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  • · Fachbeitrag · Räumungsschutz

    Verzicht auf Räumungsschutz im Räumungsvergleich zulässig?

    von VRinLG Astrid Siegmund, Berlin

    | Der BGH hatte mit einer Entscheidung zur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung 2022 die Hoffnung geweckt, dass er in Kürze eine seit Längerem unterschwellig diskutierte Rechtsfrage entscheiden wird. Worum ging es? In gerichtliche Räumungsvergleiche wird häufig ein Verzicht des Mieters auf Räumungsschutzanträge aufgenommen. Ob das ‒ und wenn ja, unter welchen Einschränkungen ‒ zulässig ist, ist umstritten. Beinahe hätte der BGH die Fragen beantwortet. So gab es (nur) eine Andeutung. |

     

    Sachverhalt

    Die Antragstellerin (Mieterin) verpflichtete sich in einem gerichtlichen Vergleich gegenüber dem Antragsgegner (Vermieter), die von ihr bewohnte Wohnung bis zum 30.4.22 zu räumen und herauszugeben. Zugleich verzichtete sie auf weitere Räumungsschutzanträge. Drei Monate nach dem Räumungsvergleich erlitt die Antragstellerin ‒ belegt durch ärztliche Atteste ‒ eine Schussverletzung am Kopf. Am 13.4.22 hat die Antragstellerin beim AG einen Antrag nach § 794a ZPO auf Verlängerung der Räumungsfrist bis zum 31.10.22 gestellt. Das AG hat den Antrag zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist erfolglos geblieben. Mit der vom LG zugelassenen Rechtsbeschwerde hat sie ihr Begehren weiterverfolgt.

    Der BGH hat die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsvergleich zunächst bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde mit der Maßgabe einstweilen eingestellt, dass die Zwangsvollstreckung unzulässig bleibt, wenn die Antragstellerin ab Juli 2022 die im Vergleich vereinbarte Bruttomiete an den Antragsgegner zahlt (BGH 3.6.22, VIII ZB 44/22). Nachdem am 22.8.22 die Zwangsräumung der Wohnung stattgefunden hat, haben die Parteien das Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Der BGH hat daraufhin über die Kosten des Verfahrens entschieden (BGH 19.9.23, VIII ZB 44/22, Abruf-Nr. 238204).

     

    Entscheidungsgründe

    Die Entscheidung über die einstweilige Einstellung der Vollstreckung hat der BGH auf § 575 Abs. 5 ZPO gestützt, der die Anwendung des im Beschwerdeverfahren geltenden § 570 Abs. 3 ZPO eröffnet. Danach kann das Beschwerdegericht vor einer Entscheidung über die Beschwerde eine einstweilige Anordnung erlassen, vor allem die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung aussetzen.

     

    Beachten Sie | Nach § 570 Abs. 1 ZPO hat die Beschwerde nur aufschiebende Wirkung, wenn sie die Festsetzung eines Ordnungs- oder Zwangsmittels zum Gegenstand hat. Nach § 570 Abs. 2 ZPO kann aber bereits das Ausgangsgericht die Vollziehung seiner mit der Beschwerde angefochtenen Entscheidung bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts aussetzen. Das Beschwerdegericht kann nach § 570 Abs. 3 ZPO nicht nur die Vollziehung aussetzen, sondern weitergehende einstweilige Anordnungen treffen, z. B. die Vollziehung gegen Leistung einer Sicherheit einstellen. Die Entscheidung steht im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des ‒ in Abhängigkeit vom Verfahrensstand ‒ zuständigen Gerichts. Der BGH hat von seinem Ermessen Gebrauch gemacht: Er hat die Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde eingestellt; sie sollte aber nur unzulässig bleiben, wenn die Mieterin die vereinbarte Bruttomiete an die Vermieterin zahlt.

     

    Der BGH umschreibt im Aussetzungsbeschluss die Kriterien für die Ermessensausübung. Zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer größere Nachteile drohen als dem Gegner, die (Rechts-)Beschwerde zulässig erscheint und die Rechtsmittel nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sind. Das gilt ‒ so der BGH ‒ entsprechend, wenn eine Vollstreckung aus einem erstinstanzlich protokollierten Räumungsvergleich droht (§ 794a Abs. 1 ZPO).

     

    Der BGH stellt dann fest, dass der Mieterin durch die Vollstreckung aus dem Räumungsvergleich ein unwiederbringlicher Nachteil entstehen würde. Für den Fall ihres vorläufigen Verbleibs in der Wohnung wäre jedoch auch der Vermieter nicht unerheblichen Nachteilen ausgesetzt. Diese würden aber nicht den der Mieterin drohenden, nicht rückgängig machbaren Verlust der Wohnung überwiegen.

