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  • Unfallschadensregulierung

    HWS-Schleudertrauma: Neuester Stand

    Rund 400.000 Mal pro Jahr diagnostizieren Ärzte nach einem Verkehrsunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule (HWS). Vereinfachend und irreführend ist von „Schleudertrauma“ die Rede; mitunter auch von „Peitschenschlag-Syndrom“ oder „HWS-Distorsion“. Vor allem bei Heckkollisionen, aber auch bei Seiten- und Frontalanstößen kommt es zu derartigen Verletzungen. Sind sie und die damit verbundenen bzw. geltend gemachten Beschwerden wirklich auf den Unfall zurückzuführen oder handelt es sich um allgemeine Krankheitsanzeichen mit anderen Ursachen oder sind sie etwa nur simuliert? Das ist die entscheidende Frage.

    Der Kausalitätsnachweis, das Kardinalproblem in HWS-Streitfällen, stellt den Anwalt des Betroffenen vor keine leichte Aufgabe. Das hat vor allem damit zu tun, dass es in den meisten Fällen an einem objektiv, z.B. röntgenologisch, belegbaren Verletzungsbild fehlt. Hinzu kommt: Nach wie vor gibt es keinen auf wissenschaftlicher Basis erarbeiteten, allgemein anerkannten Kenntnisstand und Beurteilungsstandard über das Thema „HWS-Schleudertrauma“ nach geringen Belastungen (so Becke u.a., NZV 00, 225). Mehrere 100 veröffentlichte – keineswegs einheitliche – Gerichtsurteile und ca. 11.000 (!) Publikationen, zumeist von Medizinern und Ingenieuren, tragen zur Verunsicherung bei („das Trauma als Rätsel“).

    Besondere Aktualität erlangt die außerordentlich komplexe HWS-Problematik durch die bevorstehende Änderung des § 847 BGB. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld soll ab dem nächsten Jahr nur noch bestehen, wenn der Schaden unter Berücksichtigung seiner Art und Dauer nicht unerheblich ist. Dazu heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs: „Schließlich dürften auch nicht objektivierbare leichte HWS-Verletzungen ersten Grades regelmäßig unterhalb dieser Erheblichkeitsschwelle bleiben“.

    Bereits nach geltendem Recht scheidet bei bloßen Bagatellverletzungen ein Schmerzensgeld aus. Leichte („erstgradige“) HWS-Verletzungen fallen bislang nicht darunter.

    HWS-Schleudertrauma: ABC der Grundbegriffe

    Cervikalsyndrom: einfacher Zustand nach HWS-Verletzung (cervix = Hals, Nacken).

    Cervico-encephales Syndrom: komplexe Beschwerdesymptomatik nach HWS-Verletzung (u.a Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Hör- oder Sehstörungen, psychische Störungen (Nachweis besonders problematisch).

    Degenerative Veränderung: siehe Vorschädigung.

    Differenzgeschwindigkeit: Unterschied in der Geschwindigkeit der unfallbeteiligten Fahrzeuge; nicht zu verwechseln mit der Kollisionsgeschwindigkeit (= Geschwindigkeit des anstoßenden Fz.) oder der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung des angestoßenen Fz.

    Distorsion: Verdrehung, Verstauchung; häufig gleichgesetzt mit „HWS-Schleudertrauma“.

    Erdmann: HWS-Schleudertraumen werden nach Erdmann, einem Orthopäden, in drei Kategorien eingeteilt (wissenschaftlich str.):

    HWS-Schleudertrauma I. Grades: leichte, diagnostisch höchst problematische Beschleunigungsverletzung mit Schluckbeschwerden, schmerzhaften Bewegungseinschränkungen des Kopfes (Nackensteife); meist keine fassbaren Veränderungen im Röntgenbild; Feststellungen des Arztes beruhen vor allem auf den (subjektiven) Beschwerden des Patienten. Bemerken der Folgen: einige Stunden bis zu zwei Tagen nach dem Unfall. Dauer: im Schnitt zwei bis drei Wochen; Heilung innerhalb von drei Monaten.

    HWS-Schleudertrauma II. Grades: Schwere, auch objektiv feststellbare Verletzungen wie Gelenkkapselrisse, Muskelzerrungen, Hämatome, ausgeprägte Nackensteife; röntgenologisch positiver Befund. Auftreten der Beschwerden innerhalb einer Stunde nach dem Unfall. Dauer/Heilung: vier Wochen bis ein Jahr.

    HWS-Schleudertrauma III. Grades: Schwerste Verletzungen wie etwa Bandscheibenzerreißungen, Rupturen, Brüche und Luxationen der HWS; kein beschwerdefreies Intervall. Heilung: innerhalb von zwei Jahren.

