Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

· Fachbeitrag · Betreuung

Werdenfelser Weg: Effektiv überflüssige freiheitsentziehende Maßnahmen vermeiden

von Rechtsanwaltsfachangestellter Christian Noe B.A., Leipzig

| Allein 2015 genehmigten deutsche Gerichte rund 60.000 freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM). Besonders häufig sind Bewohner in Heimen betroffen. Die seit Jahren erfolgreiche Initiative des Werdenfelser Weges reduziert die Maßnahmen mit speziell geschulten Verfahrenspflegern. Von seinen Schulungen und dem bundesweiten Netzwerk profitieren auch Heimleiter. Die gute Nachricht für sie: Es hat sich eine gefestigte, pflegefreundliche Rechtsprechung zu Haftungsfragen entwickelt. Gerichte haben erkannt, wie wichtig es ist, die Mobilität der Betroffenen zu erhalten. |

1. Warum ein „Werdenfelser Weg“?

Fixierungsmaßnahmen finden sowohl in Heimen als auch in Krankenhäusern statt. Hierunter fallen körpernahe Fixierungen mit Gurten, Bettgittern oder das nächtliche Einschließen. Gurtfixierungen führten dabei auch zu tödlichen Unfällen von Heimbewohnern. Die Initiative „Werdenfelser Weg“ will:

 

  • Mängel in den Entscheidungsprozessen (Genehmigungen von Fixierungen durch Betreuungsgerichte) beseitigen,
  • die Maßnahmen so stark wie möglich reduzieren helfen,
  • Personen vernetzen, die sich berufsmäßig mit Fixierungen und Freiheitsentziehungen beschäftigen müssen und diese vermeiden wollen.

 

Zu der letztgenannten Gruppe zählen Heimleiter, Pflegekräfte, Betreuungsrichter und natürlich Notare und Rechtsanwälte.

 

PRAXISHINWEIS | Heimleiter sollten das Projekt kennen, da im Netzwerk des Werdenfelser Weges ein kontinuierlicher Austausch über Erfolg und Verbesserung stattfindet, wenn es darum geht, freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) zu vermeiden und Haftungsrisiken auszuschließen.

 

Zwischenzeitlich fördern immer mehr Einrichtungen die Fixierungsvermeidung in der hauseigenen Pflegekultur und nutzen oder entwickeln geeignete Alternativen. Hierzu gehören z. B.:

 

  • Niedrigflurbetten, Matten mit Sensorchips, die das Aufstehen weglaufgefährdeter Patienten melden, Transpondertechnik (selektiver Türverschluss)
  • Pflegeoveralls, Fallschutzmatten,
  • Bewegungsdrang mit Mobilitätsangeboten begegnen (Sportgruppen, bewegungsreiche Tagesgestaltung) und
  • Sturzprophylaxe (Hüftschutzhosen, Stoppersocken, Gehwagen).

 

Nutzen Sie als Heimleiter in engem Austausch mit Ihrem Team diese Initiative ‒ und informieren Sie sich, inwieweit sie FEM aktiv vermeiden können.

2. Speziell geschulte Verfahrenspfleger

Ein Kern der Initiative stellt die spezielle Schulung von Verfahrenspflegern dar. Fixierungs- bzw. freiheitsentziehende Maßnahmen müssen von dem zuständigen Betreuungsgericht genehmigt werden. In diesem Genehmigungsverfahren ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers gesetzlich vorgeschrieben (§ 317 FamFG).

 

Früher wurden in der Regel Rechtsanwälte als Verfahrenspfleger ausgewählt. Das Problem dabei: Sowohl die Richter als auch die bestellten Rechtsanwälte verfügten über wenig oder gar keine medizinischen Kenntnisse aus dem Heimalltag und hinsichtlich des Einsatzes von FEM in der Praxis.

 

Wichtig | Häufig wurden gerichtliche Genehmigungen erteilt, ohne dass eine umfassende, inhaltliche Prüfung stattfand, denn geeignete Alternativen setzen pflegerisches Fachwissen und die Erfolge von Alternativen aus eigener Beobachtung voraus. Hier ist die Sachkenntnis bei den Betreuungsgerichten in den letzten Jahren signifikant gewachsen.

