· Fachbeitrag · Amtshaftung
Die Erbengemeinschaft im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG
von RA Dr. Martin Riemer, FA Medizinrecht und Versicherungsrecht, Brühl
| Das LSG Nordrhein-Westfalen hat über Entschädigungsansprüche von Erben wegen überlanger Dauer eines Sozialgerichtsverfahrens befunden. Dabei ging es auch um die Frage, ob nur der Erbengemeinschaft als solcher oder aber jedem Beteiligten eine eigene Entschädigungsleistung zusteht. |
Sachverhalt
Am 16.2.15 hatten die vier Kläger vor dem SG Köln als Erben ihres Vaters und Ehemanns Klage gegen die Berufsgenossenschaft erhoben, um nachträglich die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit um 50 Prozent nach einem Arbeitsunfall anerkennen zu lassen. Das SG hatte die Klage, ohne Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, per Gerichtsbescheid vom 7.9.15 abgewiesen. Hiergegen hatten die Kläger am 22.10.15 Berufung zum LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt, die mit Urteil vom 2.10.19 (L 17 U 671/15), zugestellt am 11.10.19, zurückgewiesen wurde. Weder der Gerichtsbescheid noch das Berufungsurteil wiesen im Aktivrubrum eine Erbengemeinschaft aus, sondern gingen gem. §§ 74 SGG, 59 ZPO von einer subjektiven Klagehäufung aus.
In einem anschließenden Entschädigungsverfahren rügten die Kläger auf Aktivseite daher ebenfalls in subjektiver Klagehäufung und nicht als Erbengemeinschaft die Überlänge des vorherigen Berufungsverfahrens. Sie verlangten eine Entschädigung für jeden von ihnen für jeweils 24 Monate Verfahrensverzögerung, insgesamt viermal 2.400 EUR.
Entscheidungsgründe
Das LSG Nordrhein-Westfalen (16.2.22, L 11 SF 114/20 EK U, Abruf-Nr. 231272) verurteilte das gem. § 200 S. 1 GVG passivlegitimierte Land NRW gem. § 198 Abs. 2 S. 1 GVG für 13 verzögerte Bearbeitungsmonate zur Zahlung von einmalig 1.300 EUR an die Erbengemeinschaft.
Potenziell entschädigungspflichtig sei gem. § 198 Abs. 6 GVG zwar der gesamte Zeitraum eines Gerichtsverfahrens von dessen Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss (hier: 57 Monate). Nach der Dispositionsmaxime des § 123 SGG sei eine Entschädigungsklage nur bezogen auf einzelne Verfahrensabschnitte (hier: das Berufungsverfahren mit 47 Monaten) jedoch zulässig. Zwar hätten im Berufungsverfahren tatsächlich 31 Monate an „inaktiven Zeiten“ vorgelegen. Von diesen sei jedoch ein 12-monatiger Zeitraum für Vorbereitungsarbeiten und richterliche Bedenkzeit abzuziehen, der nicht durch eine konkrete Verfahrensförderung begründet oder gerechtfertigt werden brauche, sodass 19 entschädigungspflichtige Monate verblieben. Hiervon seien jedoch wiederum weitere 6 Monate abzuziehen, denn bei einer Gesamtabwägung dürfe eine besonders schnelle Verfahrensförderung in erster Instanz ausgleichend auch dann berücksichtigt werden, wenn dieser Verfahrensabschnitt nicht Streitgegenstand gewesen sei. Die zügige Behandlung in einer früheren oder späteren Instanz könne zugunsten der Justiz kompensierend berücksichtigt werden.
Der so ermittelte Entschädigungsbetrag stehe den Klägern jedoch nur einmal zu, denn anspruchsberechtigt gem. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG sei, wer „als Verfahrensbeteiligter“ infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleide. „Verfahrensbeteiligter“ gem. § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG meine zwar jeden Verfahrensbeteiligten. Beteiligt gewesen seien hier jedoch nicht die einzelnen Kläger, sondern die aus ihnen bestehende Erbengemeinschaft, denn sie hätten ausweislich des gemeinschaftlichen Erbscheins den Verstorbenen zu 1/2 bzw. 1/6 beerbt, weswegen nach der in § 1922 Abs. 1 BGB angeordneten Gesamtrechtsnachfolge sein Vermögen somit zu ihrem gemeinschaftlichen Vermögen als Erbengemeinschaft geworden sei (§ 2032 Abs. 1 BGB). Diese wäre im Ausgangsverfahren als Klägerin aufgetreten, denn sowohl die Klage wie auch die Berufung wären ausdrücklich im Namen „der Erbengemeinschaft“ erhoben worden. Auch sei die Frage, ob neben der Witwe auch den Kindern das geltend gemachte Feststellungsinteresse am Vorliegen einer höheren Erwerbsminderung zustehe, zentral thematisiert worden.
Es könne letztlich somit dahinstehen, ob § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG mit der Verwendung des Begriffs „Beteiligter“ allein auf die formale Beteiligtenstellung gemäß § 69 SGG abstelle, es also ausreichen lasse, dass der Betreffende als Kläger, Beklagter oder Beigeladener aufgetreten war, oder ob zusätzlich zu verlangen gewesen sei, dass auch die Beteiligtenfähigkeit i. S. v. § 70 SGG bestanden habe. Denn die Erbengemeinschaft sei als nicht rechtsfähige Personenvereinigung i. S. v. § 70 Nr. 2 SGG fähig, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein.
Wenn aber die Anspruchsberechtigung der Erbengemeinschaft ‒ und nicht der einzelnen Erben ‒ als Beteiligter i. S. v. § 198 Abs. 6 Nr. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 GVG als Gesamthandsgemeinschaft zustehe, könne für den Entschädigungsanspruch nichts anderes gelten als für den im Ausgangsverfahren ebenfalls zur gesamten Hand verfolgten Anspruch. Der Antrag auf Zahlung an dieGesamthandsgemeinschaft als „minus“ sei dabei in dem (allgemeinen) Leistungsantrag enthalten, ohne dass es einer Antragsänderung bedürfte.Anders läge es z. B. bei Entschädigungsansprüchen mehrerer in einem Verfahren klagender Angehöriger einer Bedarfsgemeinschaft gem. § 7 Abs. 3 SGB II, die von vornherein eigene Ansprüche verfolgten und dementsprechend auch individuelle Entschädigungsansprüche gem. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG innehaben könnten.
Relevanz für die Praxis
Gegen das Urteil hat ein Mitglied der Erbengemeinschaft die Zulassung der Revision zum BSG beantragt (B 10 ÜG 7/22 B). Wenn sich, vor welchem Gerichtszweig auch immer, ein Prozess überlange hinzieht, an dem auf Aktiv- oder Passivseite eine Erbengemeinschaft beteiligt ist, ist ‒ sollte das Urteil so stehen bleiben ‒ darauf zu achten, dass als „Beteiligter“ gem. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG und damit als Berechtigter für Entschädigungsansprüche selbst dann nur die Erbengemeinschaft und nicht ihre einzelnen Mitglieder gelten, wenn diese im Rubrum des Ausgangsverfahrens in subjektiver Klagehäufung erfasst wurden.