· Fachbeitrag · Erbschaftsteuer
Vorläufiger Rechtsschutz unabhängig von der Entscheidung des BVerfG zum ErbStG
von RA und Notar a.D. Jürgen Gemmer, FA Steuerrecht, Magdeburg
Die Vollziehung eines auf § 19 Abs. 1 ErbStG ab 2009 beruhenden Erbschaftsteuerbescheids ist wegen des beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens 1 BvL 21/12 auf Antrag des Steuerpflichtigen auszusetzen oder aufzuheben, wenn ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht (BFH 21.11.13, II B 46/13, BFHE 243, 162 = ZEV 14, 108 = DStR 13, 2686, Abruf-Nr. 133941). |
Sachverhalt
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (ASt.) ist die geschiedene Ehefrau des verstorbenen Erblassers (E). Aufgrund eines Vermächtnisses des E erhält sie auf Lebenszeit eine monatliche Rente. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (FA) setzte für den Erwerb der ASt. Erbschaftsteuer fest, die diese entrichtete. Mit dem Einspruch machte die ASt. im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des BFH vom 27. 9.12 (II R 9/11, BFHE 238, 241 = BStBl II 12, 899 = ZEV 12, 599) und das damit beim BVerfG anhängige Verfahren (1 BvL 21/12) die Verfassungswidrigkeit des ErbStG in der Fassung des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.08 (BGBl I 08, 3018) geltend. Das Einspruchsverfahren ruht bis zu einer Entscheidung des BVerfG im Verfahren (1 BvL 21/12). Die von der ASt. beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte das FA ab. Die beim FG beantragte Aufhebung der Vollziehung wurde ebenfalls abgelehnt. Der BFH gab der Beschwerde statt.
Entscheidungsgründe
An der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids bestehen ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 S. 2 FGO.
Angefochtenen Steuerbescheid summarisch prüfen
Nach § 69 Abs. 3 S. 1 i.V. mit Abs. 2 S. 2 FGO muss das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts (VA) ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des VA bestehen. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl. BFHE 240, 447). Im Fall eines bereits vollzogenen VA ist die Vollziehung wieder aufzuheben, § 69 Abs. 3 S. 3 FGO. Im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifnorm des § 19 Abs. 1 ErbStG. Beim BVerfG ist unter dem Az. 1 BvL 21/12 ein Normenkontrollverfahren zur Frage anhängig, ob § 19 Abs. 1 ErbStG i.V. mit §§ 13a und 13b ErbStG wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungswidrig ist, da die in §§ 13a und 13b ErbStG vorgesehenen Steuervergünstigungen in wesentlichen Teilbereichen von großer finanzieller Tragweite über das verfassungsrechtlich gerechtfertigte Maß hinausgehen und dadurch die Steuerpflichtigen, die die Vergünstigungen nicht beanspruchen können, in ihrem Recht auf eine gleichmäßige, der Leistungsfähigkeit entsprechende und folgerichtige Besteuerung verletzt werden (vgl. Vorlagebeschluss des BFH BFHE 238, 241 = BStBl II 12, 899 = ZEV 12, 599).
Interessenabwägung vornehmen
Das Interesse der ASt. an der Aufhebung der Vollziehung ist gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des ErbStG vorrangig. Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine Aufhebung der Vollziehung, die mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründet wird, Folgendes voraus: Nach den Umständen des Einzelfalls besteht ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, dem der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt (siehe statt vieler BFH/NV 12, 1652).
Bei Tarifnormen kann einstweilige Nichterhebung der Steuer drohen
Bis zur Entscheidung des BVerfG ist zwar ungewiss, ob es die Vorschrift als verfassungswidrig beurteilen und im Fall einer Verfassungswidrigkeit für nichtig oder (nur) für mit dem GG unvereinbar erklären und welche Rechtsfolge es hieraus ziehen wird. Jedoch muss der BFH vorläufigen Rechtsschutz auf der Basis seiner, der Vorlage zugrunde liegenden Rechtsauffassung gewähren (vgl. BFH BStBl II 04, 367, m.w.N. = NJW 04, 1127). Ist - wie bei der Erbschaftsteuer- die dem BVerfG zur Prüfung vorgelegte Vorschrift allerdings eine Tarifnorm, muss im Rahmen der Interessensabwägung auch Folgendes berücksichtigt werden: In diesem Fall kann die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes praktisch zur einstweiligen Nichterhebung der gesamten Steuer führen.
