16.06.2010 · IWW-Abrufnummer 101673
Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 04.03.2010 – 10 K 128/08
Mittel aus einer Erbschaft sind keine Bezüge i. S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Das gilt jedenfalls für Erbschaften, die Kinder von einem grundsätzlich kindergeldberechtigten und unterhaltsverpflichteten Elternteil erhalten.
Niedersächsisches Finanzgericht v. 04.03.2010 -
10 K 128/08
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob eine Erbschaft zu den sonstigen Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) zählt.
Der Kläger ist Polizist. Aus seiner 1973 geschlossenen Ehe gingen zwei Söhne hervor: Der am 20. Juli 1980 geborene Sohn S und der am 3. März 1983 geborene Sohn C. Nachdem die Ehe 1988 geschieden wurde, zog die Kindesmutter mit den beiden Söhnen nach Hamburg, wo sie in der Folgezeit wieder heiratete. Für beide Kinder erhielt zunächst die Kindesmutter Kindergeld. Als S im Mai 2005 einen eigenen Hausstand gründete, leistete der Kläger für ihn den höheren Unterhalt, so dass ihm ab diesem Zeitpunkt Kindergeld für seinen Sohn S gewährt wurde. Im gesamten Jahr 2006 studierten beide Söhne. Am 11. Mai 2006 verstarb die Kindesmutter. Erben waren die beiden Söhne zu je 3/8 sowie der neue Ehegatte zu 1/4. Die Erblasserin hinterließ unter anderem zwei Eigentumswohnungen, mehrere Girokonten und Sparbücher sowie Aktiendepots und Lebensversicherungen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage 11 des Klägerschriftsatzes vom 16. Februar 2010 sowie die Angaben in der Erbschaftsteuererklärung (Bl. 34 ff. Verwaltungsakte) Bezug genommen (Wertpapiere rund 140.000 €, Bausparguthaben rund 42.000 €, Guthaben bei Kreditinstituten rund 31.000 €).
Die Erben teilten den Nachlass in der Weise unter sich auf, dass beide Söhne je eine Eigentumswohnung bekamen; Wertpapiere und Guthaben wurden unter den Beteiligten geteilt.
Im Mai 2007 beantragte der Kläger bei der zu diesem Zeitpunkt zuständigen Familienkasse Kindergeld auch für seinen Sohn C für den Zeitraum Juni bis Dezember 2006. Die Familienkasse lehnte diesen Antrag ab. Gleichzeitig hob sie die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger für den Sohn S ab Januar 2006 auf. In beiden Fällen begründete sie die Entscheidung damit, dass die Einkünfte und Bezüge der Kinder über dem maßgeblichen Grenzbetrag lägen. Insoweit lägen zwar die übrigen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, Kapitalvermögen sowie nicht selbstständiger Arbeit und Halbwaisenrente mit 2.199 € bei S und 3.723 € bei C unterhalb des Grenzbetrages; die erhaltene Erbschaft sei jedoch als Bezug i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzusehen; dies gelte jedenfalls insoweit, als die Erbschaft aus Barvermögen sowie Aktien und Wertpapieren bestanden habe. Nach diesen Grundsätzen ermittelte die Beklagte Einkünfte und Bezüge für S in 2006 i.H.v. 34.508 € (Bl. 89 Verwaltungsvorgänge) und für C i.H.v. 55.588 € (Bl. 91 Verwaltungsvorgänge).
Gegen diese Entscheidungen wendet sich der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der vorliegenden Klage. Er ist der Ansicht, dass die Einkünfte und Bezüge seiner beiden Kinder in 2006 unterhalb des maßgeblichen Grenzbetrages lägen. Insoweit sei für die Beteiligten unstreitig, dass die Einkünfte allein den Grenzbetrag nicht überschritten. Die aus der Erbschaft zugeflossenen Beträge stellten keine Bezüge i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dar. Dies müsste bei Erbschaften zumindest dann gelten, wenn der Erblasser – wie hier – ein unterhaltsverpflichteter Elternteil der Erben sei.
Der Kläger beantragt,
1. den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten bezüglich der Kindergeldfestsetzung für S für 2006 vom 2. Januar 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. Mai 2008 aufzuheben;
2. unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 2. Januar 2008 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Mai 2008 die Beklagte zu verpflichten, ihm für seinen Sohn C für den Zeitraum Juni bis Dezember 2006 Kindergeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest.