 

Der Werdenfelser Weg informiert über Basis- und Aufbauschulungen für Verfahrenspfleger nach seinem Konzept, mit dem Ziel:

 

  • Pflegefachkräfte zu spezialisierten Verfahrenspflegern fortzubilden und mit dem gerichtlichen Genehmigungsverfahren vertraut zu machen,

 

  • das pflegefachliche Wissen über Vermeidungsmöglichkeiten und Risiken mit den juristischen Fachkenntnissen über die rechtlichen Voraussetzungen zu ergänzen.

 

PRAXISHINWEIS | Der Verfahrenspfleger soll bei der Prüfung des Einzelfalls Risiken erkennen, Alternativen vorschlagen und diese dem Gericht und den Beteiligten (Einrichtung, Angehörige) verständlich erklären können.

 

Eine Pflegefachkaft, die auf mehrjährige Erfahrungen zurückgreifen kann, wird den Einzelfall individuell betrachten und anhand von Krankheitsbild und Patientenverhalten Vorschläge entwickeln können, die erst den Betreuer und die Pflege und anschließend das Betreuungsgericht bei der Entscheidung unterstützen.

 

3. Demenzerkrankte in Krankenhäusern betroffen

Fixierungen können auch während einer Krankenhausbehandlung durchgeführt werden. Der Hintergrund: Viele Kliniken sind z.B. nicht auf die wachsenden Zahlen demenzkranker Patienten vorbereitet. Diesem Missstand wird mit Spezialstationen für akut erkrankte Demenzkranke begegnet, in denen Geriater und geschulte Behandlungsteams den Krankenhausaufenthalt begleiten und Fixierungen vermeiden helfen.

 

PRAXISHINWEIS | Der häufig mit Demenzerkrankungen einhergehende Bewegungsdrang ist oft Anlass für Fixierungen während des Klinikaufenthalts. Eine adäquate Betreuung hilft die Gabe von Medikamenten und FEM zu vermeiden und die Entlassung zu beschleunigen. Würde man generell fordern, Demenzkranken, sofern ihnen die freie Bewegung möglich ist, durchgängig einen „Aufpasser“ zur Seite zu stellen, würde dies nur dazu führen, dass eine Mobilisierung unterlassen werden müsste (LG Marburg 31.7.17, 5 S 48/17).

 

4. Das umfassende Netzwerk

Aktuell tauschen sich über die Plattform des Werdenfelser Weges ca. 180 Betreuungsrichter und ca. 100 Mitarbeiter von Betreuungsbehörden und Heimaufsichten fast täglich aus. Das hat zur Folge, dass sich neue Ansätze und Erfolge hinsichtlich Fixierungsvermeidung in der Praxis schnell verbreiten und aufgegriffen werden können.

 

Rund 2.000 bereits ausgebildete spezialisierte Verfahrenspfleger bzw. weitere Pflegefachleute und Rechtsanwälte stehen durch einen bundesweiten E-Mail-Verteiler in Verbindung, diskutieren Ansätze und Praxiserfahrungen und tauschen Sachinformationen aus.

 

PRAXISHINWEIS | Der Erfolg beginnt bereits bei der Wahl einer geeigneten Einrichtung, die grundsätzlich Fixierungsvermeidung anstrebt und eine entsprechende Pflegekultur etabliert. Sollten Sie Mandanten haben, die für ihre Angehörigen einen Heimplatz suchen, können Sie die Initiative als Ansprechpartner empfehlen und auch auf deren Liste mit entsprechenden Einrichtungen auf der Internetseite verweisen. Weitere Informationsquellen sind die auch für dieses Thema sensibilisierten städtischen Pflegeberatungen.

 

5. Vielfach unbegründete Haftungsängste

Nicht zuletzt die Angst vor Schadenersatzansprüchen förderte in der Vergangenheit die Durchführung von Fixierungen. Ängste, die meist unbegründet sind, wenn die Einrichtungen ihren grundsätzlichen Obhutspflichten nachkommen. Dies spiegelt zahlreich die jüngere Rechtsprechung. Wichtig: Die Aufzeichnungspflicht des Art. 7 PfleWoqG umfasst regelmäßig auch lückenlos durchgeführte FEM bei Heimbewohnern (Pflegedokumentation). Der aktuelle Stand der Pflege und FEM muss bei einem Schichtwechsel so verfügbar sein, dass die fachgerechte Pflege des Bewohners sichergestellt ist (BayVGH 24.4.17, 12 ZB 13.2094)..