     

    Beachten Sie | Die zulässige Rechtsbeschwerde war in der Sache zudem nicht ohne Aussicht auf Erfolg, was ausreicht und weniger ist, als die (feststehende) Aussicht auf Erfolg. Das LG hatte die Rechtsbeschwerde zugelassen, weil umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt sei, ob der in einem Räumungsvergleich erklärte Verzicht des Mieters auf Räumungsschutzanträge (§ 794a Abs. 1, 2 ZPO) wirksam ist und ob er sich gegebenenfalls auch auf unvorhersehbare und unbekannte Härtegründe erstreckt.

    Der BGH stellt die Möglichkeit in den Raum, dass der Verzicht auf Räumungsschutz u. U. nach § 313 BGB (Wegfall vorausgesetzter künftiger Umstände) unwirksam sein könne. Die Mieterin habe hier Tatsachen vorgetragen, nach denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Geschäftsgrundlage aufgrund ihrer nachträglich eingetretenen und unvorhersehbaren gesundheitlichen Situation entfallen ist.

     

    Aufgrund der Erledigungserklärungen der Parteien musste der BGH am Ende aber nur noch über die Kosten des Verfahrens gemäß § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen entscheiden. Dabei war der mutmaßliche Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu berücksichtigen; dies führte zur Kostenaufhebung.

     

    MERKE | Der BGH betont (erneut), dass der Zweck einer Kostenentscheidung nach § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO nicht darin besteht, Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären oder das Recht fortzubilden. Das gelte auch im Rechtsbeschwerdeverfahren, soweit es um Fragen des Zwangsvollstreckungsrechts ginge. Es finde daher nur eine summarische Prüfung statt, bei der davon abgesehen werden könne, in einer rechtlich schwierigen Sache nur wegen der Verteilung der Kosten alle für den hypothetischen Ausgang bedeutsamen Rechtsfragen zu klären.

     

    Als eine solche ist die in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum umstrittene Frage anzusehen, ob ein rechtsgeschäftlicher Verzicht auf den Antrag auf Bewilligung oder Verlängerung einer Räumungsfrist nach § 794a ZPO zulässig ist (dafür LG Aachen WuM 96, 568; LG München NZM 08, 839; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 20. Aufl., § 794a Rn. 2; BeckOK-ZPO/Hoffmann, Stand: 1.7.23, § 794a Rn. 1.1; a. A. Zöller/Geimer, ZPO, 34. Aufl., § 794a Rn. 7; MüKo/Wolfsteiner, ZPO, 6. Aufl., § 794a Rn. 1; differenzierend: Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter, Mietrecht, 15. Aufl., § 794a ZPO Rn. 31).

     

    Relevanz für die Praxis

    In der Praxis werden selten Vorbehalte geäußert, wenn ein Verzicht auf den in § 794a Abs. 1 ZPO vorgesehenen Räumungsschutzantrag in einen gerichtlichen Vergleich aufgenommen werden soll.

     

    Die Risiken eines ggf. zeitaufwendigen Verfahrens zur Klärung der Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solcher Verzicht zulässig und damit wirksam ist, sollten in der Beratung offengelegt werden. Die Situation der Mieterin im Ausgangsfall war außergewöhnlich und bei Abschluss des Vergleichs so sicher von niemandem vorhersehbar.

     

    Der Hinweis auf § 313 BGB im Einstellungsbeschluss könnte auf die Tendenz des BGH hindeuten, § 313 BGB für gravierende Fälle nachträglich entstandener Härtegründe heranzuziehen.

     

    Die Entscheidungen sind aus einem weiteren Grund interessant: Der Einstellungsbeschluss lenkt die Aufmerksamkeit auf § 570 Abs. 2, 3 ZPO, der in der Praxis eine eher untergeordnete Rolle spielt. Gerade im Zusammenhang mit der Vollstreckung aus Räumungsurteilen können in Beschwerdeverfahren schwierige Wertungs- oder auch Rechtsfragen zu beantworten sein. Bereits beim AG anzuregen, nach § 570 Abs. 2 ZPO zu verfahren, kann im Einzelfall einerseits verhindern, dass inzwischen vollendete Tatsachen geschaffen werden, andererseits, dass im Vermieterinteresse wenigstens sichergestellt wird, dass Miet- bzw. Nutzungsentschädigungszahlungen geleistet werden.

     

    Quelle: Ausgabe 10 / 2024 | Seite 190 | ID 50155414