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  • · Fachbeitrag · Fortsetzung des Mietverhältnisses

    Suizidgefahr: Voraussetzungen und Rechtsfolgen

    von VRinLG Astrid Siegmund, Berlin

    | Nicht nur der Kündigungstatbestand des Eigenbedarfs hat es „in sich“, sondern auch die Anwendung der §§ 574 ff. BGB auf den Widerspruch des Mieters. Der BGH hat sich jüngst mehrfach mit dem gesundheitlichen Härteeinwand und den Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung durch die Gerichte befasst ( 15.3.17, VIII ZR 270/15 ; 22.5.19, VIII ZR 180/18; 22.5.19, VIII ZR 167/17; 28.4.21, VIII ZR 6/19; 30.11.21, VIII ZR 81/20). Aktuell hat er sich mit einer Reihe von besonders praxisrelevanten Problemen auseinandergesetzt: der (ernsthaften) Suizidgefahr als Härtegrund, der Pflicht des Mieters, an deren Überwindung mitzuwirken, den Folgen der Ablehnung einer angebotenen Ersatzwohnung und der Erforderlichkeit einer Therapie. |

     

    Sachverhalt

    Die beklagte Mieterin, Jahrgang 1942, bewohnt seit 1977 eine im 3. OG eines Mehrfamilienhauses liegende Zwei-Zimmer-Wohnung (ca. 70 qm). Die monatliche Nettokaltmiete beträgt ca. 319 EUR. Der Kläger, Jahrgang 1958, ist Eigentümer dieser und einer weiteren Wohnung (ca. 55 qm) im 3. OG, die anderweitig vermietet ist (im Folgenden: Wohnung Nr. 11). Er selbst bewohnt eine ca. 123 qm große Wohnung auf derselben Etage, deren Eigentümer sein Lebenspartner ist. In dessen Eigentum steht eine weitere, im 4. OG des Hauses liegende, ca. 112 qm große Wohnung, die vermietet ist. Am 3.4.17 kündigte der Kläger den Mietvertrag mit der Beklagten zum 31.12.17 wegen Eigenbedarfs. Diesen begründete er damit, dass er die Wohnung für sich und seinen Lebenspartner benötige, um sie mit der von ihnen bereits genutzten Wohnung zusammenzulegen. Zu dem bereits im Lichthof des Hauses installierten Aufzug solle ein Durchbruch erfolgen mit direktem Zugang zur geplanten Gesamtwohnung. Der 75-jährige Lebensgefährte habe orthopädische Probleme. Daher sei der unmittelbare Zugang aus dem Aufzug ohne Treppen gesundheitlich erforderlich.

     

    Die Beklagte widersprach der Kündigung. Sie leide an einer schweren rezidivierenden Depression bis hin zu Suizidideen. Am 16.2.18 bot der Kläger ihr die Wohnung Nr. 11 zu einer Kaltmiete von 356,73 EUR an. Das lehnte die Beklagte ab. Der Kläger begehrte daher ihre Verurteilung zur Räumung, hilfsweise die Fortsetzung des Mietverhältnisses befristet für maximal ein Jahr unter Neufestsetzung einer Kaltmiete von nicht unter 655,20 EUR. Das AG hat den Lebenspartner des Klägers und die behandelnde Ärztin der Beklagten als Zeugen vernommen. Es hat zum Gesundheitszustand der Beklagten, vor allem zur Suizidgefahr, ein Sachverständigengutachten und ein Ergänzungsgutachten eingeholt und den Sachverständigen mündlich angehört. Es hat dann die Klage abgewiesen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit zu den im Mietvertrag vorgesehenen Bedingungen ausgesprochen ‒ allerdings unter Erhöhung der Nettokaltmiete auf monatlich 367,49 EUR. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil nur insoweit geändert, als es die in dem auf unbestimmte Zeit fortgesetzten Mietverhältnis zu zahlende monatliche Nettokaltmiete auf 518 EUR festgesetzt hat. Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg (BGH 26.10.22, VIII ZR 390/21, Abruf-Nr. 232469).

     

    Entscheidungsgründe

    Der BGH folgt den Vorinstanzen. Diese haben nach gründlicher und sorgfältiger Sachverhaltsfeststellung die beiderseitigen Interessen ausgewogen gewichtet und gewürdigt, ohne unzutreffende rechtliche Maßstäbe anzulegen oder die unbestimmten Rechtsbegriffe in § 574 BGB fehlerhaft auszulegen.

     

    MERKE | Nach § 574 Abs. 1 BGB kann der Mieter einer (wirksamen) ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Die Prüfung von Härtegründen setzt voraus, dass der Mieter der Kündigung in der Frist des § 574b Abs. 2 BGB widersprochen hat. Den Zugang der Erklärung muss der Mieter beweisen (können). Hat der Vermieter den Mieter vor Ablauf der Widerspruchsfrist nicht auf die Möglichkeit, die Form und die Frist des Widerspruchs hingewiesen, kann der Mieter den Widerspruch noch im ersten Termin des Räumungsrechtsstreits erklären.

     

    Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Härte“ erfasst alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art, die infolge der Vertragsbeendigung auftreten können. Sie müssen sich deutlich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten abheben (BGH 3.2.21, VIII ZR 68/19, Abruf-Nr. 221311). Eine physische oder psychische Krankheit und das hohe Alter des Mieters können einen Härtegrund darstellen. Ob ein solcher gegeben ist, bedarf besonders sorgfältiger Sachverhaltsaufklärung durch die Gerichte (BGH NZM 21, 361). Geboten ist diese wegen Art. 14, Art. 2 GG. Bereits die Sachverhaltsaufklärung durch das AG war geradezu mustergültig (lesenswert: AG Köln ZMR 21, 48). Das gilt auch für die darauf basierende nachvollziehbare Darstellung der Gründe, weshalb es den Interessen der Beklagten auf allen Ebenen Vorrang eingeräumt hat.

     

    MERKE | Problematisch war, dass die (80-jährige) Beklagte die vom Kläger angebotene Ersatzwohnung ebenso abgelehnt hat, wie eine stationäre Therapie. Ein solches Verhalten kann einer Härte entgegenstehen oder bei der Interessenabwägung zulasten des Mieters berücksichtigt werden und den Vorrang des Erlangungsinteresses des Vermieters begründen (LG Berlin WuM 16, 180).

     

    Der BGH bestätigt, dass das kein „Selbstläufer“ ist: Es kommt auf die Gründe für die Ablehnung an. Die Vorinstanzen haben eine ernsthafte Suizidgefahr festgestellt und eine Härte angenommen. Die Beklagte hatte schon einen Sprung vom Balkon ihrer Wohnung unter Verwerfung eines ebenfalls angedachten Suizids durch Tabletteneinnahme in Aussicht genommen. Die Ablehnung der angebotenen Ersatzwohnung und einer Therapie standen hier der Annahme des Härtegrundes nicht entgegen. Die Beklagte war nach Einschätzung der Ärztin krankheitsbedingt wegen der Fixierung auf ihre ‒ seit 45 Jahren bewohnte ‒ Wohnung nicht in der Lage, die angebotene Ersatzwohnung anzunehmen. Die psychische Erkrankung hinderte sie, sich ein Leben in der Alternativwohnung als Lösung für ihre als ausweglos empfundene Situation vorstellen zu können. Eben dies sei nach den sachverständigen Einschätzungen auch der Grund für die Ablehnung einer stationären therapeutischen Intervention, deren Möglichkeiten zudem eingeschränkt waren und die Erfolgsaussichten der Behandlung gering.

     

    PRAXISTIPP | Unter Hinweis auf seine Rechtsprechung hält der BGH daran fest, dass bei der Feststellung eines Härtegrundes und im Rahmen der Interessenabwägung nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB zu berücksichtigen sei, ob und inwieweit sich die mit einem Umzug einhergehenden Folgen durch die Unterstützung des Umfelds des Mieters bzw. durch begleitende ärztliche und/oder therapeutische Behandlungen mindern lassen (BGH 22.5.19, VIII ZR 180/18, Abruf-Nr. 209886). Vom Mieter könne jedes zumutbare Bemühen verlangt werden, das Gesundheitsrisiko zu verringern, auch die Beherrschbarkeit der Suizidgefahr durch eine Therapie. Mit Blick auf das in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltene Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit entfalle die Schutzbedürftigkeit eines Mieters aber nicht zwingend, wenn er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung nicht mitwirkt. Auch bei mangelnder Therapiebereitschaft des Mieters bedürfe es einer ‒ hier vorgenommenen ‒ umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls, erst recht dann, wenn der Mieter eine Therapie krankheitsbedingt ablehnt, etwa weil seine Einsichtsfähigkeit in eine Therapiebedürftigkeit aufgrund der psychischen Erkrankung nicht oder nur eingeschränkt besteht. Ebenso verhält es sich, wenn der Mieter die Ersatzwohnung krankheitsbedingt ablehnt.

     

    Beachten Sie | Nach Feststellung einer oder mehrerer Härte(n) ist das individuelle Bestandsinteresse des Mieters gegen das Erlangungsinteresse des Vermieters abzuwägen. Es ist einzelfallbezogen zu fragen: Welche Auswirkungen würde eine Vertragsbeendigung für den Mieter haben und wie wirkt sich eine Vertragsfortsetzung auf den Vermieter aus? Im Ergebnis genügt ein Überwiegen der Belange des Mieters (BGH NZM 19, 518).

     

    Zugunsten des Klägers war hier sein berechtigtes Interesse zu berücksichtigen, die Wohnung mit der von ihm und seinem Lebenspartner genutzten, angrenzenden Wohnung zu einer großen, als Alterswohnsitz dienenden Wohnung zu verbinden und dabei wegen orthopädischer Probleme des Lebenspartners einen ‒ nur über die an die Klägerin vermietete Wohnung möglichen ‒ stufenlosen Zugang aus dem Aufzug heraus in die neue Wohnung zu ermöglichen.

     

    Es fiel aber auch ins Gewicht, dass der Kläger bei einer Vertragsfortsetzung zwar dies alles nicht realisieren könne und dadurch erheblich in der Nutzung seines Eigentums eingeschränkt sei, er aber dennoch mit den derzeit genutzten Räumlichkeiten eine zumindest zumutbare Wohnmöglichkeit habe. Sie lasse ‒ trotz der orthopädischen Probleme des Lebenspartners ‒ eine Nutzung gemeinsam mit diesem zu. Trotz des gerade auch im Hinblick auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG erheblichen Gewichts dieser den Kläger bei einer Vertragsfortsetzung zugemuteten Nachteile würden hier ‒ so (auch) der BGH ‒ angesichts der Schwere und Ernsthaftigkeit der Suizidgefahr der Beklagten, die ‒ auch krankheitsbedingt ‒ nicht mit zumutbaren Mitteln abgemildert werden könne, die Interessen der Beklagten an einer Vertragsfortsetzung die des Klägers an einer Vertragsbeendigung erheblich überwiegen.

     

    Beachten Sie | Nach § 574a Abs. 1 S. 1 BGB ist das Mietverhältnis auf bestimmte Zeit fortzusetzen. Maßgeblich ist, wann das Räumungshindernis voraussichtlich entfällt. Dies muss aufgrund einer Prognose festgestellt werden. Ist ungewiss, wann die Umstände wegfallen, aufgrund derer die Beendigung des Mietverhältnisses eine Härte bedeutet, kann nach § 574a Abs. 2 S. 2 BGB auch bestimmt werden, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird. Für eine Ungewissheit genügt es, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für einen künftigen Wegfall des Räumungshindernisses gegeben sind. Gleiches gilt, wenn zwar der Wegfall gewiss, der Zeitpunkt aber ungewiss ist.

     

    Der BGH nimmt an, dass der Wegfall der die Härte begründenden Umstände ungewiss sei. Zwar sei im Rahmen der Prognose über die Fortdauer des Härtegrunds (erneut) zu berücksichtigen, ob und ggf. welche Mitwirkung aufseiten des Mieters zur Überwindung des Härtegrunds zu verlangen sei und wie lange das Beendigungshindernis bei Mitwirkung voraussichtlich fortdauere. Eine zumutbare Therapiemöglichkeit, die eine Prognose zum Entfall der Suizidgefahr zulasse, könne hier aber nicht berücksichtigt werden. Die Beklagte sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, eine stationäre Therapie durchzuführen, was ihr daher auch nicht vorgeworfen oder nachteilig zur Last gelegt werden könne. Wegen geringer Erfolgsaussicht wäre der Wegfall der Härte auch ungewiss, wenn die Therapie als zumutbar angesehen würde.

     

    Beachten Sie | Zugunsten des Klägers sei zwar die ungewisse Dauer zu berücksichtigen, während der er sein Eigentum nicht wie gewünscht nutzen könne. Bei der unabsehbar, unvermindert und unbeherrschbar fortbestehenden erheblichen Suizidgefährdung der Beklagten bei Verlust der Wohnung könne aber kein Zeitpunkt abgesehen werden, zu dem eine Interessenabwägung zugunsten des Klägers ausgehen würde. Sofern sich die berücksichtigten Umstände, etwa wegen einer unvorhergesehenen Besserung der Situation des Mieters oder einer Änderung im Nutzungsbedarf des Vermieters bzw. dessen Dringlichkeit später wesentlich ändern, kommt eine erneute Kündigung in Betracht. Nach § 574c Abs. 2 S. 2 BGB kann der Mieter dann ein Fortsetzen des Mietverhältnisses nur unter Würdigung der wesentlich veränderten Umstände verlangen.

     

    Relevanz für die Praxis

    Die mustergültige Sachverhaltsaufklärung durch das AG und das LG gibt dem BGH die seltene Gelegenheit, sich mit der Rechtsfolgenseite des erfolgreichen Härteeinwands des Mieters zu befassen ‒ hier mit den Voraussetzungen einer Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit. Der damit verbundene ‒ im sozialen Wohnraummietrecht des BGB angelegte ‒ Grundrechtseingriff zulasten des Vermieters ist durchaus massiv, was der BGH mehrfach betont.

     

    Von Bedeutung sind daneben die Feststellungen des BGH zur Pflicht des Mieters, an der Überwindung des Härteeinwands mitzuwirken. Lehnt der Mieter eine zumutbare Behandlung der die Beendigung des Mietverhältnisses hindernden Erkrankung ab, läuft er Gefahr, dass das Vorliegen einer Härte abgelehnt bzw. i. R. d. die Interessenabwägung den Vermieterbelangen Vorrang einräumt. Ebenso verhält es sich mit dem Ausschlagen des Angebots einer Ersatzwohnung. Klar ist nun: Auch hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, namentlich die Gründe, die der Ablehnung zugrunde liegen.

    Quelle: Ausgabe 01 / 2023 | Seite 7 | ID 48780441