Gründe
I. Die Klage richtet sich nunmehr gegen die Oberfinanzdirektion. Zwar hat das Niedersächsische Landesamt für Bezüge und Versorgung – Familienkasse – die angefochtenen Verwaltungsakte und die Einspruchsentscheidung erlassen. Diese Behörde wurde jedoch mit Kabinettsbeschluss vom 24. November 2009 (Niedersächsisches Ministerialblatt Nr. 48/2009, Seite 1046) aufgelöst. Deren Aufgaben nimmt nunmehr die Oberfinanzdirektion – hier: LBV Hannover – Familienkasse – wahr. Daher ist die neue Behörde kraft Gesetztes Beteiligter (vgl. von Groll in Gräber, Kommentar zur FGO, § 63 Rdn. 6 m.w.N.).
II. Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, §§ 100 Abs. 1 Satz 1, 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger hinsichtlich seines Sohnes S zu Unrecht aufgehoben und ihm für seinen Sohn C zu Unrecht kein Kindergeld gewährt.
1. Als Vater hatte der Kläger für seine leiblichen und in Ausbildung befindlichen volljährigen Kinder im streitigen Zeitraum (S Januar bis Dezember 2006 und C Juni bis Dezember 2006) einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
2. Diesem Anspruch stehen die Einkünfte und Bezüge der Kinder im streitigen Zeitraum nicht entgegen.
a) Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist ein Kind nur zu berücksichtigen, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680 € im Kalenderjahr hat. Bezüge sind nach ständiger Rechtsprechung dabei alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistung, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfasst werden (vgl. BFH-Urteil vom 22. Mai 2002 VIII R 74/99, BFH/NV 2002, 1430). Sie müssen ferner zur Bestreitung des üblichen Unterhalts bestimmt oder geeignet seien.
Ohne die im Sommer 2006 zugeflossene Erbschaft liegen die Einkünfte und Bezüge von S mit 2.199 € und von C mit und 3.723 € unter dem Jahresgrenzbetrag von 7.680 €. Insoweit kann dahinstehen, ob diese Einkünfte und Bez üge nach der Darstellung des Klägers im Schriftsatz vom 16. Februar 2010 noch zu mindern sind; aus den Akten sind jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass diese Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag auch nur annähernd erreichen oder gar übersteigen könnten.
b) Darüber hinaus sind den Kindern keine Bezüge in 2006 zugeflossen. Die Mittel aus der Erbschaft sind nicht als Bezüge i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzusehen.
aa) Dies folgt zwar nicht bereits aus dem Umstand, dass eine Erbschaft grundsätzlich die Vermögensebene betrifft; zwar hat der Gesetzgeber nach dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG eine Wertung dahingehend getroffen, dass das Vermögen der Kinder außer Betracht bleibt; dies gilt selbst dann, wenn ein Vermögen in dem Umfang vorhanden ist, der die Bestreitung des Unterhalts und der Ausbildung vollständig erlaubte. Im Zeitpunkt des Zuflusses jedoch sind auch diese Mehrungen des Vermögens als Bezüge zu erfassen. Dies gilt auch für Zuflüsse aus Erbschaften (FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2006 14 K 1856/05 KG, EFG 2006, 742; FG München, Urteil vom 30. Juli 2008 10 K 2984/07, EFG 2008, 1731 für ein Vermächtnis; Selder in Hermann/Heuer/Raupach, § 32 EStG, Rdn. 116; Grönke-Reimann in Blümich, Kommentar zum EStG, § 32, Rdn. 135).
bb) Soweit in der Rechtsprechung Zuwendungen von Todes wegen nicht zu den Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gerechnet werden, erfolgt dies vor dem Hintergrund, dass die Zuwendungen ausdrücklich zum Zweck der Kapitalanlage erfolgten (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 2004 VIII R 21/02, BStBl II 2004, 555). An einer solchen Zweckbestimmung fehlt es vorliegend jedoch. Die Mittel aus der Erbschaft standen beiden Söhnen zu freien Verfügung. Somit kann dieser Aspekt nicht zum Erfolg der Klage führen.
cc) Soweit in der Literatur die Ansicht vertreten wird, dass Erbschaften grundsätzlich nicht zu den Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu zählen sind (z.B. Pust in Littmann/Bitz/Pust, Kommentar zum EStG, § 32 Rdn. 561), folgt der erkennende Senat dem nicht. Zwar wird dort zu Recht darauf hingewiesen, dass Erbschaften in der Regel nicht zur Bestreitung des Unterhalts oder der Ausbildung bestimmt sind; für die Annahme eines Bezuges i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG reicht es jedoch aus, wenn die Zuwendung zur Bestreitung des Unterhalts geeignet ist.
