· Fachbeitrag · Haftungsrecht
Unterlassener Behandlungsabbruch bei krankheitsbedingtem Leiden ‒ kein Schadenersatz
von RiOLG Dr. Andreas Möller, Hamm
| Ein Arzt haftet nicht dafür, dass er das Leiden eines Patienten verlängert, indem er es unterlässt, das Therapieziel auf dessen Sterben unter palliativmedizinischer Betreuung umzustellen. Das hat der BGH entschieden. |
Sachverhalt
Der Kläger (S) macht als Alleinerbe seines verstorbenen Vaters (V) gegen den beklagten Hausarzt des V (A) Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadenersatz geltend. S behauptet, die Sondenernährung des V sei nicht medizinisch indiziert und nicht durch einen feststellbaren Patientenwillen gerechtfertigt gewesen. Sie habe nur dazu geführt, das krankheitsbedingte Leiden des V ohne Aussicht auf Besserung des gesundheitlichen Zustands zu verlängern. Deswegen sei der A verpflichtet gewesen, das Therapieziel dahin gehend zu ändern, das Sterben des V unter palliativmedizinischer Betreuung zuzulassen, indem die Sondenernährung beendet wird. Durch die Sondenernährung und das Fortdauernlassen der Schmerzen und Leiden seien der Körper und das Persönlichkeitsrecht des V verletzt worden. Deshalb stehe ihm ‒ S ‒ aus ererbtem Recht ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Zudem habe er einen Anspruch auf Ersatz der im streitgegenständlichen Zeitraum entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen, die ohne die Behandlung nicht entstanden wären, da der V nicht mehr gelebt hätte.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat unter Abweisung der weitergehenden Klage ein Schmerzensgeld zugesprochen. Die Revision des A war erfolgreich.
|
|
Entscheidungsgründe
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.
Da ein immaterieller Schaden fehlt (§ 253 Abs. 2 BGB), ist unerheblich, ob die übrigen Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs vorliegen, insbesondere, ob der A fehlerhaft behandelt hat und ob dadurch die Gesundheit des V verletzt wurde. Das Weiterleben des V ist kein Schaden (BGHZ 86, 240, 253). Denn das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Leben ‒ auch ein leidensbehaftetes Weiterleben ‒ ist kein Schaden, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Das dem Leben anhaftende krankheitsbedingte Leiden, das durch lebenserhaltende Maßnahmen verlängert wird, kann nicht für sich genommen als Schaden angesehen werden, da es sich nicht ‒ wie etwa die Unterhaltspflicht der Eltern ‒ vom Leben trennen lässt.
Es entzieht sich der gerichtlichen Beurteilung, ob Leben mit schweren Behinderungen (sog. „wrongful life“) gegenüber dem Nichtleben im Rechtssinne einen Schaden oder aber eine immer noch günstigere Lage darstellt (BGHZ 86, 242, 253). Aus dem verfassungsrechtlichen Gebot, den Menschen als Subjekt ärztlicher Behandlung zu begreifen, ergibt sich Folgendes: Der Patient hat in jeder Lebensphase, auch am Lebensende, das Recht, selbstbestimmt zu entscheiden, ob er ärztliche Hilfe beanspruchen will, vgl. u. a. § 1901a Abs. 3 BGB. Danach bleibt auch nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit dessen Wille für die Entscheidung über die Vornahme oder das Unterlassen ärztlicher Maßnahmen maßgeblich, selbst wenn ohne den Behandlungsabbruch noch eine Heilungs- oder Lebensperspektive bestanden hätte (BGHZ 202, 226). Aber auch wenn der Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag, verbietet die Verfassung der Rechtsprechung ein Urteil über das Leben des Betroffenen mit der Schlussfolgerung, dieses sei ein Schaden.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des V zu. Es kann offenbleiben, ob ein solcher Anspruch auf eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des V gestützt werden könnte, wenn lebenserhaltende Maßnahmen gegen dessen Willen aufrechterhalten würden (dazu Ludyga, NZFam 17, 595, 598). Denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Es ist nicht festgestellt, dass die Sondenernährung gegen den Willen des V erfolgte, was S hätte beweisen müssen.
