02.11.2010 · IWW-Abrufnummer 113683
Finanzgericht des Saarlandes: Gerichtsbescheid vom 26.05.2010 – 2 K 1593/08
1. Erfolgt gem. § 70 Abs. 1 S. 2 EStG 2002 a.F. keine schriftliche Bescheiderteilung, ist die erste Auszahlung des Kindergelds und die Bekanntgabe des Auszahlungsbetrages grundsätzlich als – gem. § 119 Abs. 2 AO formlose – Festsetzung anzusehen. Der durch konkludentes Verhalten ergehende Verwaltungsakt kann bei – unberechtigtem nicht aufgrund Antrags erfolgtem – Doppelbezug von Kindergeld gem. § 129 AO berichtigt werden, wenn die vierjährige Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist.
2. Die Festsetzungsfrist beträgt lediglich vier Jahre, wenn die doppelte Kindergeldzahlung nicht auf unzutreffenden Angaben beruht und somit keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Steuerhinterziehung bestehen und auch aus der unberechtigten Empfangnahme des Kindergeldes keine leichtfertige Steuerverkürzung wegen Unterlassens zu folgern ist.
Gerichtsbescheid
Im Namen des Volkes
In dem Rechtsstreit
hat der 2. Senat des Finanzgerichts des Saarlandes durch den Vizepräsidenten des Finanzgerichts … als Vorsitzender sowie die Richterinnen … und … am 26. Mai 2010
für Recht erkannt:
Der Bescheid vom 1. August 2008 in Form der Einspruchsentscheidung vom 4. November 2008 wird insoweit aufgehoben, als er die Monate November und Dezember 2003 betrifft. Im Übrigen wird die Klage als unbegründet abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Tatbestand
Die Klägerin streitet mit dem Beklagten um die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem der Beklagte an die Klägerin gezahltes Kindergeld zurückfordert.
Die Klägerin, die die französische Staatsangehörigkeit besitzt, arbeitet als angestellte Lehrerin im Bereich der saarländischen Landesverwaltung. Die Klägerin stellte am 2. Oktober 2003 unter Hinweis auf das bis dahin vom Arbeitsamt Saarlouis gezahlte Kindergeld beim Landesamt für Finanzen (jetzt: Landesamt für Zentrale Dienste) einen Antrag auf Kindergeld für ihren Sohn N (* 30. April 1994). Das Landesamt für Finanzen gelangte in der Folge zu der Auffassung, dass entgegen der ursprünglichen Annahme weiterhin das Arbeitsamt das Kindergeld auszahlen müsse. Auf einen entsprechenden Hinweis des Landesamtes für Finanzen hin (KiG, Bl. 5) wurde das Kindergeld an die Klägerin weiterhin vom Arbeitsamt Saarlouis gezahlt.
Im Zuge von Ermittlungen des Bundesrechnungshofes wurde dem Beklagten im Jahre 2008 bekannt, dass der Klägerin nicht nur vom Arbeitsamt Saarlouis (Familienkasse) Kindergeld gezahlt worden war, sondern auch im Rahmen der an die Klägerin gezahlten Bezüge durch den Beklagten selbst. Der Doppelbezug von Kindergeld betraf den Zeitraum November 2003 bis Juni 2008 (KiG, Bl. 9).
Mit Bescheid vom 1. August 2008 (KiG, Bl. 23 f.) forderte der Beklagte das an die Klägerin für den Zeitraum November 2003 bis Mai 2008 gezahlte Kindergeld zurück. Die Rückforderung war auf § 37 Abs. 2 AO gestützt.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 11. August 2008 Einspruch ein (KiG, Bl. 38). Am 4. November 2008 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück (KiG, Bl. 58 ff.).
Am 28. November 2008 (Bl. 1) hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Bescheid vom 1. August 2008 in Form der Einspruchsentscheidung vom 4. November 2008 aufzuheben.
