· Fachbeitrag · Begünstigungsfähiges Vermögen
Reaktion auf den BFH: Finanzverwaltung ändert Berechnungsmethode zum 90 %-Einstiegstest
von Prof. Dr. Gerhard Brüggemann, Münster
| Der 90 %-Einstiegstest des § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG ist als Reaktion auf die frühere Begünstigung sog. Cash-Gesellschaften zum 1.7.16 eingeführt worden und sollte unerwünschte Gestaltungen zur Inanspruchnahme der Steuerverschonung verhindern. Obwohl die Finanzverwaltung den komplizierten Gesetzestext hinsichtlich des in § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG aufgeführten Altersversorgungsvermögens von Beginn an zugunsten der Steuerpflichtigen nicht wortlautgetreu angewendet hat, entfaltete die Regelung immer noch überschießende Wirkung. Dies galt insbesondere bei Betrieben und Gesellschaften, die z. B. über einen hohen Geld-, Forderungs- bzw. Finanzmittelbestand verfügen, aber einen geringen Unternehmenswert aufweisen oder stark fremdfinanziert sind. Der BFH sah sich daher veranlasst, deren Anwendungsbereich im Wege einer verfassungskonformen Auslegung einzuschränken. Mit gleichlautenden Erlassen vom 19.6.24 (S 3812b) hat sich nun die Finanzverwaltung erfreulicherweise der Auffassung des BFH für alle noch offenen Fälle uneingeschränkt angeschlossen. |
1. Bisherige Lesart der Finanzverwaltung
Gemäß § 13b Abs. 2 S. 1 ErbStG ergibt sich das begünstigte Vermögen, wenn von dem festgestellten Wert des Betriebs/Anteils (= begünstigungsfähiges Vermögen) das steuerpflichtige Verwaltungsvermögen (= gekürzter Nettowert des Verwaltungsvermögens) abgezogen wird.
Abweichend hiervon ist der Wert des begünstigungsfähigen Vermögens gemäß § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG vollständig nicht begünstigt, wenn das Verwaltungsvermögen im Sinne dieser Vorschrift mindestens 90 % des gemeinen Werts des begünstigungsfähigen Vermögens beträgt (= übermäßiges Verwaltungsvermögen). Ist dies der Fall, ist das begünstigungsfähige Vermögen von jeder Verschonung ausgenommen und damit in voller Höhe zu versteuern.
Bei der Prüfung der 90 %-Grenze wurde nach bisheriger Lesart der Finanzverwaltung der Wert des „Brutto-Verwaltungsvermögens“ unter Ausschluss des Verwaltungsvermögens, das der Altersversorgung dient, zugrunde gelegt. Dies war bisher der Wert, der sich vor
- der Verrechnung der Finanzmittel mit den Schulden und der Kürzung um den 15 %-Sockelbetrag nach § 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG (d. h. vor dem sog. Finanzmitteltest),
- dem quotalen Schuldenabzug mit dem Verwaltungsvermögen nach § 13b Abs. 6 ErbStG und
- dem Ansatz des 10%igen Unschädlichkeitsbetrags nach § 13b Abs. 7 ErbStG ergibt.
Auf der Basis der gemäß § 13b Abs. 10 ErbStG vom Betriebsfinanzamt zu treffenden Feststellungen erfolgte die Prüfung der 90 %-Grenze bisher wie folgt:
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| 1.000.000 EUR |
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600.000 EUR |
| 180.000 EUR |
| 420.000 EUR |
| 200.000 EUR |
| 280.000 EUR |
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| 600.000 EUR |
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| + 420.000 EUR |
| 1.020.000 EUR |
| 1.020.000 EUR |
| 1.000.000 EUR |
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In vergleichbaren Fällen war daher bisher zu empfehlen, vor der Übertragung zu prüfen, ob
- die Finanzmittel oder das übrige Verwaltungsvermögen zur Investition in betriebsnotwendiges Anlage-/Umlaufvermögen oder zur Schuldentilgung verwendet und so gemindert werden können,
- durch Gutachten ein höherer gemeiner Wert für den Betrieb/Gesellschaftsanteil nachgewiesen werden kann,
- bei Erwerben von Todes wegen die Investitionsklausel nach § 13b Abs. 5 ErbStG zur nachträglichen Minderung des Verwaltungsvermögens genutzt werden kann.
