15.04.2010 · IWW-Abrufnummer 101217
Bundesfinanzhof: Beschluss vom 01.04.2010 – II B 168/09
Ein mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründeter Antrag auf AdV ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalles dem Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt, ohne dass es einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bedarf.
Gründe:
I.
Der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) erhielt am 5. Januar 2009 von seinem Bruder 25.000 EUR geschenkt. Der Beklagte, Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) setzte für diesen Erwerb unter Berücksichtigung eines Vorerwerbs von 143.560 EUR aus dem Jahr 2008 durch Bescheid vom 20. April 2009 gegen den Kläger Schenkungsteuer in Höhe von 4.590 EUR fest. Er wandte dabei den in § 16 Abs. 1 Nr. 5 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes i.d.F. des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24. Dezember 2008 (BGBl. I 2008, 3018) --ErbStG-- für den Erwerb der Personen der Steuerklasse II (vgl. § 15 Abs. 1 ErbStG) vorgesehenen Freibetrag von 20.000 EUR und den in § 19 Abs. 1 ErbStG bestimmten Steuersatz von 30% an. Das Finanzgericht (FG) hat über die Sprungklage gegen den Bescheid noch nicht entschieden.
Den Antrag des Klägers, die Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids auszusetzen, weil ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des ErbStG bestünden, lehnten das FA und das FG ab. Das FG führte zur Begründung seines in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 158 veröffentlichten Beschlusses aus, die beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV) scheide trotz möglicherweise bestehender verfassungsrechtlicher Bedenken gegen das ErbStG aus, weil dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung der Vorrang vor dem Aussetzungsinteresse des Klägers zukomme. Da die zentrale Tarifvorschrift des ErbStG betroffen sei, würde sich die Gewährung von AdV auf sämtliche auf der gegenwärtigen Fassung des ErbStG beruhende Festsetzungen von Erbschaft- und Schenkungsteuer auswirken. Dies würde bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Verfassungsfragen durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu jährlichen Steuerausfällen von rd. 4 bis 5 Milliarden EUR führen. Sollte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des ErbStG feststellen, werde es zudem voraussichtlich entsprechend seiner bisherigen Entscheidungspraxis die Neuregelung nur für verfassungswidrig, nicht aber für nichtig erklären und die weitere Anwendung bis zu einer Neuregelung zulassen. Dies müsse bei der Entscheidung über die beantragte AdV berücksichtigt werden.
Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger sein Aussetzungsbegehren mit der Begründung weiter, die Tarifnorm des § 19 Abs. 1 ErbStG sei wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungswidrig. Der Gesetzgeber habe die Gleichbehandlung der Vermögensarten für Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerzwecke auf der Bewertungsebene verfehlt und die Verschonungsregelungen gleichheitswidrig ausgestaltet. Zudem liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG darin, dass die verwandten Personen in Steuerklasse II der gleichen Tarifbelastung unterlägen wie alle übrigen, nicht verwandten Personen in Steuerklasse III. Die AdV stehe entgegen der Ansicht des FG nicht unter einem Haushaltsvorbehalt. Die fiskalischen Auswirkungen einer AdV müssten ebenso unberücksichtigt bleiben wie die mögliche Art der Entscheidung des BVerfG.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung und die Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids vom 20. April 2009 in Höhe von 4.590 EUR ohne Sicherheitsleistung aufzuheben.
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
II.
Die Beschwerde ist unbegründet und war daher zurückzuweisen. Wie das FG zutreffend angenommen hat, ist der Antrag auf AdV abzulehnen, weil der Kläger nicht das unter den besonderen Umständen des Streitfalls erforderliche (besondere) Aussetzungsinteresse hat. Auf die Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Schenkungsteuerbescheids i.S. des § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bestehen, kommt es danach nicht an.
1.
Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, hat das FG dessen Vollziehung im Regelfall auszusetzen. Dies ergibt sich aus der Formulierung des § 69 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 FGO als Sollvorschrift (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199, unter 4.; BFH-Beschluss vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454, unter III.). Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann trotz Vorliegens solcher Zweifel die AdV abgelehnt werden.