Die Klägerin macht geltend, der Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Kindergeldzahlungen rückwirkend aufzuheben. Die Doppelzahlung sei auf einen Fehler im Bereich der Beklagten zurückzuführen. Aus Vertrauensschutzgründen sei eine Rückforderung unzulässig. Für die Klägerin sei nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, dass der Doppelbezug nicht den gesetzlichen Regelungen entsprochen habe. Es sei teilweise (bzgl. des Jahres 2003) Verjährung eingetreten. Jedenfalls sei der Anspruch verwirkt.
Der Beklagte beantragt sinngemäß (Bl. 20),
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist darauf, dass auf Grund eines Eingabefehlers irrtümlich Kindergeld an die Klägerin gezahlt worden sei. Der – unberechtigte – Doppelbezug von Kindergeld sei für die Klägerin ohne weiteres ersichtlich gewesen, da dies aus der Gehaltsabrechnung hervorgegangen sei. Im Übrigen handele es sich beim Bescheid vom 1. August 2008 um einen Abrechnungsbescheid, so dass statt der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 AO) die im Rahmen der Zahlungsverjährung geltenden Fristen ( §§ 228 ff. AO) zur Anwendung kämen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und zu einem geringen Teil auch begründet. Der Rückforderungsbescheid des Beklagten ist hinsichtlich der Streitjahre 1994 bis 2008 rechtmäßig. Hinsichtlich der Monate November und Dezember 2003 steht der Rechtmäßigkeit der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen.
1. Nachdem auch die Klägerin zu Recht nicht davon ausgeht, dass ihr – neben dem von der Familienkasse der Agentur für Arbeit bewilligten und gezahlten Kindergeld – auch gegen den Beklagten ein Anspruch auf Kindergeld zusteht (zum Verbot der mehrfach Gewährung von Kindergeld BFH vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98, BStBl II 1999, 231), war lediglich zu untersuchen, ob dem Rückforderungsanspruch des Beklagten, der dem streitigen Bescheid zugrunde liegt, berechtigte Einwendungen der Klägerin entgegen stehen. Dabei ist der Senat von dem von der Klägerin nicht bestrittenen Sachverhalt eines mechanischen (Eingabe-) Fehlers ausgegangen, welcher letztlich zur Auszahlung des Kindergeldes durch den Beklagten an die Klägerin geführt hat.
2. Der Rückforderungsanspruch des Beklagten ergibt sich dem Grunde nach aus § 37 Abs. 2 AO. Danach ist eine Steuervergütung (hier: Kindergeld, vgl. § 31 Satz 3 EStG), die ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist, von demjenigen, für den die Zahlung bewirkt worden ist, zurückzuzahlen. Die Vorschrift gilt sowohl für den Erstattungsanspruch des Kindergeldberechtigten gegenüber der Familienkasse als auch für den umgekehrten Fall der Rückforderung einer rechtsgrundlos geleisteten Kindergeldzahlung durch die Familienkasse. Die Norm ist Ausdruck eines allgemein herrschenden Prinzips, dass derjenige, der vom Staat auf Kosten der Allgemeinheit unberechtigt etwas erhalten hat, grundsätzlich verpflichtet ist, das Erhaltene zurückzuzahlen (vgl. BFH vom 6. Februar 1990 VII R 97/88, BStBl II 1990, 671; Finanzgericht Niedersachsen vom 6. Oktober 2009 12 K 113/09, EFG 2010, 382).
3. Die Auszahlung des Kindergeldes erfolgte im Streitfall ohne Rechtsgrund. Ein solcher Rechtsgrund hat zwar möglicherweise in Form eines (bewilligenden) Kindergeldbescheides vorgelegen. Dieser Bescheid ist indessen vom Beklagten (bezogen auf die Zeiträume ab 2004) richtiger Weise korrigiert worden.
Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG wird das Kindergeld von der Familienkasse durch Bescheid festgesetzt und ausgezahlt. Ein entsprechender Bescheid kann gemäß § 119 Abs. 2 AO schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Im Streitfall bleibt nur die Alternative „in anderer Weise”, nachdem eine „positive Festsetzung” des Kindergeldes nicht erfolgt ist. Eine entsprechende Entscheidung, die die begrifflichen Merkmale eines Verwaltungsaktes (§ 118 Satz 1 AO) erfüllt, muss gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht in der Form (und mit dem Inhalt) eines Steuerbescheides (§ 157 AO) ergehen, wenn dem Antrag des Anspruchsberechtigten entsprochen wird. Damit hat der Gesetzgeber zwar für diesen Fall auf eine schriftliche Bescheiderteilung verzichtet, um das bei der Arbeitsverwaltung eingespielte Verfahren der Kindergeldzahlung im Interesse der Bürger und der Verwaltung beibehalten zu können (BT-Drucksache 13/1558 S. 161); dies enthebt aber nicht von dem Erfordernis der Festsetzung des Kindergeldes durch Bescheid. Für diesen Bescheid (Verwaltungsakt) gelten statt der für Steuerbescheide konkretisierten und spezialisierten Regeln des § 157 AO die allgemeinen Regeln der §§ 118 ff. AO, nach denen gemäß § 119 Abs. 2 Satz 1 AO der Verwaltungsakt auch in sonstiger Weise erlassen werden kann.
Sieht die Familienkasse in den Fällen des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG von einer schriftlichen Bescheiderteilung ab, so setzt sie das Kindergeld – in der Regel – in anderer Weise (d.h. formlos) fest. Zahlt die Familienkasse das Kindergeld tatsächlich aus, so ist in der ersten Auszahlung (Überweisung) des Kindergeldes und der Bekanntgabe des Auszahlungsbetrages grundsätzlich die Festsetzung zu sehen. Der Verwaltungsakt ergeht durch konkludentes Verhalten, indem Entscheidung der Familienkasse und Ausführung zusammenfallen.
Die Auszahlung (Überweisung) des Kindergeldes ist dabei nicht bloßer Realakt, sondern sie bringt zugleich konkludent gegenüber dem Empfänger die Entscheidung über das Bestehen des Anspruchs auf das beantragte Kindergeld (die Steuervergütung) als der sachlogischen Voraussetzung für die Auszahlung der beantragten Geldleistung zum Ausdruck. Denn der objektivierte Erklärungsinhalt einer Auszahlung als Kindergeld ist die Erklärung der Behörde, dass das Kindergeld in jener Höhe gewährt wird (vgl. FG Rheinland-Pfalz vom 24. April 1998 4 K 1755/97, juris; FG Münster vom 5. November 2009 11 K 4246/08 Kg, EFG 2010, 489).
Ob dies jedoch in allen Fällen gilt, also etwa auch dann, wenn der – objektivierte – Empfänger darum weiß, dass ihm dieses Kindergeld überhaupt nicht zusteht, erscheint fraglich. Der Senat kann diese Frage indessen offen lassen. Denn selbst wenn ein solches Verhalten der Behörde (Auszahlung des Kindergeldes ohne ausdrücklichen Bescheid auf Grund einer Antragstellung) einen Bescheid beinhaltet, so wäre ein solcher Verwaltungsakt nach den allgemeinen Regeln korrigierbar.
Im Streitfall hat der Senat keine Zweifel, dass sich eine Korrekturmöglichkeit ohne weiteres aus § 129 AO ergeben würde. Nach dieser Regelung kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen, jederzeit berichtigen. Die Korrektur eines mechanischen Fehlers, wie er im Streitfall festzustellen ist, dürfte als „klassisch” im Sinne dieser Regelung verstanden werden (BFH vom 5. Februar 1998 IV R 17/97, BStBl II 1998, 535). Denn es ist aufgrund der Aktenlage – der Beklagte ging eindeutig davon aus, dass der Klägerin gegen ihn kein Anspruch auf Kindergeld zustehe – ausgeschlossen, dass dem Verhalten der Behörde tatsächliche oder rechtliche Überlegungen zugrunde gelegen haben.
