabschnitte viermal die Note 4,5 und zweimal die Note 4,0 vergeben. Aufgrund der Endnote von 4,35 entschied der Prüfungsausschuss, dass die Klägerin die Steuerberaterprüfung nicht bestanden habe. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses gab dieses Ergebnis der Klägerin im Anschluss an die mündliche Prüfung mit Begründung der Gesamtnote bekannt.
2
In dem --auf Veranlassung der Klägerin durchgeführten-- außergerichtlichen Überdenkungsverfahren hielten die Prüfer an ihrer Bewertung fest.
3
Die Klägerin hat gegen die Prüfungsentscheidung Klage erhoben, mit der sie sich gegen die Bewertung ihrer mündlichen Prüfungsleistungen wendet. Sie macht geltend, dass der Prüfungsausschuss ihr gegenüber voreingenommen gewesen sei, dass der Notenvergabe ein Ermessensfehlgebrauch zu Grunde liege und dass die Prüfungskommission gegen den Grundsatz der Fairness, der Sachlichkeit, der Gleichbehandlung und der Chancengleichheit verstoßen habe. Ferner stelle die Vernichtung der von ihr über die Prüfung angefertigten Unterlagen --Manuskript für ihren Kurzvortrag und Protokoll des weiteren Verlaufs der mündlichen Prüfung--, deren Herausgabe ihr nach Bekanntgabe des Ergebnisses vom Vorsitzenden des Prüfungsausschusses verweigert worden sei, eine vorsätzliche Beseitigung von Beweismitteln dar. Die Vernichtung ihrer Aufzeichnungen, über die sie das Landesamt mit Schreiben vom 7. März 2008 unterrichtet hatte, vereitele eine effektive gerichtliche Kontrolle, weshalb die Prüfung zu wiederholen sei.
4
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 824 veröffentlichten Gründen abgewiesen.
5
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass das Urteil des FG Bundesrecht verletze. Das FG habe ihren Aufzeichnungen jegliche Relevanz abgesprochen. Dies stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), das in seinem Beschluss vom 18. Februar 2003 6 B 10/03 festgestellt habe, dass im Fall der Beweisvereitelung durch die Prüfungsbehörde --dem in § 444 der Zivilprozessordnung zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken folgend-- die Nichterweislichkeit von Prüfungsfehlern nicht zu Lasten des Prüflings gehe.
6
Das Landesamt verweist auf den Beschluss des BVerwG vom 31. März 1994 6 B 65/93 (Deutsches Verwaltungsblatt 1994, 641), woraus sich ergebe, dass der Klägerin die prozessüblichen Beweismittel wie Zeugen- und Parteivernehmung zur Verfügung stehen. Die in den Akten befindliche Prüfungsniederschrift entspreche den Vorgaben der Rechtsprechung, wonach eine über die Anforderungen der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften (DVStB) hinausgehende Protokollierung nicht notwendig sei. Da in einer mündlichen Prüfung entscheidend sei, was wie gesagt wird, könnten schriftliche Notizen --im Gegensatz zur Zeugen- und Parteieinvernahme-- keine unmittelbaren Beweismittel für den Inhalt des Prüfungsgesprächs sein. Auch liege dem von der Klägerin angeführten Beschluss des BVerwG vom 8. November 2005 6 B 45/05 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, 478) ein Sonderfall zu Grunde, bei dem die vom Prüfling in der mündlichen Prüfung angefertigten Notizen Teil der zu bewertenden Leistung gewesen seien. Dass die Notizen des Prüflings keineswegs einen Indizien- oder Beweiswert haben, zeige sich daran, dass Prüflinge beim mündlichen Vortrag die angefertigten umfangreichen Redekonzepte meist aus Zeitmangel nur verkürzt vortragen.
II.
7
Die Revision der Klägerin ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).
8
1.
Die Auffassung des FG, das von einem Prüfling zur Vorbereitung seines Kurzvortrags angefertigte Konzept sowie ein von ihm während der Prüfung erstelltes Protokoll über deren Verlauf seien für ein Rechtsschutzverfahren wegen der Bewertung der Prüfungsleistungen ohne Bedeutung, weil solche Unterlagen keinen "sicheren" Nachweis über die Leistungen des Prüflings erbrächten, ist nicht frei von Rechtsirrtum.
