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  • · Fachbeitrag · Räumungsvollstreckung

    Titelumschreibung bei Tod eines Gesamtschuldners nur, wenn der Erbe tatsächlich (Mit-)Besitz hat

    von RiOLG a. D. Günther Geldmacher, Düsseldorf

    | Darf der Gerichtsvollzieher die weitere Räumungsvollstreckung aus einem gegen Gesamtschuldner gerichteten Titel ablehnen, wenn einer der Gesamtschuldner vor Beginn der Vollstreckung verstirbt? Muss der Gläubiger zunächst eine Titelumschreibung auf den/die Erben erwirken? Der BGH gibt wichtige Antworten zur Lösung dieser Fragen. |

    Sachverhalt

    Mit Versäumnisurteil vom 1.3.18 sind der am 17.6.18 verstorbene Schuldner und die Schuldnerin als Gesamtschuldner verurteilt worden, ein Reihenhaus zu räumen, das sie von den Gläubigern gemietet hatten. Die Gerichtsvollzieherin hat nach dem Tod des Schuldners die weitere Vollstreckung des Räumungsurteils abgelehnt. Die Gläubiger haben hiergegen erfolglos Erinnerung eingelegt und noch während des laufenden Erinnerungsverfahrens den Vollstreckungsauftrag gegen den Schuldner zurückgenommen.

     

    Der BGH spricht wie folgt Klartext:

     

    • 1. Bei einer Räumungsvollstreckung müssen die Gläubiger eine Rechtsnachfolgeklausel gemäß § 750 Abs. 2, § 727 ZPO nur erwirken, wenn sich aus den Gesamtumständen klar und eindeutig ergibt, dass die Rechtsnachfolger des Schuldners tatsächlichen (Mit-)Besitz an den Räumen haben.
    • 2. § 563a Abs. 1 BGB setzt voraus, dass zum Zeitpunkt des Todes eines Mieters ein gemeinsames Mietverhältnis im Sinne des § 563 BGB bestanden hat.
    • 3. l„Besitz“ i. S. d. § 885 ZPO meint den Besitz in Form des „Gewahrsams“ nach § 886 ZPO, der dem unmittelbaren Besitz nach § 854 Abs. 1 BGB entspricht.
    • 4. Der nicht tatsächlich ausgeübte, also fiktive Erbenbesitz nach § 857 BGB begründet ‒ jedenfalls soweit und solange Gewahrsam eines Dritten besteht ‒ keinen Gewahrsam im Sinne einer tatsächlichen, nach außen erkennbaren Sachherrschaft.
    • 5. Für die Räumung gemäß § 885 ZPO genügt ein gegen einen von mehreren Mitmietern erwirkter Räumungstitel.
    • 6. Das Wegschaffen von Gegenständen nach § 885 Abs. 2 und 3 ZPO, die früher im (Mit-)Eigentum des Erblassers gestanden haben, stellt keine Vollstreckung in den Nachlass dar.

    (Abruf-Nr. 216722)

     

    Entscheidungsgründe

    Die Entscheidung beruht allein auf prozessualen Erwägungen. Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache schon deshalb Erfolg, weil das Beschwerdegericht entgegen § 568 S. 1 ZPO über die Anhörungsrüge nicht durch die Einzelrichterin, sondern durch die Kammer entschieden hat.

     

    Beachten Sie | Im Verfahren der sofortigen Beschwerde gemäß §§ 567 ff. ZPO ist der vollbesetzte Spruchkörper außer in Fällen, in denen die Zuständigkeit des Einzelrichters zweifelhaft ist, nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden.

    Relevanz für die Praxis

    Die besondere Bedeutung der Entscheidung für die Praxis der Räumungsvollstreckung liegt in den in den Leitsätzen zusammengefassten „Segelhinweisen“, die der BGH für das fortzuführende Beschwerdeverfahren erteilt.

     

    Voraussetzungen der Räumungsvollstreckung

    Für das formalisierte Verfahren der Zwangsvollstreckung gilt die „Drei-Punkte-Regel“: Titel ‒ Klausel ‒ Zustellung. Das heißt: Nach § 750 Abs. 1 S. 1 ZPO darf die Zwangsvollstreckung nur beginnen, wenn ‒ zumindest auch ‒ die Personen, für und gegen die sie stattfinden soll, in dem Urteil oder in der ihm beigefügten Vollstreckungsklausel namentlich bezeichnet sind und das Urteil bereits zugestellt ist oder gleichzeitig zugestellt wird. Adressat der Räumungsvollstreckung i. S. d. § 885 Abs. 1 ZPO ist die Person, die den tatsächlichen Besitz an den Räumen innehat.

     

    Was bedeutet Besitz i. S. d. § 885 Abs. 1 ZPO?

    Der BGH stellt klar, dass „Besitz“ im Sinne des § 885 ZPO den Besitz in Form des „Gewahrsams“ meint (Argument aus § 886 ZPO). Folge: Es muss gegen denjenigen, der an dem Räumungsobjekt Gewahrsam oder Mitgewahrsam hat, ein Vollstreckungstitel vorliegen (Nachweise Urteilsgründe Tz. 32).

     

    Vollstreckungsrechtlicher Gewahrsam = Besitz i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB

    Nach h. M., der der BGH folgt, entspricht der vollstreckungsrechtliche Gewahrsam gemäß § 886 ZPO seinerseits dem unmittelbaren Besitz nach § 854 Abs. 1 BGB. Dieser setzt die tatsächliche Gewalt über die Sache voraus.