Ein solcher atypischer Fall kommt in Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen (BFH-Beschluss in BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454, unter III.). Ist dies der Fall, ist die Gewährung von AdV zwar nicht ausgeschlossen (BFH-Beschluss vom 25. August 2009 VI B 69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826, m.w.N.). Sie setzt aber nach langjähriger Rechtsprechung des BFH wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, unter 4.; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, unter 5.; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom 1. April 1992 III B 137/91, BFH/NV 1992, 598; vom 14. April 1992 VIII B 114/91, BFH/NV 1993, 165; vom 20. Mai 1992 III B 100/91, BFHE 168, 174, BStBl II 1992, 729; vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; vom 17. März 1994 VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567, unter 2.; vom 19. August 1994 X B 318,319/93, BFH/NV 1995, 143; vom 30. Januar 2001 VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031; vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508, und vom 27. August 2002 XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18).
Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an (BFH-Beschlüsse in BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; in BFH/NV 1992, 598; in BFHE 168, 174, BStBl II 1992, 729; in BFH/NV 1992, 721; in BFH/NV 1994, 324; in BFH/NV 1995, 143; in BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18). Das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung (BFH-Beschluss in BFH/NV 1994, 324). Diese Rechtsprechung ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vereinbar (BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283, und vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1992, 726).
2.
Der BFH hat in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt, und zwar wenn dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1994, 324, und in BFH/NV 1995, 143), wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt (BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 1991 III B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl II 1991, 876, und vom 29. Oktober 1991 III B 83/91, BFH/NV 1992, 246), wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte (BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411), wenn der BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte (BFH-Beschlüsse vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663; vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367; vom 30. November 2004 IX B 120/04, BFHE 208, 213, BStBl II 2005, 287, und vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914), wenn ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als Werbungskosten bestehen (BFH-Beschlüsse vom 23. August 2007 VI B 42/07, BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799, zu den Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, und in BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826, zu den Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer) oder wenn es um das aus verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage (BFH-Beschluss vom 5. März 2001 IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405) oder um ausgelaufenes Recht geht (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 914, und vom 2. August 2007 IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270).
3.
An der Rechtsprechung, wonach AdV bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift, die dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegt, nur bei Vorliegen eines (besonderen) berechtigten Aussetzungsinteresses des Steuerpflichtigen zu gewähren ist, ist entgegen der Auffassung des Klägers und einer in der Literatur vertretenen Ansicht (vgl. z.B. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97, m.w.N.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 Rz 113; Schallmoser, Deutsches Steuerrecht 2010, 297; offen BFH-Beschlüsse in BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405; in BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663; in BFH/NV 2007, 914; in BFH/NV 2007, 2270; in BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799, und in BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826) jedenfalls unter den Umständen des Streitfalls festzuhalten. Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ist dann der Vorrang einzuräumen, wenn die AdV eines Steuerbescheids im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führte, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine dauerhaft nachteiligen Wirkungen hat. Der dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen vom BFH für bestimmte Fallgruppen eingeräumte Vorrang vor den öffentlichen Interessen lässt genügend Spielraum für eine sachgerechte, dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) entsprechende Beurteilung des Einzelfalles.
4.
Die beantragte AdV war danach abzulehnen. Weder dem Vorbringen des Klägers noch dem sonstigen Akteninhalt lässt sich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Klägers an der Gewährung von AdV entnehmen. Da die vom FA festgesetzte Steuer von 4.590 EUR lediglich knapp 20% des dem Kläger zugewendeten Geldbetrags beträgt, ist dem Kläger die (vorläufige) Entrichtung der Steuer ohne weiteres zumutbar. Bereits dies schließt die Gewährung von AdV aus.
Aufgrund des im Vergleich zum Wert des Erwerbs niedrigen Steuerbetrags kommt dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des formell verfassungsgemäß zustande gekommenen ErbStG zudem besonderes Gewicht zu. Hierbei ist nicht nur auf die geringfügigen Auswirkungen einer AdV im konkreten Einzelfall abzustellen. Zwar wirkt die Entscheidung über die Gewährung von AdV unmittelbar nur zwischen den Verfahrensbeteiligten. In der praktischen Auswirkung käme die Gewährung der beantragten AdV aber im Streitfall einem einstweiligen Außerkraftsetzen des ErbStG gleich, wenn die AdV auf die vom Kläger angenommenen ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifnorm des § 19 ErbStG gestützt würde, und zwar mit Rücksicht auf die erforderliche Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Beschluss vom 6. Februar 1967 VII B 46/66, BFHE 87, 414, BStBl III 1967, 123). Diese Auswirkung ist bei der hier vorzunehmenden Abwägung maßgebend (BFH-Beschluss in BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454, unter III.).
Die Voraussetzungen, unter denen der BFH bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschrift AdV gewährt hat (oben 3.), sind vorliegend deshalb nicht erfüllt.