Nur das BVerfG kann den Vollzug von Gesetzen aussetzen
Die Kompetenz, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, steht aber nach § 32 Abs. 1 des Gesetzes über das BVerfG (BVerfGG) allein dem BVerfG zu, das von dieser Möglichkeit nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Gründe Gebrauch machen darf (BVerfG BVerfGE 104, 23 = NJW 01, 3256). Dennoch hat ein Steuerpflichtiger auch in einem solchen Fall Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Nur in Ausnahmefällen können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen. Ein berechtigtes Interesse liegt jedenfalls vor, wenn der Steuerpflichtige mangels des Erwerbs liquider Mittel (wie z.B. Bargeld, Bankguthaben, mit dem Ableben des Erblassers fällige Versicherungsforderungen) zur Entrichtung der festgesetzten Erbschaftsteuer eigenes Vermögen einsetzen oder die erworbenen Vermögensgegenstände veräußern oder belasten muss. In diesen Fällen kann der Erwerber die Erbschaftsteuer nicht bzw. nicht ohne weitere, ggf. auch verlustbringende Dispositionen aus dem Erwerb begleichen. Es ist ihm deshalb nicht zuzumuten, die Erbschaftsteuer vorläufig zu entrichten. Wegen des vorrangigen Interesses des Steuerpflichtigen steht der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht entgegen, dass das ErbStG als formell zustande gekommenes Gesetz bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG Geltung beansprucht und von den Behörden und Gerichten anzuwenden ist. Gehören dagegen zu dem der Erbschaftsteuer unterliegenden Erwerb auch verfügbare Zahlungsmittel, die zur Entrichtung der Erbschaftsteuer eingesetzt werden können, fehlt regelmäßig ein vorrangiges Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Durch die Begleichung der Erbschaftsteuer vermindern sich lediglich die dem Steuerpflichtigen mit dem Erwerb zugeflossenen Zahlungsmittel, sodass die vorläufige Zahlung der Erbschaftsteuer dem Steuerpflichtigen zuzumuten ist.
Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall das Interesse der Antragstellerin an der Aufhebung der Vollziehung des Erbschaftsteuerbescheids gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des ErbStG vorrangig.
BFH ändert seine Rechtsprechung
Soweit der Senat bisher vorläufigen Rechtsschutz versagt hat, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG aussprechen und dem Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft aufgeben wird (vgl. BFH BFHE 232, 380 = BStBl II 11, 942; BFH/NV 11, 1395), wird daran nicht mehr festgehalten. Es ist nicht gerechtfertigt, aufgrund einer Prognose über die Entscheidung des BVerfG vorläufigen Rechtsschutz generell auszuschließen. Ist ein qualifiziertes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorhanden, muss es im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG auch effektiv durchsetzbar sein und darf nicht deshalb leerlaufen, weil das BVerfG möglicherweise in einem Normenkontrollverfahren eine Weitergeltung verfassungswidriger Normen anordnet. Daher ist auch im Streitfall eine Aufhebung der Vollziehung unabhängig davon zu gewähren, ob das BVerfG im Verfahren 1 BvR 21/12 für den Fall, dass es zu der Überzeugung gelangt, § 19 Abs. 1 ErbStG sei mit dem GG unvereinbar, die Norm für nichtig erklärt oder wiederum eine zeitlich beschränkte Weitergeltung anordnet.
Praxishinweis
Die obersten Finanzbehörden der Länder haben aufgrund des beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens beschlossen, die Festsetzungen der Erbschaftsteuer (Schenkungsteuer) vorläufig durchzuführen. Danach sind sämtliche Festsetzungen nach dem 31.12.08 entstandener Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig durchzuführen. Ungeachtet dessen ist in allen Fällen innerhalb der Rechtsbehelfsfrist Einspruch gegen den Erbschaft- oder Schenkungsteuerbescheid einzulegen, bei denen auch das Ziel verfolgt wird, die Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu erlangen. Denn ohne Einlegung eines Rechtsbehelfs gibt es keine AdV. Der Vorläufigkeitsvermerk, der kein Rechtsbehelf ist, ist nicht ausreichend.
Weiterführender Hinweis
- Wachter, DB 13, 2906, zu dieser Entscheidung