13.11.2015 · IWW-Abrufnummer 145777
Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 25.08.2015 – 3 Ws 229/15, 3 Ws 230/15
1. Das Gesetz sieht in § 115 Abs. 1 StPO eine ausdrückliche wie effektive Wahrung der grundgesetzlich geschützten Rechtsposition des Beschuldigten bei längerer Zeitdauer zwischen Anordnung und Vollstreckung von Untersuchungshaft vor.
2. Durch die unverzügliche Vorführung des festgenommenen Beschuldigten vor den zuständigen Haftrichter ist gewährleistet, dass diesem die abschließende Entscheidungshoheit zur Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen zur Anordnung der Untersuchungshaft vorbehalten bleibt.
3. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Unzulässigkeit der Vollziehung bzw. das Außerkrafttreten von Durchsuchungsbeschlüssen nach einem bestimmten Zeitablauf seit ihrem Erlass kann deshalb auf Haftbefehle nicht übertragen werden.
4. Die im (Haft-) Beschwerdeverfahren nachträglich erfolgte Konkretisierung verschiedener neuer, den Beschuldigten zur Last gelegter Betrugsstraftaten durch die (General-) Staatsanwaltschaft kann vor Erhebung der öffentlichen Klage im Beschwerdeverfahren nur berücksichtigt werden, wenn die Staatsanwaltschaft zuvor gem. § 125 Abs. 1 StPO den Erlass eines entsprechenden neuen bzw. abgeänderten Haftbefehls beantragt, der den Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO genügt.
Oberlandesgericht Hamm
3 Ws 229, 230/15
Tenor:
Die weitere (Haft-)Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 aufgehoben werden.
Die notwendigen Auslagen der Beschuldigten trägt die Landeskasse.
Gründe:
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I.
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Die Beschuldigten befanden sich aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 (9 Gs 15/14 und 9 Gs 39/14) in der Zeit vom 22. April 2015 bis zum 21. Mai 2015 in Untersuchungshaft. Ausweislich der Haftbefehle liegt den Beschuldigten gemeinschaftlicher Betrug, wobei sie einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeigeführt haben sollen, in mindestens 3 Fällen sowie Subventionsbetrug in mindestens 2 Fällen zur Last (Vergehen strafbar gemäß §§ 263 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 264 Abs. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB).
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Danach sollen in den Konzernbilanzen der Firma I AG in den Jahren 2005 bis 2012 in erheblichem Umfang betragsmäßig unzutreffende Vermögenspositionen enthalten gewesen seien. Es sei davon auszugehen, dass die Beschuldigten, in ihrer Eigenschaft als verantwortlich Handelnde der Firma I AG, in Kenntnis dieser Fehlerhaftigkeit und unter Vorlage dieser Bilanzen im Zusammenhang mit Subventionsanträgen für das Unternehmen I AG bzw. deren Tochterunternehmen in den Jahren 2009 bis 2012 Kredit- und Fördermittel in Millionenhöhe betrügerisch erlangt haben. Das Amtsgericht hat den dringenden Tatverdacht in den beiden Haftbefehlen jeweils gleichlautend wie folgt begründet:
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„Der dringende Tatverdacht für das Vorliegen dieser umfangreichen Wirtschaftsstraftaten sowie des maßgeblichen Einflusses des Beschuldigten gründet sich auf von der Steuerfahndung Bielefeld übersandter Unterlagen im Zusammenhang mit anderen Verfahren wegen des Vorwurfes der Steuerhinterziehung, der Auswertung diverser Jahresabschlussunterlagen, insbesondere der I AG (Einzel- und Konzernabschlüsse), der X2 GmbH, der X GmbH und der M GmbH (veröffentlicht im Bundesanzeiger), Internetrecherchen sowie der beigezogenen Akten 44 Js 376/10 StA Münster (X2 GmbH) und 45 Js 149/11 StA Münster (Verschmelzung mit der W AG).“
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird inhaltlich auf die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 Bezug genommen.
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Im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen wurden die beiden Beschuldigten am 22. April 2015 auf der Grundlage der Haftbefehle vom 9. Januar 2014 festgenommen und dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Bielefeld vorgeführt. Dieser ordnete mit Beschluss vom selben Tag die „Invollzugsetzung“ der Haftbefehle an.
