01.10.2015 · IWW-Abrufnummer 179868
Bundesfinanzhof: Urteil vom 09.06.2015 – VIII R 18/12
Von der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit Rentennachzahlungen gezahlte Zinsen gemäß § 44 SGB I unterliegen auch nach Änderung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG durch das AltEinKG der Steuerpflicht nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG (entgegen BMF-Schreiben vom 13. September 2010 IV C 3-S 2222/09/10041, BStBl I 2010, 681).
Tenor:
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 20. März 2012 6 K 2143/07 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 19. Oktober 2007 aufgehoben.
Die Einkommensteuer wird unter Abänderung des Einkommensteuerbescheids des Beklagten vom 23. August 2007 auf 177 € festgesetzt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Gründe
I.
1
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) bezog im Streitjahr 2006 von der Deutschen Rentenversicherung Bund Einkünfte aus einer Witwenrente sowie einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Mit Rentenbescheid vom 2. November 2005 wurde die letztgenannte Rente neu festgestellt. Der Klägerin wurden im Streitjahr für die Zeit vom 1. Mai 1999 bis 31. Dezember 2005 eine Nachzahlung in Höhe von 10.850,08 € netto sowie hierauf entfallende Zinsen nach § 44 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) in Höhe von 1.399,75 € ausgezahlt.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) berücksichtigte die Nachzahlung und die Zinsen im Einkommensteuerbescheid 2006 vom 23. August 2007 erklärungsgemäß als sonstige Einkünfte i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit einem Besteuerungsanteil von 50 % ( § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa Satz 3 EStG ).
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Im Einspruchsverfahren begehrte die Klägerin die Zuordnung der Zinsen nach § 44 SGB I zu den Einkünften aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG , weil nach Abzug des Werbungkostenpauschbetrages in Höhe von 51 € ( § 9a Satz 1 Nr. 2 EStG ) und des Sparerfreibetrages in Höhe von 1.370 € ( § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG ) keine steuerpflichtigen Einkünfte verbleiben würden. Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück.
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Die hiergegen gerichtete Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Seit der Neufassung durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) vom 5. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1427, BStBl I 2004, 554) gehörten zu den sonstigen Eink ünften nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG neben den Leibrenten auch "andere Leistungen", die aus den gesetzlichen Rentenversicherungen erbracht werden. Der Gesetzeswortlaut erfasse auch die klägerische Zinsgutschrift.
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Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragt,
das angefochtene Urteil der Vorinstanz aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2006 vom 23. August 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Oktober 2007 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 177 € festgesetzt wird.
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Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Nach dem Anwendungsschreiben zum AltEinkG des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 24. Februar 2005 IV C 3-S 2255-51/05 (BStBl I 2005, 429, Rz 83; zuletzt aktualisiert durch BMF-Schreiben vom 13. September 2010 IV C 3-S 2222/09/10041, BStBl I 2010, 681, Rz 136) zählten Zinsen zu den anderen Leistungen i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG . Der Gesetzgeber habe mit der Neufassung durch das AltEinkG auch "andere Leistungen" aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfassen wollen. Dem Wortlaut nach fielen hierunter auch Zinsen.
II.
9
Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Die Sache ist auch spruchreif. Der Klage ist stattzugeben ( § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
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Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind die der Klägerin im Streitjahr zugeflossenen Zinsen nach § 44 Abs. 1 SGB I Einnahmen aus Kapitalvermögen i.S. von § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG .
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1. Gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1 EStG gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen Erträge aus Kapitalforderungen jeder Art, wenn die Rückzahlung des Kapitalvermögens oder ein Entgelt für die Überlassung des Kapitalvermögens zur Nutzung zugesagt oder gewährt worden ist, auch wenn die Höhe des Entgelts von einem ungewissen Ereignis abhängt.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) bezieht Einnahmen aus Kapitalvermögen, wer Entgelt zur Nutzung überlässt; zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören alle Vermögensmehrungen, die bei wirtschaftlicher Betrachtung Entgelt für eine Kapitalnutzung sind. Unerheblich ist es, ob der Überlassung von Kapital ein Darlehensvertrag oder ein anderer Rechtsgrund zugrunde liegt. Auch die vom Schuldner erzwungene Kapitalüberlassung kann zu Einnahmen aus Kapitalvermögen führen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Auszahlung des Kapitals selbst steuerpflichtig ist ( BFH-Urteil vom 13. November 2007 VIII R 36/05 , BFHE 220, 35, BStBl II 2008, 292, [BFH 13.11.2007 - VIII R 36/05] unter II.1., m.w.N.).
