10.01.2013 · IWW-Abrufnummer 130120
Oberlandesgericht Stuttgart: Urteil vom 16.04.1993 – 1 Ss 122/93
Ein Strafbefehl als Verfahrensgrundlage ist nicht schon deshalb unwirksam, weil zum Vorwurf der Beleidigung in 94 tateinheitlichen Fällen nur der Anzeigeerstatter, der als Vorgesetzter einen Strafantrag gestellt hat, namentlich aufgeführt wird und mangels individueller Auflistung der übrigen Verletzten nicht ersichtlich ist, ob sich die Strafantragsbefugnis auf alle Verletzten beziehen kann.
1 Ss 122/93
OLG Stuttgart
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 07. Dezember 1992 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Stuttgart
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Am 09. Juli 1991 hat der Strafrichter des Amtsgerichts E. gegen die Angeklagte einen Strafbefehl folgenden Inhalts erlassen:
Sie - die Angeklagte - habe "in 95 tateinheitlichen Fällen einen anderen beleidigt", ..... "wobei die Staatsanwaltschaft von folgendem Sachverhalt ausgeht:
Am 05. März 1991 fand in E. eine Kommandeurstagung der Bundeswehr statt, in der u.a. Generalmajor S. und weitere 94 (Reserve-) Offiziere des ihm unterstellten Wehrbereichskommandos V teilnahmen. Die Angeklagte gehörte zu einer Gruppe von ca. 15 Personen, die gegen diese Veranstaltung demonstrierten. Gegen 16.30 Uhr wurde am Alten Rathaus, wo die Teilnehmer der Tagung vom Oberbürgermeister empfangen werden sollten, ein Transparent aufgehängt, das die Aufschrift: "Hier tagen Völkermörder, Kriegsstrategen", trug. Dieses Transparent wurde entweder von der Angeklagten selbst oder aber mit ihrem Wissen und ihrer Billigung von bislang nicht ermittelten Mittätern angebracht. Durch die Bezeichnung als "Völkermörder" sollten die Teilnehmer der Tagung in ihrer Ehre gekränkt werden. Das Transparent wurde gegen 17.00 Uhr von der Polizei wieder entfernt.
Die Tat ist:
1 Vergehen der Beleidigung in 5 tateinheitlichen Fällen gemäß §§ 184, 194, 52, 74 StGB."
Nach rechtzeitigem Einspruch verurteilte das Amtsgericht E. die Angeklagte am 28. September 1992 "wegen 5 in Tateinheit stehender Vergehen der Beleidigung" zu der Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 15,-- DM, insgesamt also 750,-- DM. Auf die Berufung der Angeklagten hat das Landgericht mit Urteil vom 07. Dezember 1992 das Verfahren wegen Fehlens einer Prozeßvoraussetzung eingestellt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie eine Verfahrensrüge und die allgemeine Sachrüge erhebt.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Verfahrensrüge Erfolg. An der vom Landgericht vermißten Prozeßvoraussetzung fehlt es nicht; die Verfahrenseinstellung nach § 260 Abs. 3 StPO war daher nicht gerechtfertigt.
Das Landgericht ist der Auffassung, der der Angeklagten zur Last gelegte Sachverhalt sei nicht hinreichend umrissen und für die Angeklagte nicht nachvollziehbar, weil im Strafbefehl nur Generalmajor S., nicht aber die 94 anderen angeblich beleidigten Bundeswehroffiziere mit Namen und Dienstrang aufgeführt worden seien. Der Strafbefehl genüge daher weder seiner Umgrenzungsfunktion noch seiner Informationsfunktion. Auch sei angesichts der unbekannten Befehlsgewalt der Bundeswehr völlig unklar, wer die 94 dem Generalmajor S. unterstellten Offiziere seien, für die dieser gemäß § 194 Abs. 3 StGB Strafantrag wegen Beleidigung gestellt habe.
Diese Auffassung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach § 409 Abs. 1 Nr. 3 StPO, der inhaltlich der insoweit für die Anklage geltenden Vorschrift des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht, muß der Strafbefehl die Bezeichnung der Tat, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung und die Bezeichnung der gesetzlichen Merkmale der Straftat enthalten. Obwohl es sich beim Strafbefehlsverfahren um ein summarisches Verfahren handelt, sind an die Darstellung des Tatvorwurfs keine geringeren Anforderungen zu stellen als an den Anklagesatz, der in Verbindung mit dem Eröffnungsbeschluß den Gegenstand des Strafverfahrens in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht einzugrenzen hat. Denn damit wird der Verfahrensgegenstand hinsichtlich der Entscheidungsbefugnis des Gerichts und hinsichtlich des Umfangs der möglichen Rechtskraft festgelegt (Umgrenzungsfunktion). Von der Umgrenzungsfunktion zu unterscheiden ist die Informationsfunktion des Strafbefehls. Dieser soll dem Angeklagten ein Bild von der Berechtigung des gegen ihn erhobenen Vorwurfs verschaffen, das ihn in die Lage versetzt, zu entscheiden, ob er gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen soll, und ihm ermöglichen soll, gegebenenfalls seine Verteidigung in der Hauptverhandlung vorzubereiten (vgl. BGHSt 23, 336; OLG Düsseldorf NStZ 1991, 99; Rieß in LR StPO 24. Auflage § 200 Rdnrn. 57, 58; Gössel in LR StPO 24. Auflage § 409 Rdnrn. 11, 12).