    Geschwindigkeitsänderung: die stoßbedingte Änderung der Geschwindigkeit des angestoßenen Pkw ist das wichtigste – nicht das alleinige – Beweiskriterium bei der Feststellung der Unfallkausalität. Beispiel: Ein stehender Pkw wird von hinten von einem mit 50 km/h fahrenden Pkw angestoßen und dadurch aus dem Stand (0 km/h) auf 30 km/h beschleunigt. Die Geschwindigkeitsänderung (= Beschleunigung) beträgt 30 km/h. Merke: Je geringer die Geschwindigkeitsänderung, desto harmloser die Verletzung, d.h.: Die Verletzungsschwere steigt linear mit der mechanischen Belastung des Insassen an. Strittig ist, ob es eine Harmlosigkeitsgrenze gibt und wenn ja, wo sie verläuft (s. „Harmlosigkeitsgrenze“).

    Harmlosigkeitsgrenze: Nach h.M. in der Rspr. der Instanzgerichte (vom BGH nicht entschieden) ist bei einer Heckkollision mit einer Geschwindigkeitsänderung (s. oben) unter 10 km/h eine rechtlich relevante Verletzung der HWS „im Normalfall“ (gesunde Wirbelsäule, korrekte Sitzposition, angeschnallt) nicht zu erwarten, unter 8 km/h sogar ausgeschlossen (OLG Hamm 4.6.98, r+s 98, 326; KG 21.10.99, NJW 00, 877 m.w.N.). Geschädigtengünstiger, da einzelfallorientiert (keine starre Grenze): LG Augsburg 30.12.99, NJW 00, 880; LG München I 21.10.99, NZV 00, 173; Dannert zfs 01, 6; Löhle zfs 97, 441; zfs 00, 524; s. auch OLG Bamberg 5.12.00, DAR 01, 121; LG Lübeck 8.6.00, zfs 00, 436. Auch für die Befürworter einer Harmlosigkeitsgrenze kommt bei einer Geschwindigkeitsänderung zwischen 9 und 14 km/h oder 10 bis 15 km/h eine HWS-Verletzung in Betracht (OLG Hamm 9.12.99, OLGR 00, 343; OLG Hamm 18.11.98, NZV 99, 292; s. auch KG 21.10.99, NJW 00, 877). Bei Seiten- und Frontalkollisionen gelten andere Kriterien als für einen Auffahrunfall (LG Landau 3.8.99, NJW-RR 00, 1474; Löhle zfs 00, 524).

    Peitschenschlag-Syndrom (whiplash injury): Synonym für HWS-Schleudertrauma.

    Primärverletzung/Primärschädigung: Der Sachverhalt, dessen Existenz und Unfallbedingtheit nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO festzustellen ist. Da geschütztes Rechtsgut i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB die körperliche Unversehrtheit ist, genügt eine „nicht ganz unwesentliche Befindlichkeitsstörung“ als Rechtsgutsverletzung („erster Verletzungserfolg“), vgl. BGH 28.6.83, VersR 83, 985; OLG Hamm 4.6.98, r+s 98, 326; Dannert zfs 01, 5. Je geringer die Anforderungen an Art und Umfang der Primärverletzung, desto günstiger für den Geschädigten. Denn alle Auswirkungen beurteilen sich nicht mehr nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO, sondern nach § 287 ZPO (überwiegende Wahrscheinlichkeit an Stelle von an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit). Schon in der kollisionsbedingten Kopfschleuderbewegung („Peitschenschlag“) die Störung der körperlichen Integrität zu sehen (eine gewisse Heftigkeit vorausgesetzt), bedeutet für den Anspruchssteller die frühestmögliche Öffnung des „287er-Fensters“.

    Schanz´sche Krawatte: Schaumstoffkragen zur Ruhigstellung der HWS; Wirkung umstritten.

    Spätschäden/Langzeitschäden: Ca. 70 Prozent aller Patienten sind nach zwei bis drei Monaten beschwerdefrei. Doch selbst bei erstgradigen HWS-Verletzungen kann es zu körperlichen und/oder psychischen Langzeitfolgen kommen. Sie stehen im Zentrum der gerichtlichen Praxis, vgl. BGH 21.10.86, VersR 87, 310 - Hirnschädigung; OLG Hamm 23.8.00, 13 U 186/99 - Bandscheibenvorfall; zu psychischen Spätfolgen nach HWS-Verletzung s. BGH 11.11.97, NZV 98, 65; BGH 11.11.97, MDR 98, 159; BGH 16.11.99, NJW 00, 862.