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Durch Schreiben ihrer Verteidiger vom 4. und 6. Mai 2015 haben die Beschuldigten jeweils (Haft-)Beschwerde eingelegt. Zur Begründung tragen sie - im Wesentlichen zusammengefasst - vor, das Amtsgericht Bielefeld sei für die Anordnung der Untersuchungshaft unzuständig gewesen, es fehle an der erforderlichen Konkretisierung der vorgeworfenen Straftaten hinsichtlich Tatort, Tatzeit, Tathandlung oder Taterfolg, die Fluchtgefahr sei nur unzureichend begründet und die Anordnung der Untersuchungshaft unverhältnismäßig. Weiter wird gerügt, dass der dringende Tatverdacht in den Haftbefehlen durch Verweise auf andere Dokumente und Aktenbestandteile begründet werde, in die jedoch bislang keine Akteneinsicht gewährt worden sei, so dass die Haftbefehle bereits deshalb aufzuheben bzw. unzureichend begründet seien.
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Die Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Bielefeld haben jeweils durch Verfügung vom 8. Mai 2015 den (Haft-)Beschwerden nicht abgeholfen und die Akten dem Landgericht Bielefeld zur Entscheidung vorgelegt.
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Die 9. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld hat am 21. Mai 2015 einen Beschluss mit folgendem Tenor erlassen:
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„Die angefochtenen Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 09.01.2014, Az. Gs 15/14 und 9 Gs 39/14, sind außer Kraft.
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Die Entscheidungen des Ermittlungsrichters vom 22.04.2015 über die Invollzugsetzung der Haftbefehle vom 09.01.2014 werden aufgehoben.“
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Gegen diesen Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft Bielefeld mit ihrer weiteren Beschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm beigetreten ist. Sie beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben, die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld gegen die Beschuldigten vom 9. Januar 2014 (Az. 9 Gs 15/14 und 9 Gs 39/14) wieder in Vollzug zu setzen und die Haftbeschwerden als unbegründet zu verwerfen.
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Die Verteidiger der Beschuldigten haben hierzu Stellung genommen.
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II.
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Die weitere (Haft-)Beschwerde (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) ist unbegründet.
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1.
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Der Senat teilt jedoch nicht die durch das Landgericht Bielefeld getroffene Feststellung, dass die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 durch Zeitablauf wirkungslos geworden seien.
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Der durch das Landgericht angenommene und an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des Außerkrafttretens einer richterlichen Durchsuchungsanordnung angelehnte „Erst-Recht-Schluss“, findet für die Untersuchungshaft im Gesetz keine Stütze. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass spätestens nach Ablauf eines halben Jahres davon auszugehen sei, dass die richterliche Prüfung nicht mehr die rechtlichen Grundlagen einer beabsichtigten Durchsuchung gewährleiste und die richterliche Anordnung nicht mehr den Rahmen, die Grenzen und den Zweck der Durchsuchung im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes zu sichern vermag. Ein Durchsuchungsbeschluss habe dann seine rechtfertigende Kraft verloren. Die Durchsuchungsermächtigung bedürfe erneuter richterlicher Prüfung (BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1997 – 2 BvR 1992/92 -, BVerfGE 96, 44-56; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 06. Februar 2002 – 2 BvR 380/01 –, juris; vgl. auch LG Berlin, Beschluss vom 01. April 1999 – 511 Qs 105/98 –, juris).
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Diese verfassungsrechtlichen Überlegungen finden jedoch auf die Fälle eines erst geraume Zeit nach seinem Erlass vollstreckten Haftbefehls keine Anwendung. Die rechtlichen Voraussetzungen sind hier gänzlich anders gelagert.
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Während nach dem Erlass eines Durchsuchungsbefehls gem. §§ 102, 105 Abs. 1 StPO eine richterliche Kontrolle der ursprünglichen Anordnung nach längerem Zeitablauf im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen ist, sieht das Gesetz in § 115 Abs. 1 StPO eine ausdrückliche wie effektive Wahrung der grundgesetzlich geschützten Rechtsposition des Beschuldigten gerade vor. Durch die unverzügliche Vorführung des Beschuldigten vor den zuständigen Haftrichter ist gewährleistet, dass diesem – anders als bei der Vollstreckung eines vor geraumer Zeit erlassenen Durchsuchungsbefehls – die abschließende Entscheidungshoheit zur Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen zur Anordnung der Untersuchungshaft vorbehalten bleibt. Die Zugrundelegung der zuvor zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den vorliegenden Fall und die darauf fußende Annahme des Landgerichts, die Haftbefehle seien aufgrund Zeitablaufs außer Kraft, geht daher fehl.