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Solche Unterlagen sind vielmehr zunächst als Beweismittel von Bedeutung. Denn weder die Notizen, die der Prüfling für seinen Kurzvortrag erstellt hat, noch seine Mitschrift des Prüfungsablaufs sind für eine spätere Rekonstruktion des Prüfungsablaufs völlig ungeeignet; sie sind vielmehr grundsätzlich geeignet, Beweis für seinen Vortrag und den Prüfungsablauf zu erbringen. Zwar erbringt ein Konzept für den Aktenvortrag Beweis lediglich für eine Indiztatsache, nämlich dass sich der Prüfling entsprechend vorbereitet hatte. Insofern trifft zu, dass es keinen "sicheren" Beweis für den tatsächlichen Inhalt des mündlich Vorgetragenen darstellt. Indes teilt es dieses Schicksal mit jeder Art Indiz, über das Beweis zu erheben der Tatrichter gleichwohl nur ausnahmsweise dann ablehnen darf, wenn er sich selbst bei Erweislichkeit der Indiztatsache von vornherein außer Stande sieht, den erforderlichen Schluss auf die Haupttatsache zu ziehen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. September 1988 II R 76/86, BFHE 155, 157, BStBl II 1989, 150, sowie Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz 51, m.w.N.). Ob eine dahingehende (ausnahmsweise zulässige vorweggenommene) Würdigung vom FG vorgenommen worden ist, kann den Urteilsgründen nicht sicher entnommen werden. Es ist deshalb zugunsten der Klägerin zu unterstellen, dass das FG die Beweiseignung des vorgenannten Protokolls grundsätzlich verneinen wollte, was seine tatsächliche W ürdigung rechtsfehlerhaft macht.
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Ob im Übrigen eine dahingehende Würdigung sich in den Grenzen hielte, die der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung gesetzt sind, bedarf daher keiner weiteren Erörterung. Soweit das von der Klägerin angefertigte Protokoll ebenfalls indizielle Bedeutung hat, weil es Beweis darüber erbringt, wie die Klägerin während der Prüfung deren Ablauf wahrgenommen hat, wäre dies zumindest zu prüfen.
11
2.
Allerdings ergeben die weiteren Ausführungen des Urteils des FG, dass dieses auf der (unterstellten) Verkennung der Beweiseignung vorgenannter Aufzeichnungen nicht beruht. Denn das FG hat das gesamte Vorbringen der Klägerin über den Prüfungsablauf als wahr unterstellt. Folglich hätte sein Urteil nicht anders ausfallen können, wenn es sich anhand der von der Klägerin gefertigten Aufzeichnungen von der Richtigkeit ihres Vorbringens hätte überzeugen können.
12
3.
Die von einem Prüfling über seinen Kurzvortrag und den Prüfungsablauf angefertigten Unterlagen haben indes nicht nur für seine Beweisführung bei streitigen Behauptungen hierzu Bedeutung. Sie haben vielmehr auch noch eine andere Bedeutung für ein etwaiges Überdenkungs- und ein daran ggf. anschließendes Klageverfahren.
13
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 1999 VII R 35/98, BFHE 187, 373, BStBl II 1999, 242) wird von einem Prüfling, will er die Bewertung seiner Prüfungsleistungen angreifen, eine substantiierte Begründung seiner Einwendungen verlangt. Unterlagen, wie sie die Klägerin angefertigt hat, werden dem Prüfling in der Regel behilflich oder für ihn sogar unentbehrlich sein, um sein Begründungsverlangen in dieser Weise zu substantiieren und damit die Bewertung seiner mündlichen Leistungen anzugreifen.
