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  • 12.09.2012 · IWW-Abrufnummer 122814

    Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 07.08.2012 – III-2 Ws 252/12

    Voraussetzungen der Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls wegen neu hervorgetetener Umstände.


    Oberlandesgericht Hamm

    III-2 Ws 252/12

    Tenor:

    1.

    Der angefochtene Beschluss vom 16. Juli 2012 wird dahingehend abgeändert, dass der Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012 (Az.: II – 12 Kls 35 Js 82/07 – 10/11) unter nachfolgenden Auflagen gemäß § 116 Abs. 1 StPO ausgesetzt wird:

    a)

    Der Angeklagte hat – nach der am 9. Juli 2012 erfolgten Freigabe der aufgrund des Haftverscho­nungsbeschlusses des Amtsgerichts Bochum vom 12. März 2009 (64 Gs 805/09) bei der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts Bochum zum Akten­zeichen 4 HL 88/09 AG Bochum hinterlegten Sicherheit in Höhe von 100.000,- € – eine neue Sicherheitsleistung in Höhe von 45.000,- € durch Bareinzahlung bei der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts Bochum zu erbringen.

    Die Entlassungsanordnung, die nach Erbringung der Sicherheit von dem Landgericht Bochum als Haftgericht (§ 126 Abs. 2 S. 2 StPO) zu treffen ist, erfolgt erst nach Einreichung des Hinterlegungsbeleges im Original zu den Akten II – 12 Kls 35 Js 82/07-10/11 beim Landgericht Bochum.

    b)

    Der Angeklagte hat nach seiner Haftentlassung Wohnung zu nehmen unter der Anschrift I-Straße in E und diese Wohnung beizubehalten.

    Ein Wohnungswechsel bedarf der vorherigen Zustimmung des zuständigen Haftgerichts; einen beabsichtigten Wohnungswechsel hat der Angeklagte dem Haftgericht unverzüglich anzuzeigen.

    c)

    Der Angeklagte hat sich einmal wöchentlich, und zwar donnerstags, bei der für seine Wohnung zuständigen Polizeidienststelle in E zu melden.

    d)

    Der Angeklagte hat jeder gerichtlichen oder staatsanwaltlichen Ladung in dieser Sache und in dem abgetrennten Verfahren 12 KLs 35 Js 82/07 – 6/12 LG Bochum Folge zu leisten und dafür Sorge zu tragen, dass ihn solche Ladungen auch erreichen.

    2.

    Die weitergehende Beschwerde des Angeklagten wird verworfen.

    Der Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls des Land­gerichts Bochum vom 13. Juli 2012 bleibt zurückgewiesen.

    3.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeklagte; jedoch wird die Gebühr für das Beschwerdeverfahren um die Hälfte ermäßigt. Die Staats­kasse hat dem Angeklagten die ihm im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zur Hälfte zu ersetzen.

    G r ü n d e :

    I.

    Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bochum vom selben Tage erließ das Amts­gericht Bochum am 9. Februar 2009 Haftbefehl gegen den Angeklagten (Az.: 94 Gs 409/09). In diesem auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Unter­suchungshaftbefehl wurden dem Angeklagten als früherem Geschäftsführer der Firmen J2 GmbH in L2 und J GmbH in I fünf im Zeitraum 2006 bis Mitte 2008 be­gangene selbstständige Straftaten, nämlich Betrug in Tateinheit mit Urkundenfäl­schung, unterlassene Insolvenzantragstellung nach §§ 84 Abs. 1 Nr. 2, 64 Abs. 1 GmbHG sowie drei Straftraten des Bankrotts – jeweils in Tateinheit mit Untreue – nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten der Tatvor­würfe wird auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 ver­wiesen. Auf der Grundlage dieses Haftbefehls wurde der Angeklagte am 13. Februar 2009 festgenommen und nach Verkündung des Haftbefehls am selben Tage in Untersuchungshaft genommen.

    Mit Beschluss vom 12. März 2009 (64 Gs 805/09) setzte das Amtsgericht Bochum mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft den Vollzug des Haftbefehls vom 9. Februar 2009 gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000,- € und weitere Auflagen, darunter die Auflage, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Genehmigung zu verlassen, aus. Nach Bareinzahlung der entspre­chenden Kaution und Einreichung seines Reisepasses und Personalausweises wurde der Angeklagte noch am 12. März 2009 aus der Untersuchungshaft entlassen. In der Folgezeit wurden die im Haftverschonungsbeschluss bestimmten Auflagen wiederholt geändert. So hob das Landgericht Bochum mit Beschluss vom 18. Juli 2011 die Auflage zu Ziffer 4., die Bundesrepublik Deutschland nicht zu verlassen, auf.