     

    Beachten Sie | Vollstreckungsrechtlich entscheidend ist danach die von einem entsprechenden Willen getragene tatsächliche Sachherrschaft, die für den Gerichtsvollzieher äußerlich erkennbar sein muss. Der Gerichtsvollzieher muss allein die tatsächlichen Besitzverhältnisse beurteilen sowie prüfen, ob sich die Räumungsverpflichtung nach dem vom Gläubiger beigebrachten Titel gegen den von ihm nach diesem Maßstab festgestellten Besitzer der Mietsache richtet (Nachweise Urteilsgründe Tz. 33).

     

    Fiktiver Erbenbesitz nach § 857 BGB

    Die Einzelrichterin hatte eine Titelumschreibung auf die Erben des Schuldners zwingend für geboten erachtet, weil der Schuldner nach dem Mietvertrag ein eigenständiges, auf die Erben übergegangenes Besitzrecht an den Räumlichkeiten gehabt habe und seine persönlichen Gegenstände „offensichtlich“ noch nicht aus der Wohnung entfernt worden seien. Für den BGH ist dagegen allein maßgeblich, ob neben der Schuldnerin die Erben des Schuldners tatsächliche Besitzer der Räumlichkeiten sind. Das ist nicht der Fall. Zwar geht nach § 857 BGB der Besitz auf den Erben über. Ebenso wenig wie § 1922 Abs. 1 BGB verschafft § 857 BGB dem Erben aber mit dem Tod des Besitzers die unmittelbare Sachherrschaft i. S. v. § 854 Abs. 1 BGB. Die Vorschrift soll vielmehr die besitzrechtliche Stellung des Erben schützen und so dazu beitragen, dass der Erbe den Nachlass möglichst vollständig und frei von Eingriffen erhält. Vollstreckungsrechtlich kommt es deshalb nicht darauf an, ob den Erben über § 857 BGB Besitzrechte an den Räumlichkeiten oder den dort weiterhin befindlichen Sachen zustehen.

     

    MERKE | Die Erben des Mieters rücken nicht durch die Fiktion des § 857 BGB in die tatsächliche Besitzposition des Schuldners ein.

     

    Ob im Fall der Gewahrsamslosigkeit bei der Vollstreckung nach § 885 Abs. 1 ZPO ein Bedürfnis dafür bestehen kann, eine tatsächliche Sachherrschaft des Erben zu fingieren, konnte der BGH wegen des fortbestehenden Gewahrsams der Schuldnerin offenlassen.

     

    Gesamtschuldnerische Verurteilung und Einzelvollstreckung

    Da die Schuldnerin mit dem Tod des Schuldners alleinige Gewahrsamsinhaberin geworden ist, stellt sich die Frage, ob mit Blick auf die gesamtschuldnerische Verurteilung eine Räumungsvollstreckung nur gegenüber einem Schuldner möglich ist. Der BGH hat bereits entschieden, dass mehrere Mieter materiell-rechtlich selbstständig zur Räumung und Herausgabe verpflichtet sind.

     

    MERKE |

    • Der Vermieter ist bei ‒ wirksamer ‒ Gesamtkündigung des Mietverhältnisses materiell-rechtlich nicht verpflichtet, gegenüber sämtlichen im Mietvertrag genannten Personen oder deren Rechtsnachfolger(n) einen Räumungstitel zu erwirken.
    • Mehrere Mieter schulden die Rückgabe der Mietsache als Gesamtschuldner nach §§ 427, 431 BGB selbstständig, wenn auch unteilbar und inhaltsgleich.
    • Aus Titeln gegen Gesamtschuldner darf grundsätzlich gegen jeden der Gesamtschuldner auf das Ganze vollstreckt werden.
    • Die Rückgabepflicht kann gegen jeden der Schuldner sowohl gesondert geltend gemacht als auch ‒ im Falle des alleinigen tatsächlichen Besitzes eines Mieters ‒ nur gegenüber diesem allein vollstreckt werden.
     

    Beachten Sie | Der BGH weist darauf hin, dass es für die Räumungsverpflichtung materiell-rechtlich keine Rolle spielt, ob der Mieter oder dessen Rechtsnachfolger Besitz an der Mietsache hat. Auch der Erbe schuldet nach wirksamer Beendigung des Mietverhältnisses gemäß § 546 Abs. 1 BGB sowie nach §§ 985, 857 BGB die Rückgabe der Mietsache.

     

    Erfordert Vorgehen nach § 885 Abs. 2 ZPO Räumung auch gegen Erben?

    Der Umstand, dass die Räumung über die Besitzverschaffung hinaus möglicherweise das Wegschaffen von Gegenständen nach § 885 Abs. 2 und 3 ZPO umfasst, die früher im (Mit-)Eigentum des Erblassers gestanden haben, erfordert aus Sicht des BGH keine Räumungsvollstreckung auch gegenüber den Erben. Es handelt sich nicht um eine Vollstreckung in den Nachlass, die deshalb auch keiner Titelumschreibung bedarf.

     

     

    Weder differenzieren beide Bestimmungen nach den Eigentumsverhältnissen (Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, Mietrecht, § 885 ZPO Rn. 32), noch gehört es im formalisierten Verfahren der Zwangsvollstreckung zu den Aufgaben des Gerichtsvollziehers, die Eigentumsverhältnisse zu prüfen. Dies gilt selbst dann, wenn ihm bekannt ist, dass einer der Titelschuldner ‒ wie hier ‒ verstorben ist.

     

    Beachten Sie | Dritte können in ihrem Eigentum stehende Sachen, die der Gerichtsvollzieher eingelagert hat, unter Nachweis ihres Eigentumsrechts und mit Zustimmung des Schuldners herausverlangen.

    Quelle: Ausgabe 10 / 2020 | Seite 174 | ID 46752709