 

  • Beispiel

Während eines Krankenhausaufenthalts stolpert ein Patient, stürzt und erleidet einen Beinbruch. Seine Krankenversicherung übernimmt zunächst die Behandlungskosten, prüft jedoch anschließend, ob Dritte Schuld an dem Sturz tragen, die die Kosten ersetzen müssen. Einrichtungen fürchten oft, für alle möglichen Gesundheitsschäden während des Aufenthalts eintreten zu müssen oder mit hohen Schadenersatzforderungen konfrontiert zu werden.

 

Wichtig | Ein Heim oder Krankenhaus haftet nur bei nachgewiesenen Fehlern und dieser Nachweis ist von Klägern (hier: die Krankenkassen) sehr schwer zu führen. Die Haftung beschränkt sich in der Regel auf eine ganz spezielle Konstellation: Die „voll beherrschbare Risikolage“.

 

  • Die „voll beherrschbare Risikolage“ betrifft die unmittelbare Arbeit am oder mit dem Bewohner (z. B. der Patient stürzt am Waschbecken während der Körperpflege durch einen Mitarbeiter).

 

  • Hiervon abzugrenzen ist „das allgemeine Lebensrisiko“ eines Patienten in der Klinik, z. B. die Gangunsicherheit eines Patienten bei seinem selbstständigen Weg in den Aufenthaltsraum.

 

Der BGH hat 2005 speziell zur Haftungsfrage zwei wichtige Entscheidungen getroffen, nach der sich die Obhutspflichten auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen begrenzen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Als Maßstab gelten insoweit das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare (28.4.05, III ZR 399/04, Abruf-Nr. 051453; 14.7.05, III ZR 391/04, Abruf-Nr. 052243).

 

Die Darlegungs- und Beweislast liegt dabei auch beim Kläger, wenn Ansprüche bzw. Schadenersatzforderungen gerichtlich durchgesetzt werden sollen. Der BGH betonte insoweit auch den normalen, alltäglichen Gefahrenbereich, der grundsätzlich in einer eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten (Heimbewohner) verbleibt.

 

Allein daraus, dass ein Patient im Krankenhauses stürzt, ergibt sich keine schuldhafte Pflichtverletzung des Personals (LG Marburg, a.a.O.). Der normale, alltägliche Gefahrenbereich im Heim fällt grundsätzlich in die Risikosphäre des Bewohners (keine Haftungsgefahr). Erst in einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten auslöst, die zu beherrschen einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut ist, entsteht eine Beweislastumkehr analog § 280 Abs. 1 S. 2 BGB zulasten der Heimleitung.

6. Gericht genehmigt ‒ aber Betreuer entscheidet

Die vom Betreuer oder Bevollmächtigten beantragte FEM muss vom Betreuungsgericht genehmigt werden. Die gerichtliche Genehmigung entspricht nicht einer Anordnung, die Maßnahme auch durchzuführen. Der Betreuer erhält hierdurch lediglich die rechtswirksame Erlaubnis, die FEM anzuordnen. Damit ist kein Zwang für ihn oder das Heim verbunden, von ihr auch tatsächlich Gebrauch zu machen.

 

Beachten Sie | Sollte die Maßnahme nicht mehr erforderlich sein (z. B. Gesundheitszustand bessert sich), muss die Maßnahme nicht durchgeführt werden oder kann auch jederzeit beendet werden.

 

PRAXISHINWEIS | Wie lange ist eine gerichtliche Genehmigung gültig? Jeder gerichtliche Beschluss nennt eine ausdrückliche Laufzeit. Bei Eilmaßnahmen sind dies bis zu sechs Wochen (drei Monate im Wiederholungsfall). Bei Langzeitmaßnahmen dauern die Genehmigungen bis zu einem Jahr und sind erweiterbar auf zwei Jahre. Spätestens bei Ablauf der Frist muss das Gericht erneut prüfen, ob eine Genehmigung für einen Anschlusszeitraum erteilt wird.

 

 

 

Weiterführende Hinweise

  • Zu Sturz im Seniorenheim: Schadenersatz nur bei eindeutigem Nachweis einer Pflichtverletzung, SR 14, 114
  • Kein Schmerzensgeld bei berechtigter Fixierung, SR 16, 96
Quelle: Sonderausgabe 01 / 2018 | Seite 15 | ID 45166400