    Die Staatsanwaltschaft Bochum hatte bereits zuvor unter dem 24. Januar 2011 An­klage gegen den Angeklagten bei der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bochum erhoben. In dieser Anklageschrift wurden dem Angeklagten 12 in der Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 13. Februar 2008 begangene selbstständige Straftaten, nämlich das unbefugte Führen akademischer Grade (Tat zu Ziffer 1.), Steuerhinter­ziehung in vier Fällen, wobei es in drei Fällen beim Versuch blieb (Taten zu Ziffern 2. – 5.), unterlassene Insolvenzantragstellung nach §§ 84 Abs. 1 Nr. 2, 64 Abs. 1 GmbHG (Tat zu Ziffer 6.), eine Bankrottstraftat nach § 283 Abs. 1 Nr. 6 StGB (Tat zu Ziffer 7.) sowie fünf weitere Bankrottstraftaten nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Taten zu Ziffern 8. – 12.) zur Last gelegt, wobei die Taten zu den Ziffern 6., 8. und 9. – 12. weitgehend den Tatvorwürfen aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 entsprechen. Mit Beschluss vom 1. September 2011 ließ die 12. große Strafkammer des Landgerichts Bochum die Anklage vom 24. Januar 2011 zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 nach Maßgabe des Haftverschonungsbeschlusses der Kammer vom 18. Juli 2011 an. Gleichzeitig beschloss die Kammer die Verbin­dung des Verfahrens mit dem bei dem Landgericht Bochum nach erfolgter Anklageerhebung vom 21. März 2011 gegen den Ange­klagten C2 unter dem Az. 12 Kls 37 Js 341/10 – 12/11 geführten Verfahren - unter gleichzeitiger Zulassung auch dieser Anklage­schrift - zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. Eine von der Staats­anwaltschaft Bochum in vorliegender Sache mit Verfügung vom 24. Februar 2011 beantragte Neufassung des Haftbefehls gegen den Angeklagten nach Maßgabe der Anklageschrift vom 24. Januar 2011 unter Aufrechterhaltung der Haftverschonung unterblieb in der Folgezeit.

    Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und den Mitangeklagten C2 vor der 12. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum erfolgte an 14 Hauptver­handlungsterminen in der Zeit vom 23. Januar 2012 bis zum 9. Juli 2012. Am 7. Hauptverhandlungstag ( 21. März 2012) trennte die Kammer das Verfahren be­züglich der Tatvorwürfe zu Ziffern 6. – 12. der Anklageschrift vom 24. Januar 2011 zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung ab (neues Az.: 12 KLs 35 Js 82/07 – 10/11 Teil I). Ferner erteilte die Kammer dem Angeklagten in diesem Termin den Hinweis, dass hinsichtlich der angeklagten Vorwürfe der (zum Teil versuchten) Steuerhinterziehung mit Ausnahme des Vorwurfs der Einkommenssteuerhinterziehung auch eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO in Betracht komme. Mit am 14. Hauptverhandlungstag am 9. Juli 2012 verkündetem Urteil hat das Landgericht Bochum den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in vier Fällen, wobei es in drei Fällen bei einem Versuch blieb, sowie wegen unbefugten Führens akademischer Grade zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 10. Juli 2012 Revision eingelegt. Mit Beschluss vom selben Tage hat die Strafkammer die Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 unter Aufhebung des Haftverschonungsbeschlusses des Amtsgerichts Bochum vom 12. März 2009 „nach Maßgabe des heute verkündeten Urteils“ ange­ordnet und sich den Erlass eines neuen, dem Urteil angepassten Haftbefehls vorbehalten. Daraufhin ist der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung festge­nommen und in Untersuchungshaft genommen worden, die bis heute andauert. Am 9. Juli 2012 hat das Landgericht Bochum weiter beschlossen, die aufgrund des Haft­verschonungsbeschlusses vom 12. März 2009 bei der Hinterlegungsstelle des Amts­gerichts Bochum hinterlegte Sicherheit in Höhe von 100.000,- € nach § 123 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO freizugeben. Daraufhin hat der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum mit Verfügung vom selben Tage die Herausgabe der Sicherheit bewilligt und auf angezeigte Abtretungen bzw. Pfändungen in einer Gesamthöhe von ca. 65.000,- € hingewiesen. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen bislang nicht vor.