Beachten Sie | Besonders hart getroffen wurden aber gleichwohl von dieser Regelung beispielsweise Handelsunternehmen mit hohen Forderungen aus Lieferungen und Leistungen oder mit Gesellschafterdarlehensforderungen im Sonderbetriebsvermögen, denen hohe, aber nicht verrechenbare Verbindlichkeiten gegenüberstanden.
2. Entscheidung des BFH
Entgegen der oben dargelegten Berechnungsmethode ist § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG laut BFH (13.9.23, II R 49/21) dahin gehend auszulegen, dass bei Handelsunternehmen, deren begünstigungsfähiges Vermögen aus Finanzmitteln i. S. d. § 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG besteht und deren Hauptzweck einer Tätigkeit i. S. d. § 15 Abs. 1 S. 1 EStG dient, die betrieblich veranlassten Schulden für den dort verankerten 90 %-Einstiegstest von den Finanzmitteln abzuziehen sind. Nach Auffassung des BFH ist dies aus systematischen und verfassungsrechtlichen Gründen geboten und widerspricht auch nicht dem Ziel des Gesetzgebers, durch den 90 %-Einstiegstest den Missbrauch der Begünstigung von Betriebsvermögen nach § 13a ErbStG zu verhindern.
In seiner Begründung hat der BFH u. a. darauf verwiesen, dass die Finanzverwaltung ohnehin den Hauptzweck der Tätigkeit bei der Ermittlung der steuerschädlichen Finanzmittel nach § 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG prüfen und aufgrund des JStG 2020 für Bewertungsstichtage seit dem 29.12.20 gemäß § 13b Abs. 10 ErbStG ausdrücklich feststellen muss. Wenn der Hauptzweck des Unternehmens aber einer Tätigkeit i. S. d. § 13 Abs. 1, des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, des § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG dient, besteht für den BFH keine Veranlassung, die Schulden nicht gegenzurechnen. Sollte die vorgenommene Auslegung des § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG im Einzelfall dazu führen, dass sich Unternehmen, die der Gesetzgeber aufgrund ihrer hohen Verwaltungsvermögensquote von mindestens 90 % steuerrechtlich nicht begünstigen wollte, aufgrund missbräuchlicher Gestaltung die Begünstigung erschleichen, könne dies immer noch über die Anwendung von § 42 AO gelöst werden.
Die Entscheidung ist nicht nur für Handelsunternehmen von Bedeutung, sondern für alle Unternehmen, deren Hauptzweck einer Tätigkeit i. S. d. § 15 Abs. 1 S. 1 EStG dient. Es ist also grds. davon auszugehen, dass bei produktiven Unternehmen, bei denen keine Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Begünstigungsvorschriften für Betriebsvermögen vorliegen, die Schuldenverrechnung zugelassen wird (so auch Kugelmüller-Pugh, DStR 23, 2793). Dabei kann es sich ‒ wie im Streitfall ‒ um Kapitalgesellschaften wie auch um freiberuflich oder gewerblich tätige Personengesellschaften handeln.
3. Reaktion der Finanzverwaltung
3.1 Grundsätzliche Anerkennung des Urteils des BFH
Die Finanzverwaltung hat sich mit gleichlautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder vom 19.6.24 (S 3812b) der Auffassung des BFH uneingeschränkt angeschlossen. Erfreulicherweise wendet sie das Urteil sowohl für Erwerbe von Todes wegen als auch für Schenkungen und für alle Rechtsformen des begünstigungsfähigen Vermögens nach § 13b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ErbStG an. Eine Einschränkung nur auf Handelsunternehmen erfolgt also nicht (siehe hierzu auch Kugelmüller-Pugh, DStR 23, 2793; Korezkij, DStR 24, 529). Erforderlich ist entsprechend dem Urteil des BFH lediglich, dass das nach § 13b Abs. 1 ErbStG begünstigungsfähige Vermögen des Unternehmens oder der nachgeordneten Gesellschaften nach seinem Hauptzweck einer Tätigkeit i. S. d. § 13 Abs. 1, des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, des § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG dient.
Diese Feststellung, die das Betriebsfinanzamt (Feststellungsfinanzamt) im Hinblick auf den Sockelbetrag aufgrund des JStG 2020 für Bewertungsstichtage seit dem 29.12.20 gem. § 13b Abs. 10 S. 1 ErbStG vorzunehmen hat, kann vom Erbschaftsteuer-Finanzamt ohne weitere Prüfung für den 90 %-Einstiegstest übernommen werden.
MERKE | In Fällen, in denen (noch) keine gesonderte Feststellung über das Vorliegen der Voraussetzungen des §13b Abs. 4 Nr. 5 S. 4 und 5 ErbStG zu erfolgen hat, entscheidet das Erbschaftsteuer-Finanzamt über das Vorliegen der Voraussetzungen der Hauptzweckprüfung. In Fällen der Steuerentstehung bis zum 28.12.20 können dabei die im Feststellungsbescheid enthaltenen nachrichtlichen Angaben hinsichtlich des Hauptzwecks des Unternehmens (H B 151.9 „Nachrichtliche Angaben“ Nr. 1 Buchstabe c, Nr. 2 Buchstabe c oder Nr. 3 Buchstabe a ErbStH) für die Entscheidung herangezogen werden. |
3.2 Berechnung nach neuer Lesart der Finanzverwaltung
Nach neuer Lesart ist das zuvor genannte Beispiel wie folgt zu rechnen:
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| 1.000.000 EUR |
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600.000 EUR |
| 180.000 EUR |
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| 420.000 EUR |
| 200.000 EUR |
| 280.000 EUR |
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| 600.000 EUR |
| ‒ 180.000 EUR |
| 420.000 EUR |
| ‒ 280.000 EUR |
| 140.000 EUR |
| + 180.000 EUR |
| 320.000 EUR |
| + 420.000 EUR |
| 740.000 EUR |
| 740.000 EUR |
| 1.000.000 EUR |
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Entgegen der bisherigen Auffassung ist somit der 90 %-Einstiegstest bestanden, und somit kann die eigentliche Ermittlung des begünstigten Vermögens und des steuerpflichtigen Verwaltungsvermögens gemäß der bisherigen Handhabung erfolgen. Zu beachten ist allerdings, dass bei der Berechnung des Verwaltungsvermögens für den 90 %-Test die Erlasse einen Abzug des Sockelbetrags von 15 % des festgestellten Werts des (Anteils) Betriebsvermögens (§ 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG) von den Finanzmitteln ausschließen.
Die Regelungen in R E 13b.10 Sätze 1 und 2 ErbStR 2019 sind weiterhin anzuwenden. Besteht das begünstigungsfähige Vermögen also auch nach der geänderten Berechnungsmethode immer noch zu mindestens 90 % aus Verwaltungsvermögen, ist es von jeder Verschonung ausgenommen (§ 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG). Das betrifft weiterhin sowohl die Verschonungen nach § 13a und § 13c ErbStG als auch die Stundung nach § 28 Abs. 1 ErbStG und die Verschonungsbedarfsprüfung nach § 28a ErbStG.
Auch bleibt es dabei, dass gemäß R E 13b.10 S. 5 ErbStR 2019 Verwaltungsvermögen, das der Erfüllung von Schulden aus Altersversorgungsverpflichtungen dient (§ 13b Abs. 3 ErbStG), nicht zu berücksichtigen ist, also entgegen dem Wortlaut des § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG auch dann nicht, wenn es nicht treuhänderisch abgesichert ist.
3.3 Anwendung des § 42 AO
Führt die vorgenommene Auslegung des § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG im Einzelfall dazu, dass sich Unternehmen, die der Gesetzgeber aufgrund ihrer hohen Verwaltungsvermögensquote von mindestens 90 % steuerrechtlich nicht begünstigen wollte, aufgrund missbräuchlicher Gestaltung die Begünstigung erschleichen, geht die Finanzverwaltung ebenso wie der BFH davon aus, dass die Anwendung des § 42 AO nicht ausgeschlossen ist.
4. Abschließende Würdigung
Die Finanzverwaltung folgt der Auffassung des BFH uneingeschränkt und nimmt die Berechnung gemäß § 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG weiterhin auf der Basis der Feststellungen ‒ jetzt aber unter Einbeziehung der festgestellten Schulden ‒ vor. Die Befürchtung, dass die Finanzverwaltung möglicherweise nach der Art der Finanzmittel und der Art der Schulden differenzieren könnte, hat sich erfreulicherweise nicht bestätigt. Damit erfährt der äußerst komplizierte und schwer zugängliche Gesetzestext eine begrüßenswerte praxistaugliche Handhabung. Dass der Sockelbetrag von 15 % für die Finanzmittel nach Auffassung der Finanzverwaltung bei der 90 %-Prüfung nicht zur Anwendung kommt, dürfte der Rechtsprechung des BFH nicht widersprechen.