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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Fehler bei der Haftungsverteilung und ihre Korrektur in der Rechtsmittelinstanz

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    | Für manche sind Quoten wie Lottozahlen. Man muss sie nehmen, wie sie kommen. Dabei kann der Kampf gegen eine ärgerliche Quotelung im erstinstanzlichen Urteil durchaus aussichtsreich sein. Man muss nur wissen, wie es geht. Der Beitrag hilft dabei. |

    Prüfansätze und Prüfmöglichkeiten

    Vom BGH wird die Haftungsverteilung nur darauf überprüft, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt sind und ob der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde liegen (z.B. BGH VersR 11, 1540).

     

    Das Berufungsgericht dagegen hat die erstinstanzliche Quotenbildung auf der Grundlage der nach § 529 ZPO maßgeblichen Tatsachen gem. § 513 Abs. 1, § 546 ZPO in vollem Umfang darauf zu überprüfen, ob sie sachgerecht ist (OLG Oldenburg NZV 12, 134; LG Nürnberg-Fürth NZV 11, 346; enger OLG Hamm NJW 04, 2246). Es darf sich nicht darauf beschränken, die Haftungsverteilung auf Rechtsfehler und auf Verstöße gegen Denkgesetze und Lebenserfahrungssätze zu kontrollieren. Einem Berufungsangriff gegen die Quote kann der Berufungsbeklagte also nicht das Argument entgegensetzen, die Haftungsverteilung sei nur begrenzt nachprüfbar.

     

    Checkliste / Quotenkontrolle durch den Berufungsanwalt

    Beim Einsatz des gesetzlichen Abwägungsinstrumentariums (§ 254 BGB, §§ 9, 17 StVG, §§ 4, 13 HpflG) unterlaufen den Gerichten mitunter schon erste Fehler bei der Auswahl und Anwendung der Vorschriften. Typische Problemfälle: Leasingautos, bankfinanzierte Fahrzeuge, Gespanne und Soloanhänger. Fehleranfällig ist auch die Konstellation Kfz vs. Schienenfahrzeug (vgl. BGH VA 13, 147 = NJW 13, 3235). Das Gros der Fehler betrifft jedoch Verstöße gegen BGH-Grundsätze. Die meisten dieser Fehler sind in den folgenden 18 Punkten zusammengefasst:

     

    • 1. Nichtberücksichtigung von abwägungsrelevanten Umständen, die zwar nicht ausdrücklich vorgetragen sind, nach den Umständen aber als vorgetragen gelten müssen.

     

    • Beispiel: Der Gerichts-SV stellt eine Geschwindigkeitsüberschreitung fest, die bisher nicht Prozessstoff gewesen ist. Auch wenn diejenige Partei, für die diese Tatsache günstig ist, sie nicht ausdrücklich in das Verfahren einführt, macht sie sich sie stillschweigend zu eigen.

     

    • 2. Berücksichtigung von Tatsachen, die das Gericht irrtümlich für unstreitig hält.

     

    • Beispiel: Übersehen von konkludentem Bestreiten, zu hohe Anforderungen an ein Bestreiten.
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    • 3. Berücksichtigung von Tatsachen, die nicht zweifelsfrei feststehen, wie ein nur vermutetes Verschulden (Verstoß gegen BGH VA 14, 1 = NJW 14 , 217; BGH VersR 12, 865).
    • 4. Berücksichtigung von Tatsachen, die das Gericht irrtümlich für bewiesen hält.
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    • Beispiele: Beweiserhebungsfehler, z.B. Übergehen von Beweisanträgen, keine Sachverständigenanhörung trotz Antrags, kein Sachverständigenbeweis oder keine Ortsbesichtigung von Amts wegen, oder Beweiswürdigungsfehler, etwa im Zusammenhang mit dem Anscheinsbeweis. Zur Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Feststellungen BGH NJW 14, 74.
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    • 5. Berücksichtigung von Tatsachen, die zwar unstreitig oder bewiesen sind, die sich im Unfallgeschehen incl. Unfallfolgen aber nicht ursächlich niedergeschlagen haben (häufiger Fehler).