    Mit Beschluss vom 13. Juli 2012 hat das Landgericht Bochum unter Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 einen neuen Untersu­chungshaftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, der sich auf die den Gegenstand der Verurteilung vom 9. Juli 2012 bildenden Straftaten bezieht und auf den Haftgrund der Fluchtgefahr, der darin näher ausgeführt wird, gestützt ist. Dieser Haftbefehl ist dem Angeklagten am 16. Juli 2012 verkündet worden. Ein in diesem Verkündungs­termin vom Verteidiger des Angeklagten gestellter Antrag, den Haftbefehl aufzuhe­ben, hilfsweise, diesen unter Auflagen außer Vollzug zu setzen, hat das Landgericht Bochum mit Beschluss vom selben Tage zurückgewiesen. Gegen diese Haftent­scheidung hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. Juli 2012 Beschwerde erhoben und unter Bezugnahme auf § 116 Abs. 4 StPO mit näheren Ausführungen beantragt, den Haftbefehl des Landgerichts aufzuheben, hilfsweise, diesen unter Auflagen außer Vollzug zu setzen. Das Landgericht Bochum hat der Beschwerde mit Beschluss vom 19. Juli 2012 nicht abgeholfen. In den Gründen des Nichtabhilfebeschlusses hat die Kammer ausgeführt, dass neue Umstände i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO eingetreten seien, die eine erneute Verhaftung des Angeklagten erforderlich gemacht hätten. So habe sich im Laufe der Hauptverhandlung eine rechtsfeindliche Einstellung des Angeklagten offenbart. Durch die Verurteilung habe sich nach dem persönlichen Ein­druck der Kammer von dem Angeklagten für diesen eine neue Verfahrens- und Lebenssituation ergeben, da dieser bis zuletzt eine bewährungsfähige Strafe erwartet habe. Nunmehr sei konkret zu befürchten, dass der Angeklagte ins Ausland flüchte. Dieser Gefahr könne durch Meldepflichten und andere Auflagen nicht wirksam begegnet werden.

    Die Generalstaatsanwaltschaft hat unter pauschaler Bezugnahme auf die Gründe des Nichtabhilfebeschlusses beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwer­fen.

    II.

    Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Haftbeschwerde des Angeklagten hat in der Sache teilweise Erfolg und führt zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls des Land­gerichts Bochum vom 13. Juli 2012 unter den im Beschlusstenor näher bezeichneten Auflagen.

    1.

    Bei zutreffender Auslegung (§ 300 StPO) richtet sich die mit Verteidigerschriftsatz vom 17. Juli 2012 erhobene (Haft-)Beschwerde des Angeklagten gegen die (letzte) Haftentscheidung des Landgerichts Bochum vom 16. Juli 2012, mit der der Antrag des Angeklagten vom selben Tage auf Aufhebung, hilfsweise Außervollzugsetzung des gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehls zurückgewiesen worden ist, und den diesem Beschluss zugrunde liegenden Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012.

    2.

    Soweit der Angeklagte mit seiner Beschwerde die Aufhebung des Haftbefehls des Landgerichts vom 13. Juli 2012 begehrt, ist sein Rechtsmittel unbegründet. Die An­ordnung der Untersuchungshaft – in Ersetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 – nach Maßgabe des am 9. Juli 2012 verkündeten, nicht rechtskräftigen Urteils der Strafkammer mit den darin erhobenen Tatvorwürfen ist nach § 112 StPO gerechtfertigt.

    a)

    Hinsichtlich der in dem Haftbefehl vom 13. Juli 2012 näher bezeichneten Taten besteht ein dringender Tatverdacht gegen den An­geklagten. Der dringende Tatverdacht ergibt sich schon daraus, dass das Land­gericht den Angeklagten durch Urteil vom 9. Juli 2012 wegen dieser Taten für schul­dig befunden und verurteilt hat. Bereits der Umstand, dass das Gericht nach Durch­führung eines rechtsstaatlichen Regelungen unterworfenen Erkenntnisverfahrens zur Überzeugung der Täterschaft und Schuld des Angeklagten gelangt ist, spricht für eine hohe Wahrscheinlichkeit eines strafbaren Verhaltens des Angeklagten in der festgestellten Weise (vgl. BGH NStZ 2004, 276; OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 3. März 2011– III-2 Ws 53/11 -). Ein diesbezüglicher dringender Tatverdacht wird von dem Angeklagten im Übrigen mit seiner Haftbeschwerde auch nicht in Frage ge­stellt.

