17.09.2019 · IWW-Abrufnummer 211175
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 06.08.2019 – X ZR 97/18
a) Ein durch die Vollstreckung drohender Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage des Schuldners kann als nicht zu ersetzender Nachteil im Sinne der §§ 707 , 719 ZPO die Einstellung der Zwangsvollstreckung rechtfertigen.
b) Auch wenn der Schuldner zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist und die Zwangsvollstreckung aus einem vorläufig vollstreckbaren erstinstanzlichen Urteil einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde, ist die Einstellung der Zwangsvollstreckung weder zwingende noch regelmäßige Folge des Einstellungsantrags. Das Berufungsgericht hat vielmehr die Interessen des Gläubigers und des Schuldners abzuwägen und darf dem Einstellungsantrag nur entsprechen, wenn nach seiner Würdigung aller Umstände und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung, die dem Gläubiger grundsätzlich gestattet, aus dem nicht rechtskräftigen Urteil zu vollstrecken, die schutzwürdigen Interessen des Schuldners diejenigen des Gläubigers überwiegen. Dabei sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen, soweit im Rahmen der Prüfung des Einstellungsantrags hierzu hinreichend zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen sind.
c) Ist das Unternehmen des Schuldners auf die Verwertung eines einzigen Schutzrechts beschränkt und verfügt das Unternehmen darüber hinaus über keine weiteren Vermögenswerte, auf die in der Zwangsvollstreckung zugegriffen werden könnte, ist es regelmäßig nicht angezeigt, den Schuldner von den Risiken einer solchen Unternehmensausrichtung in der Weise freizustellen, dass dieser einzige Vermögenswert jedem Zugriff im Wege der vorläufigen Vollstreckung entzogen wird.
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. August 2019 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richter Gröning, Dr. Grabinski und Dr. Bacher sowie die Richterin Dr. Kober-Dehm
beschlossen:
Tenor:
Der Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 19. Dezember 2017 und den Kostenfestsetzungsbeschlüssen vom 21. März und 2. Juli 2018 wird zurückgewiesen.
Gründe
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I. Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 252 268 (Streitpatents), das ein Verfahren zur Verringerung des Dampfdrucks von ethanolhaltigen Motortreibstoffen für funkengezündete Verbrennungsmotoren betrifft.
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Die Klägerin, die aus dem Streitpatent in Anspruch genommen wird, hat dieses mit ihrer Nichtigkeitsklage in vollem Umfang angegriffen. Das Patentgericht hat das Streitpatent durch Urteil vom 19. Dezember 2017 für nichtig erklärt, der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und das Urteil gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages für vorläufig vollstreckbar erklärt; den Streitwert hat das Patentgericht auf 30.000.000 € festgesetzt. Die Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.
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Die Klägerin hat auf der Grundlage des angefochtenen Urteils Kostenfestsetzungsbeschlüsse vom 21. März und 2. Juli 2018 über 865.870,88 € und 88.810 € erwirkt und betreibt daraus die Zwangsvollstreckung. In diesem Zusammenhang hat sie gegenüber den Inlandsvertretern der Beklagten im Sinne von § 845 ZPO die Pfändung des deutschen Teils des Streitpatents angekündigt.
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Die Beklagte beantragt,
die Zwangsvollstreckung aus dem angefochtenen Urteil und den von der Klägerin erwirkten Kostenfestsetzungsbeschlüssen ohne Sicherheitsleistung einzustellen.
Sie macht geltend, durch eine Vollstreckung bis zur Höhe der titulierten Forderungen entstünden ihr außergewöhnliche Nachteile bis hin zur Vernichtung ihrer Existenz. Die Klägerin tritt dem Antrag entgegen.
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II. Der Antrag ist zurückzuweisen, da die Voraussetzungen für die beantragte Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht vorliegen.
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1. Nach § 719 Abs. 1 , § 707 Abs. 1 ZPO kann das Berufungsgericht auf Antrag anordnen, dass die Zwangsvollstreckung aus einem mit der Berufung angefochtenen Urteil einstweilen gegen oder ohne Sicherheitsleistung eingestellt werde. Die Einstellung ohne Sicherheitsleistung, die hier begehrt wird, setzt voraus, dass der Schuldner zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist und die Zwangsvollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Auch wenn dies der Fall ist, ist die Einstellung der Zwangsvollstreckung jedoch weder die zwingende noch die regelmäßige Folge des Einstellungsantrags. Das Berufungsgericht hat vielmehr die Interessen des Gläubigers und des Schuldners abzuwägen und darf dem Einstellungsantrag nur entsprechen, wenn nach seiner Würdigung aller Umstände und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung, die dem Gläubiger grundsätzlich gestattet, auch aus einem nicht rechtskräftigen erstinstanzlichen Urteil zu vollstrecken, die schutzwürdigen Interessen des Schuldners diejenigen des Gläubigers überwiegen. Da die Vollstreckung eines Urteils in Rede steht, das vom Berufungsgericht abgeändert oder aufgehoben werden kann, sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen, soweit im Rahmen der Prüfung des Einstellungsantrags hierzu hinreichend zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen sind.
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2. Das Vorbringen der Beklagten rechtfertigt die sofortige Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung nach den gesamten Umständen nicht.
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a) Ein durch die Vollstreckung drohender Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage des Schuldners kann im Ausgangspunkt allerdings als nicht zu ersetzender Nachteil im Sinne der §§ 707 , 719 ZPO anzuerkennen sein (vgl. MüKoZPO/Götz, 5. Aufl. 2016, ZPO § 707 Rn. 17).
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Es mag auch nicht von der Hand zu weisen sein, dass die Beklagte sich in einer entsprechenden wirtschaftlichen Situation befindet. Fraglich kann allerdings sein, ob dies nicht unabhängig von der Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil gilt. Ausweislich der vorgelegten bilanziellen Unterlagen standen im Geschäftsjahr 2017 einem Aktivvermögen von nicht ganz 50.000 £ Verbindlichkeiten von rund 244.000 £ gegenüber. Die Verbindlichkeiten der Beklagten beliefen sich also auf rund das Fünffache ihrer Aktiva. Im Geschäftsjahr 2018 sollen die Verhältnisse nicht wesentlich anders liegen. Nach ihrem eigenen Vorbringen verfügt die Beklagte, vom Streitpatent abgesehen, über keine nennenswerten Bar- und Buch- bzw. Sachvermögenswerte, die sie für Leistungen in einer auch nur annähernden Größenordnung der titulierten Forderungen einsetzen könnte.
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Danach könnten die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kostenbegünstigung nach § 144 PatG eines nicht aktiv am Wirtschaftsleben beteiligten Unternehmens, das nicht über nennenswerte Vermögensgegenstände verfügt, entsprechend anzuwenden sein. Danach wird ein solches Unternehmen in seiner wirtschaftlichen Lage nicht zusätzlich im Sinne von § 144 PatG gefährdet, wenn es mit einer Prozesskostenforderung belastet wird, die angesichts seiner Vermögenssituation ohnehin nicht beitreibbar ist ( BGH, Beschluss vom 3. September 2013 - X ZR 1/13 , 2/13, GRUR 2013, 1288 - Kostenbegünstigung III unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 24. Februar 1953 - I ZR 106/51 , GRUR 1953, 284 - Kostenbegünstigung I).
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b) Dies bedarf indes keiner abschließenden Beurteilung, weil die existenzielle Gefährdung zwar neben dem Unvermögen des Schuldners, Sicherheit zu leisten, tatbestandliche Voraussetzung dafür ist, die Zwangsvollstreckung überhaupt ohne Sicherheitsleistung einzustellen, die Frage, ob dies zu geschehen hat, aber, wie ausgeführt, eine umfassende Interessenabwägung erfordert, die hier nicht zugunsten der Beklagten ausfällt.
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Wenn sich im Unternehmen der Beklagten allein das Streitpatent für den Zugriff in der Zwangsvollstreckung anbietet, erscheint sie vollstreckungsrechtlich nicht deshalb als schutzwürdig, weil es sich um den einzigen werthaltigen Gegenstand handelt, über den ihr Geschäftsbetrieb verfügt. Ist ein Unternehmen in einer solchen Weise speziell auf die Verwertung eines einzigen Schutzrechts ausgerichtet - die Beklagte spricht selbst von der Auslizenzierung des Streitpatents als von ihrem "Geschäftsmodell" - erschiene es unangemessen und wäre mit den Grundsätzen der gesetzlichen Regelung unvereinbar, sie von den Risiken einer solchen Unternehmensausrichtung in der Weise freizustellen, dass dieser einzige Vermögenswert jedem Zugriff im Wege der vorläufigen Vollstreckung entzogen wird.
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Dies gilt auch und gerade dann, wenn es, wie hier, um die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten geht. Die Beklagte gibt an, die angefallenen Gerichtskosten über Drittmittel zu finanzieren. Dies mag ihrem Interesse an der Weiterführung der gerichtlichen Auseinandersetzung über den rechtlichen Bestand des Streitpatents dienen; die Klägerin hat demgegenüber aber ein schutzwürdiges Interesse daran, die Erstattung der von ihr bereits aufgebrachten Kosten sicherzustellen.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es regelmäßig nicht angemessen, einen Patentinhaber, der eine Vereinbarung über die Finanzierung von Prozesskosten getroffen hat, die ihm und dem finanzierenden Dritten alle mit dem Rechtsstreit verbundenen Chancen sichert, das Kostenrisiko eines Nichtigkeitsverfahrens wirtschaftlich aber der Gegenseite auferlegt, von diesem Kostenrisiko durch eine Kostenbegünstigung gemäß § 144 PatG noch weitergehend zu entlasten (BGH, GRUR 2013, 1288 [BGH 03.09.2013 - X ZR 1/13] - Kostenbegünstigung III).
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Auch in Anlehnung an diese Grundsätze erscheint es nicht interessengerecht, der Klägerin, die in erster Instanz obsiegt hat, die Vollstreckung wegen der bisherigen Kosten ohne Sicherheit zu verwehren.
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3. Unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels ergibt sich nichts Gegenteiliges. Die Beklagte zeigt keine gewichtigen Anhaltspunkte dafür auf und der Senat kann auch sonst nicht feststellen, dass die Nichtigerklärung einer Nachprüfung im Berufungsverfahren aller Voraussicht nach nicht standhalten wird (vgl. BGH, Beschluss vom 16. September 2014 - X ZR 61/13 - Kurznachrichten Rn. 6). Die komplexe Beurteilung der Rechtsbeständigkeit eines Streitpatents kann im Verfahren über einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung regelmäßig nicht antizipiert werden; der Ausgang des Berufungsverfahrens muss daher als offen angesehen werden.
Meier-Beck
Gröning
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Grabinski kann wegen Urlaubsabwesenheit nicht unterschreiben.Meier-Beck
Bacher
Kober-Dehm