     

    • Beispiele: Geschwindigkeitsüberschreitung, Alkoholisierung, Fahren ohne Fahrerlaubnis (Verstoß gegen st. BGH-Rspr., z.B. VA 14, 1 = NJW 14, 217).

     

    • 6. Berücksichtigung einer nur abstrakt höheren Betriebsgefahr mit der Folge einer Überbewertung bei Sonderfahrzeugen wie z.B. Lkw, Bussen und Motorrädern (häufiger Fehler). Zur Gewichtung einer Lkw-Betriebsgefahr KG SP 12, 315.

     

    • 7. Doppelanrechnung bei Schienenfahrzeugen (Fehlerbeispiel OLG Köln SP 13, 424 - fehlendes Ausweichvermögen als Erhöhungsumstand).

     

    • 8. Überbewertung des einfachen Verschuldens (leichte Fahrlässigkeit).
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    • Beachte | In erster Linie ist das Maß der Verursachung entscheidend. Das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (st. Rspr., z.B. BGH NJW 13, 3235).

     

    • 9. Fehlgewichtung der beiderseitigen Verkehrsverstöße.

     

    • Beispiel: Gelblichtverstoß vs. Linksabbiegerverschulden gleichwertig statt Spreizung (BGH NJW 13, 1953). Besonders schwer wiegen außer einem Rotlichtverstoß, Wenden und Rückwärtsfahren auf der Autobahn Verstöße gegen § 8 Abs. 2 StVO (OLG Saarbrücken NJW 13, 3659), gegen § 9 Abs. 3 S. 1 StVO (BGH NJW 12, 1953) und gegen Überholvorschriften (§ 5 StVO).
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    • Beachte | Immer, wenn in der StVO von „Gefährdung ausgeschlossen“ die Rede ist (z.B. § 7 Abs. 5 S. 1, § 9 Abs. 5, § 10 S. 1, § 14 Abs. 1 StVO), geht der Gesetzgeber von einer besonders gefahrenträchtigen Verkehrssituation aus und verlangt dementsprechend eine gesteigerte Sorgfalt.

     

    • 10. Fehlbeurteilung und -gewichtung von Verhalten von Kindern der Altersgruppe 10 bis 14 Jahren, wobei Null-Hundert-Lösungen zugunsten der Gegenseite besonders problematisch sind (dazu auch Ernst, VA 13, 6).

     

    • 11. Nichtberücksichtigung von Verstößen gegen Verkehrsvorschriften mit dem unzutreffenden Argument, der Unfallgegner sei in den Schutzbereich nicht einbezogen.
    • Beispiel: Vorfahrtberechtigter fährt zu weit links, Grundstücksausfahrer verstößt gegen § 10 StVO (richtige Quotelung gemäß BGH VA 11, 199 = VersR 11, 1540). Weiterer Problemfall: Verstoß gegen das Abstandsgebot des § 4 Abs. 1 StVO und Auffahren auf den Vordermann auch infolge einer Vorfahrtverletzung eines wartepflichtigen Einbiegers. Auch zu dessen Gunsten fällt der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO bei der Haftungsabwägung ins Gewicht (BGH NJW-RR 07, 680).
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    • 12. Keine Berücksichtigung einer Erhöhung der allgemeinen Betriebsgefahr durch besondere Gefahrenmomente, die sich auch bei zulässiger (erlaubter) Fahrweise aus dem Verkehrsvorgang als solchem ergeben.

     

    • Beispiele: Gefahrenlagen beim Überholen, Wenden, Rückwärtsfahren, Linksabbiegen oder durch Überschreiten der Richtgeschwindigkeit, vgl. BGH NJW 05, 1351 und NJW 12, 1953 (jeweils Linksabbiegen).
    • 13. Keine Berücksichtigung von betriebsgefahrerhöhenden Umständen, die weder mit dem Fahrzeug noch mit der Fahrweise zu tun haben, die sich aber aus anderen konkreten Gefahrenmomenten ergeben haben.

     

    • Beispiele: Sichtbehinderung durch Gebäude, Bepflanzung oder Schilder, Straßenglätte o. Ä. (BGH NJW 05, 1351 - Sichtbehinderung).