    b)

    Zu Recht hat das Landgericht auch den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen. Der Angeklagte ist durch das Urteil der Strafkam­mer vom 9. Juli 2012 zu einer nicht unerheblichen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden, zudem muss er in dem abgetrennten Verfahren wegen der Tatvorwürfe zu Ziffern 6. bis 12. der Anklageschrift vom 24. Januar 2011 im Falle einer entsprechenden Verurteilung mit der Verhängung einer weiteren empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe bzw. bei Einbeziehung des Urteils vom 9. Juli 2012 mit einer spürbaren Erhöhung der darin festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe rechnen. Auch unter Berücksichtigung der bereits ver­büßten Untersuchungshaft von jetzt insgesamt knapp zwei Monaten begründet dies einen erheblichen Fluchtanreiz, der es angesichts der in dem angegriffenen Haftbe­fehl näher beschriebenen intensiven Auslandskontakte des Angeklagten durchaus wahrschein­lich erscheinen lässt, dass dieser sich im Hinblick auf die nunmehr erfolgte Verurteilung dem weiteren Verfahren und der drohenden Strafvollstreckung durch Flucht ins Ausland entziehen wird, zumal der Angeklagte nach dem persönlichen Eindruck der Kammer bis zuletzt auf eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich gehofft hatte.

    c)

    Die Anordnung der Untersuchungshaft ist – nach Maßgabe der vom Senat angeord­neten Haftverschonung – angesichts der Höhe der ausgeurteilten Strafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer, der Dauer der bislang erlittenen Untersuchungshaft und der mit der Haftverschonung vom 12. März 2009 in der Fol­gezeit verbundenen Beschränkungen auch verhältnismäßig.

    3.

    Zu Unrecht hat das Landgericht Bochum hingegen eine Außervollzugsetzung des nach Maßgabe des am 9. Juli 2012 verkündeten Urteils am 13. Juli 2012 neu gefassten und an die Stelle des ursprünglichen Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 getretenen Haftbefehls abgelehnt. Auch die unmittelbar vorausgegangene Wiederinvollzugsetzung des amtsgerichtlichen Haftbefehls wider­sprach § 116 Abs. 4 StPO und dem in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Gebot, die Aussetzung eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungs­grundlage zur Zeit der Gewährung der Haftverschonung maßgeblich verändert haben.

    a)

    Dieser in § 116 Abs. 4 StPO auch einfach gesetzlich verankerte Grundsatz war unter Berücksichtigung des besonderen Verfahrensganges im hier zu beurteilenden Fall zu beachten, was im Übrigen die Strafkammer ausweislich der Gründe ihrer Nichtabhilfeentscheidung vom 19. Juli 2012 auch zutreffend erkannt hat. So ist anerkannt, dass im Falle der Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls und dem Erlass eines zu vollziehenden neuen Haftbefehls wegen der­selben Tat die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO im Rahmen des An­trags auf erneute Außervollzugsetzung als Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen sind, weil sich die maßgebliche und mit der früheren Aussetzungsentscheidung ge­schaffene Vertrauenslage in einem solchen Fall nicht geändert hat (vgl. BVerfG StraFo 2006, 108; OLG Karlsruhe, wistra 2005, 316; KK-Graf, StPO, 6. Aufl., § 116 Rdnr. 34). Vorliegend bezieht sich der Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012 zwar auf Taten, die nicht Gegenstand des am 12. März 2009 außer Vollzug gesetzten Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 waren. Allerdings besteht vorliegend die Besonderheit, dass die den Gegenstand des Haftbefehls des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012 bildenden Taten von der Anklageschrift der Staatsan­waltschaft Bochum vom 24. Januar 2011 mit umfasst waren, das Landgericht Bochum diese Anklage mit Beschluss vom 1. September 2011 zugelassen und gleichzeitig den Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum nach Maßgabe des Haftverschonungsbe­schlusses der Kammer vom 18. Juli 2011 aufrechterhalten hatte und dabei (offen­sichtlich allein aus verfahrensökonomischen Gründen) darauf verzichtet hatte, den Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 – wie von der Staatsan­waltschaft Bochum mit Begleitverfügung zur Anklage vom 23. Februar 2011 (Bl. 1762 Bd. V d.A.) beantragt – nach Maßgabe der Anklageschrift neu zu fassen und zu ver­künden und es dabei bei der Außervollzugsetzung gegen die geleistete Sicherheit in Höhe von 100.000,- € zu belassen. Auch nach Abtrennung der Tatvorwürfe zu Ziffern 6. – 12. der Anklageschrift vom 24. Januar 2011, von der auch die Tatvorwürfe zu Ziffern 2. – 5. des Haftbefehls des Amtsgerichts Bochum vom 9. Februar 2009 be­troffen waren, durch Beschluss der Strafkammer vom 21. März 2009 unterblieb eine Neufassung des Haftbefehls im vorliegenden, durch Urteil vom 9. Juli 2012 erstin­stanzlich abgeschlossenen Verfahren. Durch diese Vorgehensweise und Handha­bung hat die Strafkammer die durch die Aussetzungsent­scheidung des Amtsgerichts Bochum vom 12. März 2009 geschaffene und zunächst nur den Haft­befehl des Amtsgerichts vom 9. Februar 2009 mit den darin bezeichneten Taten be­treffende Vertrauensgrundlage stillschweigend auch auf die Tatvorwürfe er­streckt, die Gegenstand der Anklageschrift vom 24. Januar 2011 und des Eröff­nungsbeschlusses der Kammer vom 1. September 2011 waren und die, was die dorti­gen Tatvorwürfe zu Ziffern 1. – 5. betrifft, den Gegenstand des Urteils der Kammer vom 9. Juli 2012 und des entsprechenden Haftbefehls des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012 bilden. Damit waren und sind bei der Frage der Vollziehung des neu erlassenen Haftbefehls vom 13. Juli 2012 die in § 116 Abs. 4 StPO normierten einschränkenden Vorausset­zungen für die Wiederinvollzugsetzung eines ausgesetzten Haftbefehls zu beachten.