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2.
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Die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 können gleichwohl keinen Bestand haben, da ein dringender Tatverdacht gegen die Beschuldigten nicht gegeben ist. Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 21. Mai 2015 war daher in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang abzuändern und die Haftbefehle zur Klarstellung aufzuheben.
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Dringender Tatverdacht besteht, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis in seiner Gesamtheit die hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat und deshalb verurteilt werden wird. Bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts muss der Richter in einer Prognosefeststellung zu dem Ergebnis gelangen, dass die Verurteilung des Täters wahrscheinlich ist. Nicht ausreichend ist, dass nur die Möglichkeit der Überführung und Verurteilung des Täters besteht (HK-StPO-Posthoff, 5. Aufl., § 112 Rdnr. 4 u. 5 m. w. N.). Der dringende Tatverdacht darf dabei nur aufgrund bestimmter Tatsachen bejaht werden. Vermutungen reichen nicht aus. Im Ermittlungsverfahren ist das sich aus der Gesamtheit der Vorgänge ergebende Ermittlungsergebnis die Grundlage des dringenden Tatverdachts (Meyer-Goßner/Schmitt, 57. Aufl. § 112 Rdnr. 7; HK-Posthoff, a. a. O. Rdnr. 7). Gemessen an diesen Anforderungen hat das Landgericht das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts zutreffend verneint.
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So lassen sich weder der in den Haftbefehlen angenommene Straftatbestand des Betruges noch der des Subventionsbetruges mit Tatsachen unmittelbar belegen. Die Sachverhaltsdarstellung im Haftbefehl erfüllt diesbezüglich bereits nicht die Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses des Landgerichts Bielefeld vom 21. Mai 2015 Bezug.
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Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 22. Juni 2015 zur näheren Begründung der weiteren (Haft-)Beschwerde insgesamt 12 Tatkomplexe zu Kreditvergaben näher aufgelistet hat, vermag auch dies eine andere Beurteilung derzeit nicht zu rechtfertigen.
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Die dort erfolgte Konkretisierung verschiedener neuer, den Beschuldigten zur Last gelegter Betrugsstraftaten in dem Zeitraum vom 14.07.2009 bis zum 17.08.2012 mit einem angenommenen Gesamtschaden von bis zu 82.150.635,- € (entsprechend den Insolvenzforderungen) kann im Beschwerdeverfahren – wenn überhaupt - nur berücksichtigt werden, wenn die Staatsanwaltschaft zuvor gem. § 125 Abs. 1 StPO den Erlass eines entsprechenden neuen bzw, abgeänderten Haftbefehls beantragt (HK-StPO-Posthoff, 5. Aufl., § 125 Rn. 6), der den Anforderungen des § 114 Absatz 2 StPO genügt und eine genaue Aufschlüsselung enthält, welche (Betrugs-) Taten welchem der beiden Beschuldigten im Einzelnen zur Last gelegt werden sollen. Dies ist trotz eines entsprechenden Hinweises durch Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 29.06.2015 bis heute nicht erfolgt.
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Hinzu kommt, dass allein anhand der dort aufgeführten Angaben für den Senat noch immer nicht überprüfbar ist, welche Bankmitarbeiter konkret mit welchen – ausdrücklichen oder konkludent abgegebenen – Erklärungen über die angeblich falschen Jahresabschlüsse getäuscht worden sein sollen. Ferner ist nicht ersichtlich, ob die Entscheidungsträger bei den jeweiligen Banken sich jeweils allein im Vertrauen auf die Richtigkeit der angeblich falschen Jahresabschlüsse zur Herausgabe von Krediten und zum Abschluss hierauf gerichteter Kreditvereinbarungen entschlossen haben. Auch zu den Verhandlungen im Zusammenhang mit den Subventionsvergaben finden sich nach wie vor keine näheren Angaben im Haftbefehl oder den Ermittlungsakten.
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Da die Haftbefehle bereits mangels dringenden Tatverdachts aufzuheben waren, bedurfte es keiner weiteren Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer etwaigen Fluchtgefahr.
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3.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 2 S. 1 StPO.