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  • 06.05.2008 · IWW-Abrufnummer 081430

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 19.03.2008 – VIII ZR 68/07

    Die unter Verstoß gegen § 170 Abs. 1 ZPO erfolgte Zustellung eines Vollstreckungsbescheids an eine - aus dem zuzustellenden Titel nicht erkennbar - prozessunfähige Partei setzt die Einspruchsfrist in Gang (Bestätigung von BGHZ 104, 109).


    BUNDESGERICHTSHOF
    IM NAMEN DES VOLKES
    URTEIL

    VIII ZR 68/07

    Verkündet am:
    19. März 2008

    in dem Rechtsstreit

    Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2008 durch den Vorsitzenden Richter Ball, die Richter Dr. Wolst und Dr. Frellesen sowie die Richterinnen Hermanns und Dr. Milger

    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Die Revision des Beklagten gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 29. Januar 2007 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

    Von Rechts wegen

    Tatbestand:

    Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Vollstreckungsbescheid über 900 ¤ nebst Zinsen erwirkt, der dem Beklagten am 24. September 2003 zugestellt worden ist. Am 6. März 2006 hat der Beklagte Einspruch eingelegt und hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung des Einspruchs beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, er sei von Mitte des Jahres 2002 bis Ende des Jahres 2004 infolge einer Alkoholerkrankung geschäftsunfähig gewesen.

    Das Amtsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten abgelehnt und seinen Einspruch als unzulässig verworfen. Das Landgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Ziel der Klageabweisung weiter.

    Entscheidungsgründe:

    I.

    Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:

    Das Amtsgericht habe den Einspruch des Beklagten im Ergebnis zu Recht verworfen. Auf die vom Beklagten behauptete Geschäftsunfähigkeit im Zeitpunkt der Zustellung des Vollstreckungsbescheids komme es nicht an, denn die Einspruchsfrist werde auch durch die Zustellung des Vollstreckungsbescheids an eine - aus dem zuzustellenden Titel nicht erkennbar - geschäftsunfähige Partei ausgelöst. Die prozessunfähige Partei sei durch die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage ausreichend geschützt. Das Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen vom 25. Juni 2001 habe daran mit § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO, der lediglich klarstellenden Charakter habe, nichts geändert.

    Die Einspruchsfrist sei mithin bei Eingang des Einspruchs längst abgelaufen gewesen. Einer Wiedereinsetzung stehe schon § 234 Abs. 3 ZPO entgegen.

    II.

    Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand, so dass die Revision zurückzuweisen ist. Der am 6. März 2006 eingelegte Einspruch des Beklagten gegen den ihm am 24. September 2003 zugestellten Vollstreckungsbescheid ist mangels Einhaltung der zweiwöchigen Einspruchsfrist unzulässig.

    1. Einer Beweisaufnahme über die Geschäftsfähigkeit des Beklagten im Zeitpunkt der Zustellung des Vollstreckungsbescheids bedurfte es, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, nicht. Die Zustellung des Vollstreckungsbescheids an den Beklagten am 24. September 2003 hat die zweiwöchige Einspruchsfrist gemäß § 700 Abs. 1, § 339 Abs. 1 ZPO auch dann in Gang gesetzt, wenn der Beklagte zu diesem Zeitpunkt geschäfts- und damit auch prozessunfähig war.

    a) Zwar ist bei nicht prozessfähigen Personen gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO an den gesetzlichen Vertreter zuzustellen. Hieraus folgt, dass eine an den Geschäftsunfähigen selbst erfolgte Zustellung unwirksam ist. Dieser Grundsatz entsprach bereits unter der Geltung des § 171 Abs. 1 ZPO aF allgemeiner Ansicht (Stein/Jonas/Roth, ZPO, 21. Aufl., § 171 Rdnr. 15; MünchKomm ZPO/Wenzel, 2. Aufl., § 171 Rdnr. 1; vgl. auch Häublein in Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002, § 170 Rdnr. 3) und ist in § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO (nF) nunmehr ausdrücklich normiert.

    b) Dem Gebot der Rechtssicherheit und der Ausgestaltung der Nichtigkeitsklage wegen mangelhafter Vertretung (§ 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 4, § 586 Abs. 3 ZPO) ist jedoch für die Fälle der als prozessfähig behandelten, tatsächlich aber prozessunfähigen Partei eine Ausnahme zu entnehmen, so dass in diesen Fällen die Zustellung von Urteilen und Vollstreckungsbescheiden an die prozessunfähige Partei den Lauf der Rechtsmittel- bzw. Einspruchsfrist auslöst. Dies entsprach unter der Geltung des § 171 ZPO aF der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 104, 109, 111 f.; vgl. ferner - für die Zustellung des Zuschlagsbeschlusses - BGH, Beschluss vom 5. November 2004 - IXa ZB 76/04 - NJOZ 2005, 77, unter II 2 a). Mit dieser Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof die bereits vom Reichsgericht (RGZ 121, 63, 64; 162, 223, 225) sowie vom Bundesverwaltungsgericht (NJW 1970, 962 f.) in diesen Fällen für die Zustellung von Urteilen an die prozessunfähige Partei anerkannte Ausnahme fortgeführt und auf die Zustellung von Vollstreckungsbescheiden ausgedehnt. Hierfür war die Überlegung maßgeblich, dass für die Auslösung der Rechtsmittelfrist durch die Zustellung in diesen Fällen ein noch dringenderes Bedürfnis besteht als bei Urteilen, die gemäß § 517 ZPO auch ohne Zustellung rechtskräftig werden können (BGHZ aaO).