Dieser Korrektur stand jedoch teilweise, nämlich für die Monate November und Dezember 1993, der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen. Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO darf die Festsetzung einer Steuervergütung nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr aufgehoben werden. Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt grundsätzlich vier Jahre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO, bei leichtfertiger Steuerverkürzung (§ 378 AO) fünf Jahre und im Falle der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) zehn Jahre, vgl. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO. Nach § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer bzw. die Steuervergütung entstanden ist. Da das Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG monatlich gezahlt wird, begann die Festsetzungsfrist für das in den einzelnen Monaten des jeweiligen Kalenderjahres gezahlte Kindergeld somit mit Ablauf dieses Kalenderjahres (für 1993 als mit Ablauf des 31. Dezember 2003)
Bei Zugrundelegung der regulären Festsetzungsfrist hat demzufolge die Festsetzungsfrist hinsichtlich des Kindergeldes für das Jahr 1993 Ende 1997 geendet. Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Steuerhinterziehung (§§ 370 AO) hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken zu Recht unter Hinweis darauf, dass die Klägerin keine unzutreffenden Angaben gemacht hat, verneint. Auf die entsprechende Einstellungsverfügung vom 26. August 2008 (KiG, Bl. 31) wird Bezug genommen. Die dort genannten Gründe greifen gleichermaßen auch für die Frage des Vorliegens einer nur leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO). Denn auch eine solche Steuerordnungswidrigkeit setzt bei nicht aktiver Begehung die Verletzung einer Handlungspflicht durch Unterlassen voraus. Indessen braucht sich ein Betroffener allein deswegen, dass er eine staatliche Vergünstigung – unberechtigt – entgegen nimmt, keinen Vorwurf eines leichtfertigen Verhaltens gefallen lassen. Denn eine Handlungspflicht besteht nicht.
Mithin war der Beklagte auf Grund des Eintritts der Festsetzungsverjährung gehindert, das Handeln auch bezüglich der Monate November und Dezember 2003 zu korrigieren.
4. Die Klägerin konnte im Übrigen nicht darauf vertrauen, dass der Beklagte das ihr zu Unrecht ausbezahlte Kindergeld nicht zurückfordert. Mit der Übernahme des Kindergeldrechts in das Einkommensteuerrecht zum 1. Januar 1996 richtet sich das Verwaltungsverfahren allein nach der AO (BFH vom 21. Juli 2005 III S 19/04 (PKH), BFH/NV 2005, 2207). Diese enthält keine § 45 Abs. 2 SGB X entsprechende Vorschrift, nach der das Vertrauen in den Bestand einer gewährten Leistung in der Regel schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte sie verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (BFH vom 30. Juni 2005 III B 9/05, BFH/NV 2005, 2007). Insoweit liegt auch keine Regelungslücke vor, die durch analoge Anwendung des § 45 Abs. 2 SGB X zu schließen wäre. Der Gesetzgeber ging bei der Systemumstellung des Familienleistungsausgleichs zum 1. Januar 1996 durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250) davon aus, dass für das nach dem EStG zu gewährende Kindergeld auch die für Steuerbescheide geltenden Änderungsvorschriften der AO Gültigkeit haben würden (vgl. BTDrucks 13/3084, S. 21). Er war nicht gehalten, eine dem § 45 Abs. 2 SGB X entsprechende Vertrauensschutzregelung in das System steuerlicher Änderungs- und Aufhebungsvorschriften aufzunehmen (st. Rspr. des BFH; vgl. BFH vom 19. November 2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357).
Im Übrigen vermag der Senat auch nicht nachzuempfinden, aus welchem Verhalten des Beklagten die Klägerin einen besonderen Vertrauensschutz im Sinne der Verwirkung geltend machen will. Sie hat – unbestritten – staatliche Leistungen unberechtigt in Empfang genommen. Ob dies wissentlich geschah kann dahin stehen. Jedenfalls verdient sie, wenn eine solche – unberechtigte – Zahlung zurück gefordert wird, keinen speziellen Schutz.
5. Die Kosten des Verfahrens werden nach § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO der Klägerin auferlegt.
Zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO bestand keine Veranlassung.
Der Senat hielt eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid für angezeigt.