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Das Gebot der Verfahrensfairness und der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gebieten deshalb im Regelfall, Unterlagen wie ein Konzept des mündlichen Vortrags und eine Mitschrift des Prüfungsablaufs, die der Prüfling angefertigt und der Prüfungsbehörde nach Beendigung der mündlichen Steuerberaterprüfung übergeben hat, nicht vor Bestandskraft der Prüfungsentscheidung zu vernichten. Zwar ist --entgegen der in § 32 Satz 1 DVStB a.F. (jetzt § 32 Abs. 1 Satz 1 DVStB) vorgeschriebenen Pflicht zur zweijährigen Aufbewahrung der schriftlichen Aufsichtsarbeiten-- die Aufbewahrung der handschriftlichen Notizen des Prüflings weder im Steuerberatungsgesetz noch in der DVStB vorgeschrieben (vgl. Senatsbeschlüsse vom 26. Juni 2006 VII B 255/05, BFH/NV 2006, 1889; vom 30. Juni 1995 VII B 175/94, BFH/NV 1996, 180; Urteile des Senats in BFHE 187, 373, BStBl II 1999, 242; vom 30. April 1996 VII R 128/95, BFHE 180, 485, BStBl II 1997, 149). Wenn jedoch die Prüfungsbehörde gleichwohl die vom Prüfling angefertigten Unterlagen nach Abhalten des Kurzvortrags bzw. nach Beendigung der mündlichen Prüfung einbehält, muss sie sicherstellen, dass diese Unterlagen zu den Prüfungsunterlagen genommen und zusammen mit diesen aufbewahrt werden. Zwar kann sich die --nach Beendigung der mündlichen Prüfung erfolgte-- Vernichtung dieser Unterlagen schon denknotwendig nicht auf das Prüfungsergebnis und die Prüfungsentscheidung selbst auswirken, sie beeinträchtigt aber jedenfalls die Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings, die Prüfungsentscheidung im Überdenkungs- und Klageverfahren überprüfen zu lassen.
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Vernichtet die Prüfungsbehörde die von ihr dem Prüfling abverlangten Unterlagen vor Bestandskraft der Prüfungsentscheidung, steht dem Prüfling grundsätzlich ein Anspruch auf Wiederholung der mündlichen Prüfung zu, wenn er glaubhaft macht, dass er für die Substantiierung seiner Einwendungen diese Unterlagen benötigt hätte, wobei sich begreift, dass in diesem Zusammenhang von ihm ins Einzelne gehende Darlegungen zum mutmaßlichen Inhalt der betreffenden Unterlagen in der Regel nicht erwartet werden können. Ebenso wenig wird im Allgemeinen zu verlangen sein, dass der Prüfling --wozu das FG keine Feststellungen getroffen hat-- bereits unmittelbar im Anschluss an die Eröffnung des Prüfungsergebnisses Einwendungen gegen die Bewertung seiner Leistungen geltend gemacht oder angekündigt oder wenigstens ausdrücklich darauf hingewiesen hat, die Bewertung anhand seiner Aufzeichnungen überprüfen zu wollen.
16
4.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich freilich, dass der Prüfling trotz verfahrensfehlerhafter Vernichtung der von ihm angefertigten Unterlagen dann keinen Anspruch auf Wiederholung der mündlichen Prüfung herleiten kann, wenn durch die Vernichtung seine Rechtsschutzmöglichkeiten offensichtlich nicht wesentlich beeinträchtigt worden sind. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn auszuschließen ist, dass die vernichteten Unterlagen Angaben enthalten haben, deren dem Prüfling anderweit nicht zugängliche Kenntnis ihn in die Lage versetzt hätte, im Überdenkungs- bzw. Klageverfahren (ggf. weitere) Erfolg versprechende Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen vorzutragen.
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5.
Ob solche Umstände im Streitfall vorliegen, wird das FG im zweiten Rechtsgang aufzuklären und zu entscheiden haben. Denn es handelt sich um eine auf tatsächlichem Gebiet liegende Frage, welche der tatrichterlichen Würdigung vorbehalten bleiben muss. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass der von der Klägerin im Revisionsverfahren sinngemäß aufgestellten Behauptung, dass ihr ihre Aufzeichnungen für die Konkretisierung oder Ergänzung ihrer Einwände gegen die Prüfungsentscheidung hätten nützlich sein können, der Umstand entgegensteht, dass sie den Verlauf sämtlicher Prüfungsrunden auch ohne die vernichteten Unterlagen offenbar detailliert aus der Erinnerung wiederzugeben imstande ist. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass eine Einsicht in jene Aufzeichnungen die Klägerin instand setzen könnte, Erfolg versprechende weitere Einwendungen gegen die Bewertung ihrer Leistungen zu erheben, sind jedenfalls für den erkennenden Senat bislang nicht erkennbar.