Indes führen nur schwere formelle oder sachliche Mängel, die die Umgrenzungsfunktion betreffen, zur Unwirksamkeit der zugelassenen Anklage bzw. des Strafbefehls. Sachliche Lücken im Anklagesatz oder Strafbefehl stellen nur dann einen schweren Mangel dar, wenn die Umgrenzungsfunktion - und nicht nur die Informationsfunktion - nicht mehr erfüllt wird, da dann unklar bleibt, auf welchen konkreten historischen Sachverhalt sich der Tatvorwurf bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft des Urteils oder des Strafbefehls haben würde (vgl. BGH NStZ 1992, 553; NStZ 1984, 133; GA 1980, 468).
Von einem derartigen Mangel kann hier nicht die Rede sein. Das nach Auffassung der Staatsanwaltschaft den Tatvorwurf begründende konkrete Vorkommnis ist nach Ort und Zeit sowie nach den objektiven und subjektiven Tatmodalitäten ausreichend umschrieben; es ist von etwaigen anderen, ähnlichen Vorkommnissen ohne weiteres zu unterscheiden. Die Tatopfer sind jedenfalls identifizierbar, auch wenn sie mit Ausnahme des Generalmajors S nicht mit Namen und Dienstrang aufgeführt werden. Der im Strafbefehl geschilderte Sachverhalt läßt keinen Zweifel daran, daß die Angeklagte jeden einzelnen Teilnehmer der Tagung durch die Bezeichnung als "Völkermörder" in seiner Ehre kränken wollte. Zur Umgrenzung des Tatvorwurfs war es nicht erforderlich, die betroffenen Tagungsteilnehmer mit Namen und Dienstrang im Strafbefehl aufzuführen; auch Straftaten gegen namentlich nicht bekannte Personen können durch Anklage oder Strafbefehl in prozessual einwandfreier Weise verfolgt werden. Sollten hier später Zweifel auftauchen, wie weit die Rechtskraft und damit der Strafklageverbrauch reichen, so kann zur Klärung ohne weiteres in der Hauptverhandlung auf die bei den Akten befindliche Liste der Tagungsteilnehmer zurückgegriffen werden.
Fehlt ein wirksamer Strafantrag für einzelne von mehreren tateinheitlich begangenen Beleidigungen, so scheiden jene Vorwürfe aus dem Verfahren ohne förmliche Einstellung aus (vgl. Kleinknecht/ Meyer StPO 40. Auflage Einleitung Rdnr. 154 mit Rechtsprechungsnachweisen), hindern aber eine Verurteilung wegen der übrigen Beleidigungen nicht. Generalmajor S als Anzeigeerstatter konnte für sich und die ihm als Dienstvorgesetztem unterstellten Tagungsteilnehmer nach § 194 Abs. 3 Satz 1 StGB einen Strafantrag wirksam stellen. Ob sich diese Befugnis auf einzelne Tagungsteilnehmer nicht erstreckte, kann in der Hauptverhandlung unschwer geklärt werden. Davon, daß der Umfang der Strafantragsbefugnis nicht bereits aus dem Strafbefehl ersichtlich war, hängt dessen Wirksamkeit als Verfahrensgrundlage nicht ab. Die Abgrenzungsfunktion des dort aufgeführten Tatgeschehens wird davon nicht berührt.
Abgesehen davon sind hinsichtlich des Tagungsleiters Generalmajor S selbst die vom Landgericht aufgestellten - überzogenen - Anforderungen an den Inhalt eines Strafbefehls erfüllt, so daß wenigstens insoweit eine Sachentscheidung hätte ergehen müssen. Daß im Strafbefehl von 5 statt von 95 Vergehen der Beleidigung und von § 184 StGB statt von § 185 StGB die Rede ist, stellt angesichts dessen übrigen Inhalts lediglich offensichtliche und damit berichtigungsfähige Fassungsversehen dar, die die Umgrenzungsfunktion des Strafbefehls nicht betreffen; der Informationsfunktion kann durch einen entsprechenden Hinweis genügt werden.
Da es sonach nicht an einer Prozeßvoraussetzung fehlt, muß die Sache neu verhandelt und sachlich entschieden werden.