    Hieran ist auch unter der Geltung des § 170 Abs. 1 ZPO festzuhalten (Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 170 Rdnr. 5; Wieczorek/Schütze/Rohe, ZPO, 3. Aufl., § 170 Rdnr. 17; Musielak/Stadler, ZPO, 5. Aufl., § 339 Rdnr. 1; a.A. Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 52 Rdnr. 13; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 28. Aufl., § 170 Rdnr. 3). Aus den Gesetzesmaterialien, in denen von einer bloßen Klarstellung die Rede ist (vgl. BT-Drs. 14/4554, S. 17), ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Änderung der Rechtslage. Die für die Anerkennung der Ausnahme maßgeblichen Gründe bestehen unverändert fort.

    aa) Die Zivilprozessordnung geht - wie sich aus der Systematik von § 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 4, § 586 Abs. 3 und § 584 Abs. 2 ZPO ergibt - von der Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage gegen einen Vollstreckungsbescheid aus. Für den Fall der Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung setzt dies wiederum voraus, dass auch ein Vollstreckungsbescheid rechtskräftig werden kann, obwohl der Geschäftsunfähige im Verfahren nicht vertreten ist und dementsprechend der Vollstreckungsbescheid nicht an den gesetzlichen Vertreter, sondern an die Partei selbst zugestellt wird.

    bb) Im Interesse von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit ist es geboten, Prozesse möglichst bald durch den Eintritt der formellen Rechtskraft der Entscheidung zu beenden. Damit wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der formelle Akt der Zustellung in seiner Wirkung, die Rechtsbehelfsfrist in Lauf zu setzen, durch Mängel, die bei der Zustellung nicht erkennbar sind und erst in einem längeren Verfahren geprüft werden müssten, in Frage gestellt würde (BGHZ aaO). Auch der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es nicht, der Zustellung an den Prozessunfähigen jede Wirkung zu versagen, denn das rechtliche Gehör wird dem Prozessunfähigen im Verfahren über die Nichtigkeitsklage nachträglich gewährt.

    cc) Entgegen der Auffassung der Revision ist eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung auch nicht im Hinblick auf den Schutz des Geschäftsunfähigen geboten. Der Geschäftsunfähige wird im Prozessrecht in erster Linie dadurch geschützt, dass der Mangel der Prozessfähigkeit gemäß § 56 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Das Gericht ist verpflichtet, Anhaltspunkten für eine fehlende Prozessfähigkeit nachzugehen und gegebenenfalls Beweis zu erheben; dabei ist es nicht an die förmlichen Beweismittel der ZPO gebunden (BGH, Urteil vom 9. Januar 1996 - VI ZR 94/95, NJW 1996, 1059, unter II 2 b). Stellt sich heraus, dass eine Partei wegen Geschäftsunfähigkeit der gesetzlichen Vertretung bedarf, so hat das Gericht Gelegenheit zur Abhilfe zu geben (z.B. durch Bestellung eines Pflegers, vgl. BGH, Urteil vom 9. April 1986 - IVb ZR 10/85 - NJW-RR 1986, 1119, unter II 2); anderenfalls ist die Klage als unzulässig abzuweisen (vgl. BGHZ 143, 122, 126 f.). Für den Fall der im Verfahren unerkannt gebliebenen Geschäftsunfähigkeit ist die davon betroffene Partei durch die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage ausreichend geschützt. Die einmonatige Frist für die Erhebung dieser Klage beginnt mit der Zustellung der anzufechtenden Entscheidung an den gesetzlichen Vertreter bzw. im Falle der Wiedererlangung der Prozessfähigkeit nach vorübergehender Geschäftsunfähigkeit mit der erneuten Zustellung an die wieder prozessfähige Partei. Da eine solche erneute Zustellung hier nicht erfolgt ist, steht dem Beklagten die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage noch zur Verfügung. Die Ausschlussfrist von fünf Jahren ab Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung (§ 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO) gilt für die Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung nicht (§ 586 Abs. 3 ZPO).

    dd) Zu Unrecht meint die Revision, für die Rechtssicherheit wäre nicht viel gewonnen, wenn die Entscheidung nach der Zustellung an die unerkannt prozessunfähige Person zwar formell rechtskräftig werden könne, aber in ihrem Bestand durch die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage dauerhaft bedroht wäre (vgl. MünchKommZPO/Häublein, 3. Aufl., § 170 Rdnr. 4). Diese Argumentation übersieht, dass die formelle Rechtskraft in diesem Fall nicht bereits durch die Behauptung in Frage gestellt wird, dass der Zustellungsempfänger im Zeitpunkt der - gegebenenfalls lange zurück liegenden - Zustellung prozessunfähig gewesen sei. Vielmehr bedarf es eines förmlichen Wiederaufnahmeverfahrens, in dessen Rahmen es erst dann zu einer Durchbrechung der Rechtskraft kommt, wenn der - von Amts wegen zu prüfende - Wiederaufnahmegrund nachgewiesen ist.

    2. Dem Berufungsgericht ist ferner darin beizupflichten, dass dem Antrag auf Wiedereinsetzung schon deshalb nicht entsprochen werden konnte, weil die Jahresfrist seit Ablauf der versäumten Frist (§ 234 Abs. 3 ZPO) abgelaufen war.

    RechtsgebietZPOVorschriftenZPO § 170 Abs. 1