S hat auch keinen Anspruch auf materiellen Schadenersatz. Offenbleiben kann, ob der A Aufklärungs- oder Behandlungspflichten verletzt hat. Denn es fehlt an dem erforderlichen Schutzzweckzusammenhang zwischen einer etwaigen Pflichtverletzung und dem geltend gemachten materiellen Schaden. Es ist verfassungsrechtlich zwar möglich, die wirtschaftlichen Belastungen, die mit der Existenz des Menschen verbunden sind, unter bestimmten Umständen als materiellen Schaden zu begreifen. Nach der BGH-Rechtsprechung kann die durch die planwidrige Geburt eines Kindes ausgelöste wirtschaftliche Belastung der Eltern mit dem Unterhaltsaufwand einen ersatzpflichtigen Schaden darstellen (BGHZ 124, 128; BGHZ 151, 127, 131 bestätigt durch BVerfGE 96, 375). Es kann dahinstehen, ob es verfassungsrechtlich unbedenklich wäre, Schadenersatz für wirtschaftliche Belastungen zuzusprechen, die mit dem eigenen Dasein verbunden sind. Denn hier fehlt es an dem Schutzzweckzusammenhang zwischen der möglicherweise verletzten Norm und dem materiellen Schaden.
Es ist anerkannt, dass die Schadenersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Eine Schadenersatzpflicht besteht nur, wenn die Folgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte vertragliche oder vorvertragliche Pflicht übernommen worden ist (BGHZ 201, 263). Die Schadenersatzpflicht hängt u. a. davon ab, dass die Norm oder vertragliche Pflicht den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezweckt; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden muss also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm oder Vertragspflicht fallen. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten (BGHZ 201, 263). Dementsprechend hat der BGH den Eltern eines (ursprünglich) nicht gewollten Kindes Schadenersatz gegen den Arzt für die Unterhaltsbelastungen nur dann und nur insoweit zugesprochen, als die durch den Beratungs- oder Behandlungsvertrag ‒ in rechtlich zulässiger Weise ‒ übernommenen Pflichten dem Schutz vor diesen Belastungen dienten (BGHZ 124, 128, 138; BGHZ 143, 389, 395).
Die ggf. verletzten Pflichten waren nach ihrem Zweck nicht darauf gerichtet, den V vor wirtschaftlichen Belastungen zu schützen, die mit seinem ‒ wenn auch leidensbehafteten ‒ Weiterleben verbunden waren. Eine etwaige Pflicht eines Arztes, den Betreuer eines einwilligungsunfähigen Patienten darüber aufzuklären, dass ein Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen in Betracht kommt, dient allein dem vom Betreuer wahrzunehmenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Pflicht, die medizinische Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen nicht fehlerhaft zu bejahen, soll verhindern, dass der Sterbeprozess unnötig belastet wird. Zweck ist es hingegen bei der gebotenen wertenden Betrachtung nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insbesondere dienen die Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.
Relevanz für die Praxis
Ärzte und Krankenhäuser gehen zumindest dann, wenn kein eindeutiger Patientenwille vorliegt, haftungsrechtlich kein Risiko ein, wenn sie die Behandlung fortsetzen. Das kann z. B. bei unklaren Patientenverfügungen der Fall sein, aber auch, wenn der mutmaßliche Wille ermittelt werden muss. Dies wird dazu führen, dass eine Behandlung im Zweifel fortgesetzt werden wird. Umso wichtiger ist es, Patientenverfügungen entsprechend der Rechtsprechung des BGH (EE 17, 74) hinreichend konkret zu fassen. Allerdings hat der BGH offengelassen, ob eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Patienten zumindest zu Schmerzensgeldansprüchen aus § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB führen kann, wenn lebenserhaltende Maßnahmen gegen dessen Willen aufrechterhalten würden. Dies dürfte im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu bejahen sein.
Weiterführende Hinweise
- EE 14, 200-203 = BGHZ 202, 226
- Sonderausgabe EE zur Vorsorgevollmacht, Patienten- und Betreuungsverfügung