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b) Unter Anwendung dieser Grundsätze f ühren Zinsen nach § 44 Abs. 1 SGB I , die für eine verspätet gezahlte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gezahlt werden, zu steuerpflichtigen Einnahmen i.S. von § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG . Nach § 44 Abs. 1 SGB I sind sozialversicherungsrechtliche Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit 4 % zu verzinsen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. BTDrucks 7/868, S. 30) sollen mit der Zinszahlung Nachteile ausgeglichen werden, die der Berechtigte, für den die sozialen Geldleistungen regelmäßig die Lebensgrundlage bilden, durch die verspätete Zahlung der Sozialleistungen erleidet. Die Zinsen werden insoweit für das unberechtigte Vorenthalten der Rentenbezüge und zum Ausgleich der mit der verspäteten Zahlung verbundenen Nachteile geleistet. Wirtschaftlich betrachtet sind die Zinsen damit auch Entgelt für die verspätete Zahlung, d.h. die Vorenthaltung von Kapital, und unterliegen deshalb der Besteuerung nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG (BFH-Urteil in BFHE 220, 35, [BFH 13.11.2007 - VIII R 36/05] BStBl II 2008, 29).
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2. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch nach Änderung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG durch das AltEinkG fest. Zinsen nach § 44 SGB I stellen keine "anderen Leistungen" im Sinne dieser Norm dar (entgegen BMF-Schreiben in BStBl I 2010, 681, Rz 136).
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a) Zwar wurde der Wortlaut des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG —soweit hier entscheidend— dahingehend geändert, dass neben "Leibrenten" auch "andere Leistungen", die aus gesetzlichen Rentenversicherungen erbracht werden, zu den in § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG bezeichneten Einkünften gehören.
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b) Bei der Auslegung einer Norm ist jedoch nicht allein deren Wortlaut entscheidend. Maßgebend ist vielmehr der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Dieser ist neben der Auslegung aus dem Wortlaut heraus auch aus dem systematischen Zusammenhang der Norm, ihrem Zweck und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte der Norm zu ermitteln (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom 9. November 1988 1 BvR 243/86 , BVerfGE 79, 106, unter B.II.1. der Gründe; BFH-Urteil vom 25. September 2014 IV R 44/11 , BFHE 246, 470, BStBl II 2015, 470, [BFH 25.09.2014 - IV R 44/11] m.w.N.).
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c) Aus der Systematik des § 22 Nr. 1 EStG folgt, dass Zinsen, die unter § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG fallen, nicht als "andere Leistungen" nach Satz 3 Buchst. a steuerpflichtig sein können, da § 22 Nr. 1 EStG subsidiär zu anderen Einkunftsarten ist.
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Nach § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG sind sonstige Einkünfte "Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen, soweit sie nicht zu den in § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 bezeichneten Einkunftsarten gehören". Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG gehören jedoch zu den Einkünften nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 EStG . Die Formulierung von § 22 Nr. 1 Satz 3 "Zu den in Satz 1 bezeichneten Einkünften gehören auch" führt —entgegen der Auffassung des FA— nicht zu einer Rückausnahme der in Satz 1 angeordneten Subsidiarität. Vielmehr handelt es sich um eine Konkretisierung der in Satz 1 als Oberbegriff genannten "wiederkehrenden Bezüge" (Killat-Risthaus in Herrmann/Heuer/Raupach, § 22 EStG Rz 53; Blümich/Nacke, § 22 EStG Rz 29).