    b)

    Unter Beachtung dieses Prüfungsmaßstabes ist es vorliegend geboten, den Haftbe­fehl des Landgerichts Bochum vom 13. Juli 2012 gegen die im Tenor dieses Senats­beschlusses näher bezeichneten Auflagen außer Vollzug zu setzen und damit - unter Anpassung der Auflagen an den derzeitigen Sach- und Verfahrensstand - praktisch den vor der Wiederinvollzugsetzung des ursprünglichen Haftbefehls bestehenden Zustand wiederherzustellen. Gründe für eine Wiederinvollzugsetzung i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 1 u. 2 StPO sind nicht ersicht­lich und werden von der Kammer in ihrer angefochtenen Haftentscheidung auch nicht angeführt. Der Angeklagte ist vielmehr seit der am 12. März 2009 erfolgten Außervollzugsetzung des ur­sprünglichen Haftbefehls sämt­lichen Auflagen nachgekommen, insbesondere hat er keinen der insgesamt 14 Hauptverhandlungstermine vor der Strafkammer versäumt.

    Auch neu hervorgetretene Umstände i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO liegen unter Be­rücksichtigung der engen Auslegung dieser Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt (vgl. Beschlüsse vom 15. August 2007 – 2 BvR 1485/07 – in StV 2008, 29, vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 – in StV 2007, 84 = StraFo 2007, 19 und vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 – in StV 2006, 139 = StraFo 2006, 108) ausge­führt, dass ein nach einer Haftverschonung ergangenes Urteil im Einzelfall zwar ge­eignet sein könne, den Widerruf einer Haftverschonung bzw. die Invollzugsetzung eines Haftbefehls nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO zu rechtfertigen. Dies setze jedoch voraus, dass die vom Tatgericht verhängte Strafe von der früheren Prognose, die zur Aussetzung geführt habe, erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweiche und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöhe. Sei dagegen zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewe­sen und habe der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt, dürfe die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen müsse, könne einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausganges während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen gehabt habe und er gleichwohl allen Auflagen be­anstandungsfrei nachgekommen sei. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat diese vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze zur Auslegung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO übernommen (vgl. OLG Hamm, StV 2008, 29; OLG Nürnberg, StraFo 2011, 224; OLG Oldenburg, StV 2009, 141; OLG Stuttgart, StraFo 2009, 104; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 116 Rdnr. 28 m.w.N.). Danach können vorliegend neu hervorgetretene Umstände i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nicht angenommen werden. Insbesondere die von der Kammer insoweit angeführten Gründe rechtfertigen eine Vollziehung des Haftbefehls nicht. Die von der Strafkammer aus­geurteilte Strafe entsprach der Straferwartung nach Anklageerhebung in Bezug auf die Tatvorwürfe zu Ziffern 1. – 5. der Anklage, zumal die Strafkammer im Hauptver­handlungstermin am 21. März 2012 noch in Bezug auf die Taten der vollendeten bzw. versuchten Steuerhinterziehung auf die mögliche Anwendung des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO und eine damit verbundene höhere Straferwartung hingewiesen hatte. Auch hinsichtlich der