    Vorschädigung: Unfallfremde Faktoren können den Eintritt einer HWS-Verletzung begünstigen oder zumindest den Heilungsverlauf verzögern bzw. die subjektiven Beschwerden verlängern. Standardargument der Versicherung zur Abwehr von Ersatzansprüchen, häufig thematisiert als degenerative Veränderung (z.B. Spondylose). Zur beweisrechtlichen Problematik s. OLG Hamm 31.1.00, DAR 00, 263; SchlHOLG 10.2.00, OLGR 00, 235; Dannert NZV 00, 9; ders. zfs 01, 53. Kein Abzug beim Schmerzensgeld bei beschwerdefreier Vorschädigung (OLG Hamm 31.1.00, DAR 00, 263)

    Checkliste für den Anwalt des Geschädigten

    1. Mandanten nach Art, Beginn und Dauer der Beschwerden fragen. Einzelheiten des Unfallgeschehens abklären (Auffahrunfall, Seiten- oder Frontalkollision? Welche Fahrzeugbeschädigungen? Grobe Abschätzung der Geschwindigkeitsänderung, s. hierzu S. 101).
    2. Fotos von beiden Unfallfahrzeugen sichern (wichtig zum Nachweis der Geschwindigkeitsänderung; ohne Schadensfotos vom gegnerischen Fz. ist eine unfallanalytische/biomechanische Begutachtung meist sinnlos).
    3. Je später die Beschwerden nach dem Unfall auftreten, desto harmloser die Verletzung. Bei einem beschwerdefreien Intervall von fünf Tagen ist ein HWS-Schleudertrauma auszuschließen (OLG Karlsruhe 6.6.97, NZV 98,153). Kritische Grenze für (leichte) HWS-Verletzungen: drei Tage.
    4. Liegt noch keine ärztliche Befunderhebung/Diagnose vor, z.B. von der Unfallambulanz, sollte der Mandant bei Verdacht auf HWS-Schleudertrauma sofort einen Orthopäden oder praktischen Arzt aufsuchen.
    5. Eine aussagekräftige, detaillierte Dokumentation des Primärbefundes durch einen Arzt ist das „A und O“ (zum Beweiswert s. OLG Bamberg 5.12.00, DAR 01, 121 - geschädigtengünstig); Attest mit Aufzählung der subjektiven Beschwerden ohne Diagnose des Arztes hat nur geringen Beweiswert.
    6. Klären, ob der Mandant eine „Halskrause“ getragen hat, wenn ja, wie lange.
    7. Dauer der Arbeitsunfähigkeit ermitteln. Bei Erdmann I im Durchschnitt zwei bis drei Wochen, bei Erdmann II zwei bis vier Wochen, bei Erdmann III fünf Wochen und länger. Wichtig nicht nur für einen Verdienstausfallschaden: Dauer der Arbeitsunfähigkeit indiziert auch Intensität der Körperverletzung.
    8. Bei einem erstgradigen (leichten) HWS-Schleudertrauma kann zur Zeit – ohne sonstige Verletzungen – ein Schmerzensgeld zwischen 300 und 1.500 DM, bei einem zweitgradigen (mittelschweren) bis zu 5.000 DM verlangt werden (vgl. ADAC-Tabelle, 20. Aufl.).
    9. Sofern die Versicherung eine Begutachtung vorschlägt: Arzt ablehnen und ggf. eigenen Arzt benennen. Fragebogen der Versicherung muss nicht ausgefüllt werden. Vorsicht bei Beantwortung.
    10. Bei gerichtlicher Beweisanordnung/Beweiserhebung:
    • Beweisfrage im Beweisbeschluss prüfen und bei unzulänglicher Formulierung auf Änderung/Klarstellung hinwirken (Schwachstellen: Vorgaben mit falschem Beweismaß, zu enger Kausalitätsbegriff, wichtig bei eventuellen degenerativen Veränderungen).
    • Bestimmung des Sachverständigen nicht kritiklos hinnehmen. Abklären, welcher Fachrichtung/Denkschule er angehört; evtl. Nähe zur Versicherungswirtschaft prüfen (Internet-Recherche, unter anderem „Selbsthilfeverein Unfallgeschädigter Zeller-Kreis e.V.“, www.zeller-kreis.de); zur Befangenheitsbesorgnis: OLG Düsseldorf 11.8.00, 1 W 24/00).
    • Notwendigkeit eines interdisziplinären Gutachtens (Unfallanalytiker und Mediziner/Biomechaniker) prüfen; bei erstgradigem HWS-Schleudertrauma ohne atypische Dauerfolgen entbehrlich, bei mittelschwerem (Erdmann II) häufig ratsam, wenn auch teuer (nicht unter 3.000 DM); Näheres bei Castro u.a. NZV 01, 112.
    • Bei psychischen Störungen Einholung eines psychiatrischen Gutachtens beantragen.
    • Typische Schwachstelle ärztlicher Gutachten: falsches, nämlich sozialgerichtlich geprägtes Kausalitätsverständnis.
    • Typische Schwachstelle unfallanalytischer Gutachten: fragwürdige Feststellungen zur Beschädigung der Fze. = ungesicherte EES-Berechnung = zweifelhafte Festlegung der Geschwindigkeitsänderung.

    Quelle: Verkehrsrecht aktuell - Ausgabe 07/2001, Seite 100

    Quelle: Ausgabe 07 / 2001 | Seite 100 | ID 106863