     

    • 14. Unzulässige Doppelanrechnung: Einzelne Verursachungsbeiträge dürfen bei der Abwägung nicht summiert werden, wenn sie sich nur in demselben unfallursächlichen Umstand ausgewirkt haben (BGH NJW 07, 506). Was Bestandteil der allgemeinen Betriebsgefahr ist, darf nicht als ein weiteres Gefahrenmoment zulasten des Halters angerechnet werden.

     

    • Beispiel: die zulässige Reisegeschwindigkeit eines Zuges, vgl. BGH VersR 08, 126.
    • 15. Verkennen der Darlegungs- und Beweislast (häufiger Fehler): Die Verteilung der Beweislast richtet sich nach allgemeinen Beweisgrundsätzen. Das bedeutet für eine Kollision zweier Pkw: Jeweils der eine Halter muss dem anderen Halter diejenigen Umstände nachweisen, die dessen Haftung begründen und erhöhen (BGH NJW 96, 1405). Konkret: Wer dem anderen einen Rotlichtverstoß zur Last legt, muss ihn beweisen. Ein Beweis nach Anscheinsbeweisgrundsätzen genügt.
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    • Beispiel:Pkw-Fußgänger-Kollision: Der als Schädiger in Anspruch genommene Halter muss ebenso wie sein Versicherer beweisen, dass den verletzten Fußgänger ein unfallursächliches Verschulden trifft (BGH VA 14, 1 = NJW 2014, 217).

     

    • Weiteres Fehlerbeispiel nach BGH NJW 10, 930: OLG verneint Fahrerverschulden, rechnet dem Kradfahrer, der nicht Halter ist, gleichwohl die einfache Betriebsgefahr mit 20 Prozent anspruchsmindernd an. Der Fahrer eines Kfz, der nicht zugleich Halter ist, muss sich die einfache Betriebsgefahr nur dann zurechnen lassen, wenn er seinerseits für Verschulden gem. § 823 BGB oder für vermutetes Verschulden gem. § 18 StVG haftet. Er muss also nicht den Entlastungsbeweis nach § 7 Abs. 2 oder nach § 17 Abs. 3 StVG führen. Zur Abwendung der Anrechnung der Betriebsgefahr genügt die Widerlegung der Verschuldensvermutung nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG. Ein gesetzlich nur vermutetes Verschulden darf als solches bei der Abwägung nicht berücksichtigt werden (BGH NJW 12, 2425).

     

    • 16. Beweismaßfehler: Für die Feststellung des jeweiligen Verantwortungsbeitrags gilt der Strengbeweis nach § 286 ZPO. Für die Frage, in welchem Umfang sich die Umstände ausgewirkt haben, gilt dagegen § 287 ZPO (BGH VersR 13, 1322).

     

    • 17. Unterbleiben der gebotenen Gesamtabwägung (Gesamtschau) in Fällen der Mitverantwortung des Geschädigten bei Inanspruchnahme mehrerer Schädiger, die weder eine Haftungs- noch eine Zurechnungseinheit bilden. Instruktiv Kirchhoff/Kirchhoff, MDR 12, 1389.

     

    • 18. Fehler in Fällen gestörter Gesamtschuld.
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    • Beispiel: Ein Schädiger ist nach §§ 104 ff. SGB VII haftungsprivilegiert, der andere nicht. Der Anspruch des Geschädigten gegen den nichtprivilegierten Schädiger ist von vornherein beschränkt auf die Quote, die dieser im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs letztlich zu tragen hätte.
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    • Beachte | Kein Gesamtschuldverhältnis, erst recht kein gestörtes, liegt in den Fällen vor, in denen der Schädiger für leichte Fahrlässigkeit nicht haftet (z.B. nach §§ 1359, 1664 BGB).
     

    Weiterführender Hinweis

    • Zum schwierigen Thema „Auswirkungen von Haftungsprivilegierungen“ Wussow/Sapp, 16. Aufl., 2014, Kap. 14 Rn. 58 ff.
    Quelle: Ausgabe 03 / 2014 | Seite 43 | ID 42524601