abgetrennten Tatvorwürfe hat sich die Sachlage und Straferwartung seit der Anklageerhebung und Zulassung der Anklage nicht geändert. Der Erkenntnisstand in Bezug auf die Auslandskontakte des Angeklagten hat sich jedenfalls seit der Aufhebung der darauf bezogenen Auflage zu Ziffer 4. des Haftverschonungsbeschlusses am 18. Juli 2011 durch Beschluss der Kammer vom selben Tage ebenfalls nicht wesentlich geändert. Soweit die Kammer auf eine „rechtsfeindliche Einstellung“ des Angeklagten verweist, die im Verlauf der Hauptverhandlung deutlich geworden sei, handelt es ebenfalls um keinen neu her­vorgetretenen Umstand, der eine Verhaftung rechtfertigt. Die fehlende Bereitschaft des Angeklagten, sich innerhalb der geltenden Normen und der durch die Strafge­setze gezogenen Grenzen zu verhalten, offenbarte sich bereits in seinen insgesamt fünf Vorverurteilungen, darunter Verurteilungen wegen Untreue, Geldwäsche und Bestech­lichkeit. Die davon ausgehenden Hinweise auf eine „rechtsfeindliche Einstellung“ wur­den bereits durch die Anklageerhebung in vorliegender Sache deutlich verstärkt, ohne dass allerdings die Voraussetzungen des § 112a StPO für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr vorliegen. Auch in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten sind seit der Außervollzugsetzung des ursprünglichen Haftbefehls keine maßgeblichen Änderungen eingetreten. Auch der Umstand, dass sich der dringende Tatverdacht in Bezug auf die im Haftbefehl vom 13. Juli 2012 bezeichne­ten Taten im Sinne einer richterlichen Überzeugung von der diesbezüglichen Schuld des Angeklagten verstärkt hatte, stellt nach der oben zitierten Rechtsprechung keinen neu hervorgetretenen Umstand dar. Schließlich genügt auch der Umstand, dass der An­geklagte nach dem persönlichen Eindruck der Kammer bis zuletzt eine bewäh­rungsfähige Strafe, deren Verhängung im Übrigen auch der Verteidiger in seinem Schlussplädoyer beantragt hatte, erwartet hatte, nicht für die Bejahung der Vorausset­zungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO. Jedenfalls die Möglichkeit eines für ihn un­günstigen Verfahrensausganges und der Verhängung einer vollstreckbaren Freiheits­strafe muss der Angeklagte unter Berücksichtigung des Verfah­rensganges, nicht zuletzt im Hinblick auf die von der Kammer im Termin vom 21. März 2012 erteilten Hinweise, stets vor Augen gehabt haben, was ihn jedoch nicht dazu veranlasste, den erteilten Auflagen zuwider zu handeln und insbesondere Hauptverhandlungstermine nicht wahrzunehmen.

    4.

    Die im Tenor des Senatsbeschlusses näher bezeichneten Auflagen erschienen dem Senat ausreichend, aber auch erforderlich, der durch die vorausgegangene Haftver­schonung geschaffenen Ausgangslage, die durch das Urteil des Landgerichts Bochum vom 9. Juli 2012 nicht wesentlich i.S.d. § 116 Abs. 4 StPO verändert worden ist, Rechnung zu tragen. Bei der Bemessung der Höhe der Kaution hat der Senat berücksichtigt, dass die nach erfolgter Freigabe der bisherigen Sicherheit nunmehr neu zu leistende Kaution von dem Angeklagten nicht in voller Höhe aus der freigegebenen Haftkaution in Höhe von 100.000,- € einschließlich Zinsen geleistet werden kann, da diesbe­züglich Abtretungen und Pfändungen in einer Gesamthöhe von ca. 65.000,- € ange­zeigt und notiert sind.

    5.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 u. 4 StPO.

    RechtsgebietStPOVorschriften§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO