01.04.2011 | Sozialhilferegress
BGH: Auch behinderte Sozialleistungsbezieher dürfen auf ihren Pflichtteil verzichten
von RiLG Dr. Andreas Möller, Bochum
Der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers ist grundsätzlich nicht sittenwidrig (BGH 19.1.11, IV ZR 7/10, n.v., Abruf-Nr. 110512). |
Sachverhalt
Der klagende Sozialhilfeträger macht aus übergeleitetem Recht gegen den Beklagten Pflichtteilsansprüche geltend. Der Kläger erbringt für eine Tochter des Beklagten (im Folgenden Leistungsbezieherin), die unter einer Lernbehinderung leidet, aber nicht in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, Sozialleistungen. Der Beklagte und seine Ehefrau errichteten ein notarielles gemeinschaftliches Testament, in dem sich die Ehegatten gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Schlusserben sollten die drei gemeinsamen Kinder sein. Die Leistungsbezieherin wurde für den Schlusserbfall zu 34/200 als nicht befreite Vorerbin eingesetzt. Ihre Geschwister wurden zu je 83/200 zu Voll-Miterben bestimmt. Über den Vorerbteil wurde Dauertestamentsvollstreckung angeordnet. Testamentsvollstrecker sollte der Bruder der Leistungsbezieherin, Nacherben sollten die beiden Geschwister sein. Der Testamentsvollstrecker wurde angewiesen, der Leistungsbezieherin zur Verbesserung ihrer Lebensqualität aus den ihr gebührenden Reinerträgen des Nachlasses nach billigem Ermessen solche Geld- oder Sachleistungen zukommen zu lassen, auf die der Sozialhilfeträger nicht zugreifen kann und die auch nicht auf die gewährten Sozialleistungen anrechenbar sind. Im Anschluss an die Beurkundung des Testaments verzichteten die drei Kinder in notarieller Form auf ihren jeweiligen Pflichtteil nach dem Erstversterbenden. Noch am Tag der Testamentserrichtung verstarb die Ehefrau des Beklagten. Mit Bescheid leitete der Kläger gemäß § 93 SGB XII den Pflichtteilsanspruch der Leistungsbezieherin nach der Mutter auf sich über. Er hält den Pflichtteilsverzicht der Leistungsbezieherin wegen Verstoßes gegen § 138 Abs. 1 BGB für unwirksam. Das LG hat die Klage abgewiesen. Weder die Berufung noch die Revision waren erfolgreich.
Entscheidungsgründe
Weder das gemeinschaftliche Testament noch der Pflichtteilsverzicht verstoßen gegen die guten Sitten, § 138 BGB. Deswegen ging die Überleitung nach § 93 SGB XII ins Leere. Der Kläger ist nicht Inhaber der geltend gemachten Wertermittlungs- und Pflichtteilsansprüche geworden.
Ein sog. Behindertentestament ist nicht sittenwidrig. Eltern eines behinderten Kindes dürfen die Nachlassverteilung durch eine kombinierte Anordnung von Vor- und Nacherbschaft sowie einer - mit konkreten Verwaltungsanweisungen versehenen - Dauertestamentsvollstreckung so gestalten, dass das Kind zwar Vorteile aus dem Nachlassvermögen erhält, der Sozialhilfeträger darauf aber nicht zugreifen kann. Eine solche Verfügung von Todes wegen ist Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus (BGH ZEV 94, 35; BGHZ 111, 36 = FamRZ 90, 730; EE 05, 55, Abruf-Nr. 050277 = ZEV 05, 117 = FamRZ 05, 448; EE 06, 93, Abruf-Nr. 061369 = ZEV 06, 76 = FamRZ 06, 194). Um ein solches Testament handelt es sich auch im Streitfall. Unerheblich ist, dass die Leistungsbezieherin geschäftsfähig war und nicht unter gerichtlicher Betreuung stand.
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