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Umgekehrt gilt die in § 20 Abs. 3 EStG angeordnete Subsidiarität für Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht im Hinblick auf die sonstigen Einkünfte des § 22 EStG . Selbst wenn die Zinsen daher den Tatbestand der "anderen Leistungen" erfüllten, würde § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG hinter § 20 EStG zurücktreten.
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d) Auch die Gesetzesmaterialien lassen nicht erkennen, dass der Gesetzgeber entgegen der in § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG angeordneten Subsidiarität auch Zinszahlungen der gesetzlichen Rententräger oder diesen gleichgestellten Einrichtungen als "andere Leistungen" behandelt wissen wollte. Durch die Einfügung der "anderen Leistungen" sollte vielmehr eine Gesetzeslücke im Hinblick auf Einmalzahlungen in Folge von (Teil-)Kapitalisierungen berufsständischer Versorgungseinrichtungen geschlossen werden. So ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zum AltEinkG, dass der Begriff der "anderen Leistungen" im ursprünglichen Gesetzentwurf nicht enthalten war (BTDrucks 15/2150, S. 9). Der Gesetzestext wurde insoweit erst durch den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages (Finanzausschuss) mit der Begründung geändert, die berufsständischen Versorgungseinrichtungen stellten ein auf öffentlich-rechtlicher Grundlage beruhendes Ersatzsystem zur gesetzlichen Rentenversicherung dar (BTDrucks 15/3004, S. 17). Infolgedessen seien die an die Versorgungswerke geleisteten Beiträge nicht mehr wie Beiträge zugunsten privater Leibrentenprodukte zu behandeln, sondern gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG wie Beiträge zugunsten der gesetzlichen Rentenversicherung, sofern vergleichbare Leistungen gewährt werden. Auf der Leistungsseite wurde aus diesem Grund in § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG der Besteuerungsgegenstand um die "anderen Leistungen" erweitert. Zur Begründung wies der Finanzausschuss ausdrücklich darauf hin (BTDrucks 15/3004, S. 19), dass bei berufsständischen Versorgungseinrichtungen und Pensionskassen Teilkapitalisierungen zulässig seien, die andernfalls nicht steuerbar wären (vgl. auch BFH-Urteil vom 23. Oktober 2013 X R 3/12 , BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58 [BFH 23.10.2013 - X R 3/12] ).
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e) Der Zweck des AltEinkG erfordert ebenfalls keine Einbeziehung der Zinsen in die sonstigen Einkünfte des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG .
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Mit dem AltEinkG wurde die einkommensteuerliche Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen grundlegend umgestaltet. Als tragendes Element sollte bei Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen die sog. nachgelagerte Besteuerung eingeführt werden, nachdem das BVerfG mit Urteil vom 6. März 2002 2 BvL 17/99 (BVerfGE 105, 73, BStBl II 2002, 618 [BVerfG 06.03.2002 - 2 BvL 17/99] ) entschieden hatte, dass die unterschiedliche Besteuerung der Beamtenpensionen nach § 19 EStG und der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar ist. Im System der nachgelagerten Besteuerung sollen die Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen und diesen gleichgestellten Versicherungen bis zu einem Höchstbetrag von 20.000 € als Sonderausgaben in voller Höhe steuermindernd geltend gemacht werden können (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des AltEinkG). Dementsprechend unterliegen die später folgenden Auszahlungen aus diesen Versicherungen nach § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG in voller Höhe der Besteuerung (BTDrucks 15/2150, S. 1 und 22). Die Umgestaltung dieses Systems erfordert jedoch nicht, Zinsen, die wegen verspäteter Auszahlung einer Rente vom Rententräger geschuldet werden, nunmehr als sonstige Einkünfte zu behandeln. Der Zinsanspruch nach § 44 Abs. 1 SGB I entsteht zusätzlich zu dem normalen Rentenanspruch und findet auch im Bereich der Sonderausgaben keinen korrespondierenden Ausgabentatbestand, der eine Einbeziehung in die sonstigen Einkünfte erforderlich machen würde.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO .