· Fachbeitrag · Kündigungsschutz
Der privilegierte „Familienangehörige“ bei der Wohnungsumwandlung
von VRinLG Astrid Siegmund, Berlin
| Mit dem Mietrechtsänderungsgesetz 2013 hat der Gesetzgeber den Kündigungsschutz des Mieters nach § 577a BGB bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nach dem „Münchener Modell“ ausgeweitet, nach dem eine erwerbende Personengesellschaft eine Kündigung des Mietverhältnisses auf den Eigenbedarf eines ihrer Gesellschafter stützen konnte. In Anlehnung an den Tatbestand des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB hat er eine Ausnahme für Familien- und Haushaltsangehörige vorgesehen, um den Erwerb zur Eigennutzung nicht zu erschweren. Der BGH hat nun den in beiden Vorschriften verwendeten Begriff des „Familienangehörigen“ klar definiert. |
Sachverhalt
Die Beklagten sind seit 2009 Mieter einer Wohnung in Berlin. Die Klägerin, eine GbR, erwarb mit notariellem Kaufvertrag vom 8.8.13 das Gebäude, in dem sich die Wohnung befindet. Die Eintragung im Grundbuch erfolgte am 5.3.14. Im Zeitpunkt des Eigentumserwerbs hatte die Klägerin zwei Gesellschafter. Diese waren Cousins. Nach dem Ableben eines der Gesellschafter wurden dessen drei Kinder im Wege der Gesamtrechtsnachfolge Gesellschafter der Klägerin und als solche am 7.11.16 in das Grundbuch eingetragen. Mit Schreiben vom 16.8.21 kündigte die Klägerin das mit den Beklagten bestehende Mietverhältnis ordentlich wegen Eigenbedarf eines der 2016 im Wege der Erbfolge eingetretenen Gesellschafter, der die Wohnung für sich und seine Ehefrau benötige.
Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin von den Beklagten die Räumung und Herausgabe der an sie vermieteten Wohnung. Das AG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LG die Beklagten zur Räumung und Herausgabe der Wohnung verurteilt. Die von den Beklagten eingelegte Revision hatte Erfolg (BGH 10.7.24, VIII ZR 276/23, Abruf-Nr. 242927).
Entscheidungsgründe
Der BGH stellt die erstinstanzliche Entscheidung wieder her. Ein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Wohnung besteht nicht. Die wegen Eigenbedarfs ausgesprochene Kündigung der Klägerin vom 16.8.21 hat das Mietverhältnis nicht beendet. Die Beklagten sind vorerst durch die ‒ in Berlin zehnjährige ‒ Sperrfrist des § 577a Abs. 1a S. 1 Nr. 1, Abs. 2 BGB i. V. m. § 2 der Kündigungsschutzklausel-Verordnung des Landes Berlin geschützt. Die Kündigung ist vor Ablauf der Sperrfrist ausgesprochen worden; die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 577a Abs. 1a S. 2 BGB waren nicht erfüllt.
Beachten Sie | Nach § 577a Abs. 1 BGB kann sich ein Erwerber auf berechtigte Interessen im Sinne des § 573 Abs. 2 Nr. 2 oder 3 BGB erst nach Ablauf von drei Jahren seit der Veräußerung berufen, wenn an vermieteten Wohnräumen nach der Überlassung an den Mieter Wohnungseigentum begründet und das Wohnungseigentum veräußert worden ist. Die Kündigungsbeschränkung nach Abs. 1 gilt nach § 577a Abs. 1a S. 1 Nr. 1 BGB u. a. entsprechend, wenn vermieteter Wohnraum nach der Überlassung an den Mieter an eine Personengesellschaft veräußert worden ist. Die Sperrfrist zugunsten des Mieters beträgt nach § 577a Abs. 2 BGB bis zu zehn Jahre, wenn die Wohnung in einer durch Gebietsverordnung bestimmten Gemeinde liegt, in der die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist.
Ausnahme zur Kündigungsbeschränkung
Der (befristete) Schutz des Mieters vor einer Kündigung wegen Eigenbedarf greift nach § 577a Abs. 1a S. 2 BGB jedoch unter anderem dann nicht, wenn die Gesellschafter derselben Familie oder demselben Haushalt angehören. Hier war der an die Beklagten vermietete Wohnraum nach Überlassung an sie an eine Personengesellschaft veräußert worden. Den Eigenbedarf eines der Gesellschafter der Klägerin haben die Beklagten in der Revision nicht mehr infrage gestellt.
Die Voraussetzungen für die Ausnahme von der Geltung der Sperrfrist verneint der BGH. Cousins ‒ wie hier die ursprünglichen Gesellschafter der Klägerin ‒ sind nicht als Familienangehörige im Sinne der Vorschrift anzusehen. Der BGH verweist darauf, dass die Privilegierung von Familien- und Haushaltsangehörigen in § 577a Abs. 1a S. 2 BGB bei der Einfügung der Vorschrift durch das Mietrechtsänderungsgesetz 2013 der Regelung des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB nachgebildet worden sei. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte zur Auslegung auf die Rechtsprechung zu § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB zurückgegriffen werden (vgl. BT-Drucksache 17/10485, S. 26).
Nach der insoweit ergangenen BGH-Rechtsprechung konkretisieren die Regelungen über ein Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen (§ 383 ZPO; § 52 StPO) mit Rücksicht auf eine typisierte persönliche Nähebeziehung den Kreis der durch § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB ‒ und damit auch durch § 577a Abs. 1a S. 2 BGB ‒ privilegierten Familienangehörigen. Dies gilt unabhängig davon, ob tatsächlich eine persönliche Bindung besteht (BGH 2.9.20, VIII ZR 35/19; 27.1.10, VIII ZR 159/09). Danach sind die Personen, denen das Prozessrecht ein Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen gewährt, unabhängig vom Vorliegen eines tatsächlichen Näheverhältnisses Familienangehörige gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB, zu deren Gunsten eine Eigenbedarfskündigung ausgesprochen werden kann.
Nichts anderes gilt ‒ so der BGH ‒ für den privilegierten Personenkreis der Familie im Sinne des § 577a Abs. 1a S. 2 BGB, zu dessen Gunsten die Kündigungsbeschränkung des § 577a Abs. 1a S. 1 Nr. 1 BGB nicht eingreift.
Beachten Sie | Ein entfernterer Verwandter, der ‒ wie ein Cousin ‒ nicht nach § 383 ZPO, § 52 StPO zur Zeugnisverweigerung berechtigt ist, gehört nach dieser Definition auch dann nicht zu dem von § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB privilegierten Personenkreis, wenn zwischen ihm und dem Vermieter eine enge persönliche Bindung besteht. Das gilt ‒ so der BGH ‒ auch für die Privilegierung des § 577a Abs. 1a S. 2 BGB.
MERKE | Der Wortlaut der beiden Vorschriften lässt nach Auffassung des BGH eine Auslegung des Begriffs „Familienangehörige“ oder „Familie“ zu, die den Personenkreis auf die nach § 383 ZPO, § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Personen beschränkt. § 573 Abs. 2 Nr. 2 und § 577a Abs. 1a S. 2 BGB bestimmen den Begriff nicht näher. Auch anderen Vorschriften des bürgerlichen Rechts und den Gesetzesmaterialien lässt sich für die Auslegung des Begriffs nichts entnehmen (vgl. BT-Drucksache 14/4553, S. 65 [zu § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB]; BT-Drucksache 7/2011, S. 8 [zu § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB a. F.]; BT-Drucksache VI/1549, S. 8 zu [§ 1 Abs. 2 Nr. 2 WKSchG]; BT-Drucksache 17/10485, S. 26 [zu § 577a Abs. 1a S. 2 BGB]). |
Dem Hinweis des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung zu § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB entnimmt der BGH, dass dem Begriff der „Familie“ in beiden Vorschriften dieselbe Bedeutung zukommt und es der Rechtsprechung obliegt, diesen zu konturieren. Er geht davon aus, dass der Gesetzgeber mit der Privilegierung von Familienangehörigen in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB dem Umstand Rechnung tragen wollte, dass innerhalb einer Familie aufgrund enger Verwandtschaft typischerweise ein Verhältnis persönlicher Verbundenheit und gegenseitiger Solidarität besteht, das es rechtfertigt, eine Kündigung zugunsten Angehöriger zu ermöglichen. Auch die Privilegierung von Familienangehörigen in § 577a Abs. 1a S. 2 BGB beruhe auf der Überlegung, dass aufgrund der engen persönlichen Bindung ein legitimes Interesse an der (zeitnahen) Geltendmachung des Eigenbedarfs besteht (vgl. BT-Drucksache 17/10485, S. 26).
Keine Erweiterung des geschützten Personenkreises
Aus diesen vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Gesichtspunkten leitet der BGH ab, dass es für den privilegierten Personenkreis des (zusätzlichen) Vorliegens eines konkreten, tatsächlichen Näheverhältnisses nicht bedarf. Angesichts der dem Gesetz zugrunde liegenden typisierenden Betrachtungsweise scheide umgekehrt auch eine Erweiterung des geschützten Personenkreises aufgrund einer einzelfallbezogenen Prüfung des Vorliegens einer besonderen sozialen Nähe aus. Der BGH geht davon aus, dass der Gesetzgeber die Privilegierungen in beiden Vorschriften nicht davon abhängig gemacht habe, dass im konkreten Einzelfall tatsächlich eine enge soziale Bindung besteht. Er habe sich vielmehr für eine den privilegierten Personenkreis begrenzende objektive Voraussetzung entschieden, die die Privilegierung anderer Personen ‒ wie etwa Lebensgefährten oder Freunde ‒ trotz im Einzelfall vorliegender enger persönlicher Bindung ausschließe.
Der BGH sieht auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungsziels das subjektive Kriterium einer besonderen Nähebeziehung im Einzelfall als Merkmal für die Bestimmung des vom Begriff der Familie umfassten Personenkreises für bedeutsam gehalten haben könnte. Er schließt daraus, dass entscheidend sei, für welchen Personenkreis der Gesetzgeber eine ‒ typischerweise vorliegende ‒ besondere soziale Bindung angenommen hat. Bei welchem Verwandtschaftsverhältnis das der Fall ist, habe der Gesetzgeber in den beiden Vorschriften ‒ § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB und § 577a Abs. 1a S. 2 BGB ‒ nicht näher bestimmt. Eine entsprechende Bewertung habe er aber im Rahmen der ebenfalls auf der persönlichen Nähebeziehung und Verbundenheit gründenden Gewährung eines Zeugnisverweigerungsrechts aus persönlichen Gründen vorgenommen. Dort habe der Gesetzgeber objektive Kriterien nach dem Grad der familiären Beziehung aufgestellt und hierdurch den Personenkreis (konkret) definiert, innerhalb dessen nach seiner Auffassung typischerweise eine persönliche Nähebeziehung besteht.
Der BGH übernimmt diese gesetzgeberischen Wertungen für die ebenfalls auf persönlicher Verbundenheit basierenden Privilegierungen von Familienangehörigen nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB und § 577a Abs. 1a S. 2 BGB. Der Umstand, dass der Gesetzgeber keinen Verweis auf die Regelungen des Zeugnisverweigerungsrechts in die Vorschriften aufgenommen habe, stehe dem nicht entgegen. Die damit generalisierende Bestimmung des Personenkreises bewirke ‒ so der BGH ‒ für Vermieter und Mieter gleichermaßen Rechtssicherheit und Planbarkeit. Sie vermeidet die bei Berücksichtigung des subjektiven Umstands einer persönlichen Verbundenheit zu erwartenden, dem Verhältnis zwischen den Mietvertragsparteien abträglichen Streitigkeiten über die einzelfallbezogene und wertungsbedürftige Frage des Bestehens und der Tiefe einer persönlichen Nähebeziehung.
MERKE | Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 ZPO, § 52 StPO wird ‒ neben Verlobten, Ehegatten und Lebenspartnern ‒ nur denjenigen gewährt, die in gerader Linie verwandt oder verschwägert oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert sind oder waren. Cousins sind in der Seitenlinie nur im vierten Grad miteinander verwandt. |
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung ist eine „klare Ansage“. Es war vermutlich nicht zwingend, den Begriff des „Familienangehörigen“ nach den objektiven Kriterien des § 383 ZPO und § 52 StPO zu definieren. Wer unter das Privileg fällt, ist nun jedoch eindeutig und rechtssicher bestimmt.
Dem BGH ist zuzustimmen: Der subjektive Umstand einer persönlichen Verbundenheit wäre nicht nur streitträchtig. Es müsste in jedem Einzelfall wertend der Frage nachgegangen werden, ob eine persönliche, hinreichend tiefe Nähebeziehung besteht.
Im Anwendungsbereich des § 573 BGB ist zu beachten, dass über Abs. 1 der Vorschrift die subjektive Komponente der besonderen Nähebeziehung im Einzelfall eine Eigenbedarfskündigung zugunsten eines nicht unter § 383 ZPO, § 52 StPO fallenden Verwandten rechtfertigen kann.
Am Rande ist zu bemerken, dass der BGH in der Entscheidung erstmals die Frage aufwirft, ob die Neuregelungen des Rechts der GbRs durch das MoPeG Auswirkungen auf das ‒ bisher von ihm bejahte ‒ Recht einer BGB-(Außen-)Gesellschaft haben könnten, ein Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs eines Gesellschafters zu kündigen. Er muss die Frage hier nicht beantworten, verweist aber auf die lebhafte Diskussion dazu (verneinend: Seidel, ZPG 24, 94; MüKo/Schäfer, BGB, 9. Aufl., § 705 Rn. 228; bejahend: Schmidt-Futterer/Börstinghaus, Mietrecht, 16. Aufl., § 573 BGB Rn. 66a; Grüneberg/Weidenkaff, BGB, 83. Aufl., § 573 Rn. 26; Brinkmann, NJW 24, 177 Rn. 8, 20 ff.; Hinz, NZM 23, 185, 187 f.; Wertenbruch, NJW 23, 1193 Rn. 18 ff.).