· Fachbeitrag · Betreuungsverfahren
Ergänzendes Sachverständigengutachten macht eine erneute Anhörung erforderlich
von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen
| Müssen Betroffene bei einem im Beschwerdeverfahren ergänzend eingeholten Sachverständigengutachten neuerlich angehört werden? Der Betreuungssenat des BGH hat hierzu erneut klare Worte gefunden und in seiner Entscheidung Verfahrensfehler sowohl des Amts- als auch des Landgerichts festgestellt. |
Sachverhalt
Die Betroffene wendet sich gegen die Einrichtung einer Betreuung. Das Amtsgericht hatte zunächst ein psychiatrisches Gutachten eingeholt und die Betroffene anschließend angehört. Ein Verfahrenspfleger wurde nicht bestellt. Im Ergebnis wurde dann eine Betreuung für die Betroffene für mehrere Aufgabenkreise eingerichtet und eine Berufsbetreuerin bestellt.
Hiergegen hat die Betroffene Beschwerde eingelegt. Das Landgericht hat daraufhin eine Verfahrenspflegerin bestellt und ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt. Nach Eingang des Gutachtens hat das Landgericht noch am gleichen Tag die angefochtene Entscheidung abgeändert und die Betreuung unter Zurückweisung des Rechtsmittels der Betroffenen im Übrigen nur noch für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung aufrechterhalten.
Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene weiterhin den vollständigen Wegfall der Betreuung.
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Zieht das Beschwerdegericht in einer Betreuungssache für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine Tatsachengrundlage heran, welche im Zeitpunkt der Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht noch nicht vorlag, ist eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten. (Abruf-Nr. 226879) |
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg (BGH 24.11.21, XII ZB 269/21). Der BGH hat die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung des Landgerichts beruhe auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen. Denn das LG hat seine Ausführungen zu den Voraussetzungen der Betreuung auf das von ihm im Beschwerdeverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen gestützt. Dieses ergänzende Gutachten ist aber weder der Betroffenen noch den weiteren Verfahrensbeteiligten zuvor zur Kenntnis gebracht worden.
Kenntnis- und Stellungnahme erforderlich
Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordere, dass das Gericht den Beteiligten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Hierfür müsse die Betroffene vor der Entscheidung nicht nur im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens sein. Sie müsse auch ausreichend Zeit zur Kenntnis- und Stellungnahme haben.
Beachten Sie | Dies erfordert auch eine erneute Anhörung der Betroffenen.
MERKE | Nur ausnahmsweise kann nach § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG von einer erneuten Anhörung abgesehen werden. Dies setzt voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. |
Verfahrenspfleger muss beteiligt werden
Vorliegend hat das Amtsgericht die Betroffene in Abwesenheit eines Verfahrenspflegers angehört. Dies sei verfahrensfehlerhaft. Muss dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger zur Seite gestellt werden, habe das Betreuungsgericht durch dessen rechtzeitige Bestellung und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherzustellen, dass dieser an der Anhörung des Betroffenen auch teilnehmen kann.
Ferner hat das Landgericht in seiner Entscheidung das von ihm erst im Beschwerdeverfahren eingeholte Gutachten verwertet. Damit sei eine neue Tatsachengrundlage herangezogen worden, sodass von einer erneuten Anhörung der Betroffenen auch neue Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären.
Es habe daher nicht von einer Anhörung der Betroffenen durch das Beschwerdegericht abgesehen werden dürfen. Hierin lägen erhebliche Verletzungen des rechtlichen Gehörs der Betroffenen. Wegen dieser schweren Verfahrensfehler sei das Verfahren an das Landgericht zur Nachholung der versäumten Verfahrenshandlungen und weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen.
Relevanz für die Praxis
Der Betreuungssenat setzt seine Rechtsprechung konsequent fort. Fußt das Beschwerdegericht seine Entscheidungsfindung auf eine neue Tatsachengrundlage, muss der Betroffene dazu auch erneut angehört werden (siehe bereits BGH 12.5.21, XII ZB 427/20, Abruf-Nr. 223122).
Beachten Sie | Dies folgt aus dem grundgesetzlich in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör.
Da durch die Anordnung einer Betreuung erheblich in die Rechtsposition des Betroffenen eingegriffen wird, muss dieser die Gelegenheit haben, zu allen Tatsachen Stellung zu nehmen.
MERKE | Das Betreuungsrecht sichert dieses Ziel im Kern durch zwei verfahrensrechtliche Vorgaben ab:
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Beachten Sie | Da die Einrichtung einer Betreuung regelmäßig die Bewertung medizinischer Fragestellungen erfordert, ist ein entsprechendes Sachverständigengutachten in der Praxis eine ganz wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Betreuungsgerichte.
Der Inhalt des Sachverständigengutachtens ist daher vor der Entscheidung auch mit dem Betroffenen im Rahmen einer (ggf. erneuten) Anhörung zu erörtern.
MERKE | Erst die persönliche Anhörung des Betroffenen und der dadurch von ihm gewonnene Eindruck versetzen das Gericht in die Lage, seine ‒ auch gegenüber dem Sachverständigen bestehende ‒ Kontrollfunktion sachgerecht auszuüben. |
Vorliegend hat das Landgericht die danach erforderliche Anhörung unterlassen, obwohl es ergänzende Stellungnahmen des Gutachters eingeholt hatte. Da zuvor das Amtsgericht nicht einmal einen Verfahrenspfleger bestellt hatte, war bereits dessen Vorgehensweise evident verfahrensfehlerhaft.
Ein Absehen von einer Anhörung konnte daher durch das Landgericht unter keinem Gesichtspunkt in Betracht kommen.
Weiterführende Hinweise
- Wann ist ein Betreuer zu entlassen? BGH SR 22, 2
- Betreuervorschlag ist bindend, solange dieser dem Wohl des Betroffenen nicht entgegensteht. BGH SR 21, 185
- Negativer Betreuervorschlag muss nicht zwingend berücksichtigt werden. BGH SR 21, 167