Unter dem Gesichtspunkt der Unterhaltseignung des Zuflusses hat die Beklagte vorliegend die ererbten Eigentumswohnungen zu Recht nicht zu den Bezügen gerechnet. Insoweit führen lediglich die aus der Vermietung der Wohnungen erzielten Einnahmen zu anrechenbaren Einkünften. Gleiches gilt im Ergebnis jedoch auch für die Aktienpakete, Lebensversicherungen und Bausparverträge, da auch diese aus sich heraus dazu bestimmt sind, der Kapitalanlage bzw. der Altersvorsorge zu dienen und nicht dazu, zur Bestreitung des Unterhalts eingesetzt zu werden.
Demgegenüber sind die kurzfristig verfügbaren Mittel auf Girokonten und Sparbüchern ebenso wie das vorhandene Bargeld durchaus geeignet, um damit den Unterhalt zu bestreiten. Diese Mittel betragen vorliegend laut Erbschaftsteuererklärung 31.161 €, laut Aufstellung des Klägers in Anlage 11 des Schriftsatzes vom 16. Februar 2010 rund 27.800 €. Bei einer Erbquote von 3/8 entfällt somit auf jeden der Söhne ein Betrag von über 10.000 € an diesen frei verfügbaren Mitteln.
dd) Dieser Zufluss ist jedoch vorliegend nicht als Bezug zu erfassen, da die Kinder von einem grundsätzlich kindergeldberechtigten und unterhaltsverpflichteten Elternteil geerbt haben.
Hinsichtlich der Zuwendungen von unterhaltsverpflichteten Eltern an ihre Kinder ist allgemein anerkannt, dass Unterhaltszahlungen nicht zu den Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu rechnen sind (Jachmann in Kirchhoff/Söhn/Mellinghoff, Kommentar zum EStG, § 32 Rdn. C 47; Selder in Hermann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG, § 32, Rdn. 118, BMF-Erlass vom 30. Oktober 2009 – DA-Fam EStG –, BStBl I 2009, 1029 unter DA 63.4.2.3.1 Abs. 3 Nr. 3). Gleiches gilt auch für über die Unterhaltsverpflichtung hinausgehende freiwillige Zuwendungen der Eltern an ihre Kinder (Felix, FR 1998, 983 (985); DA-Fam EStG 63.4.2.3.1 Abs. 3 Nr. 3 für freiwillige Leistungen der Personen, bei denen das Kind berücksichtigt werden kann, BStBl I 2009, BStBl 2009 I S. 1029, BStBl 2009 I S. 1080). Diese Nichtberücksichtigung von Schenkungen der Eltern an ihre Kinder ist in diesem Bereich die einzig praktikable Lösung, da mit vertretbarem Aufwand von den Familienkassen nicht zu ermitteln ist, welche Zuwendungen die Eltern ihren Kindern im Einzelnen machen, welche davon in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht erfolgen und welcher Anteil darüber hinaus eine Schenkung darstellt. Weiterhin spricht auch der in Art. 6 Grundgesetz (GG) normierte verfassungsrechtliche Schutz der Familie für eine Außerachtlassung der Zuwendungen innerhalb der Familiengemeinschaft. Schließlich ist auch der Sinn und Zweck der Kindergeldregelungen zu beachten. Dieser liegt in der Unterstützung der Personen, die typischerweise Aufwendungen für ihre Kinder tätigen. Insoweit wäre es widersinnig, wenn diese Aufwendungen, die als Zuwendungen an die Kinder getätigt werden, ihrerseits zu einem Versagen des Kindergelds führen könnten. Diese Betrachtung gilt unabhängig von dem Umstand, wer von den grundsätzlich in § 62 EStG genannten, grundsätzlich kindergeldberechtigten Personen letztlich das Kindergeld erhält. Dabei macht es ebenfalls keinen Unterschied, ob die Berechtigtenbestimmungen durch Absprache der Berechtigten oder durch die Konkurrenzregelung des § 64 EStG getroffen wird.
Wenn aber die freiwillige Zuwendung unter Lebenden von kindergeldberechtigten Personen an ihre Kinder nicht zu Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG führt, so kann für Zuwendungen von Todes wegen nichts anderes gelten. Damit zählen auch Erbschaften von unterhaltsverpflichteten, grundsätzlich kindergeldberechtigten Personen nicht zu den anzurechnenden Bezügen (so auch Dürr in Frotscher, Kommentar zum EStG, § 32 Rdn. 84).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1 und 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung in entsprechender Anwendung. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; die Frage, ob Erbschaften von unterhaltsverpflichteten, kindergeldberechtigten Personen zu den Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zählen, hat grundsätzliche Bedeutung.