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  • 20.12.2022 · IWW-Abrufnummer 232928

    Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 08.12.2022 – C-694/20

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    8. Dezember 2022(*)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung ‒ Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen ‒ Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung ‒ Art. 8ab Abs. 5 ‒ Gültigkeit ‒ Anwaltliches Berufsgeheimnis ‒ Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt‑Intermediärs von der Meldepflicht ‒ Pflicht dieses Rechtsanwalt‑Intermediärs, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihm obliegenden Meldepflichten zu unterrichten ‒ Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

    In der Rechtssache C‑694/20

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2020, in dem Verfahren

    Orde van Vlaamse Balies,

    IG,

    Belgian Association of Tax Lawyers,

    CD,

    JU

    gegen

    Vlaamse Regering

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter F. Biltgen, N. Piçarra, I. Jarukaitis, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer (Berichterstatter),

    Generalanwalt: A. Rantos,

    Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    ‒        des Orde van Vlaamse Balies und IG, vertreten durch S. Eskenazi und P. Wouters, Advocaten,
    ‒        der Belgian Association of Tax Lawyers, CD und JU, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,
    ‒        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von M. Delanote, Advocaat,
    ‒        der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
    ‒        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères, E. de Moustier und É. Toutain als Bevollmächtigte,
    ‒        der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, I. Hūna und K. Pommere als Bevollmächtigte,
    ‒        des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Chatziioakeimidou, I. Gurov und S. Van Overmeire als Bevollmächtigte,
    ‒        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. April 2022

    folgendes

    Urteil

    1
    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16) im Hinblick auf die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2
    Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften), der Belgian Association of Tax Lawyers, einem Berufsverband von Rechtsanwälten, sowie von IG, CD und JU, drei Anwälten, auf der einen Seite und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit einiger Bestimmungen der flämischen Regelung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Richtlinie 2011/16

    3
    Die Richtlinie 2011/16 führt ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein und legt die Regeln und Verfahren fest, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.

    Richtlinie 2018/822

    4
    Die Richtlinie 2011/16 wurde mehrfach geändert, u. a. durch die Richtlinie 2018/822. Mit dieser Richtlinie wurde eine Meldepflicht in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen bei den zuständigen Behörden eingeführt. In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8, 9 und 18 der Richtlinie 2018/822 heißt es:

    „(2)      Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. … Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. …



    (4)      In Anerkennung der Tatsache, dass ein transparenter Rahmen für die Entwicklung unternehmerischer Tätigkeit zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt beitragen kann, wurde die [Europäische] Kommission ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des [Projekts der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in der Erklärung der G7 von Bari vom 13. Mai 2017 über die Bekämpfung von Steuerkriminalität und sonstigen illegalen Finanzströmen aufgefordert wurde, mit der Erörterung der Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gestaltungen zu beginnen, die dazu dienen, die Meldung im Rahmen des gemeinsamen Meldestandards zu umgehen, oder die darauf abzielen, wirtschaftlichen Eigentümern den Schutz durch nicht transparente Strukturen zu gewähren, auch unter Berücksichtigung von Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregelungen auf Grundlage des Ansatzes zu Vermeidungsgestaltungen, der im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts dargelegt ist.



    (6)      Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …



    (8)      Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.

    (9)      Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ,Kennzeichen‘ bezeichnet.



    (18)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“

    Die geänderte Richtlinie 2011/16

    5
    Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 bestimmt:

    „Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

    1.      ,zuständige Behörde‘ eines Mitgliedstaats die Behörde, die als solche von diesem Mitgliedstaat benannt worden ist. Ein zentrales Verbindungsbüro, eine Verbindungsstelle oder ein zuständiger Bediensteter, die gemäß dieser Richtlinie tätig werden, gelten bei Bevollmächtigung gemäß Artikel 4 ebenfalls als zuständige Behörde;



    18.      ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

    a)      Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig;

    b)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig;

    c)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt teilweise oder ganz die durch die Betriebsstätte ausgeübte Geschäftstätigkeit dar;

    d)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet eine Tätigkeit aus, ohne dort steuerlich ansässig zu sein oder eine Betriebsstätte zu begründen;

    e)      eine solche Gestaltung hat möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer.



    19.      ‚meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist;

    20.      ,Kennzeichen‘ ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet;

    21.      ,Intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet.

    Dieser Ausdruck bezeichnet auch jede Person, die ‒ unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind, ‒ weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat. Jede Person hat das Recht, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war. Die betreffende Person kann zu diesem Zweck alle relevanten Fakten und Umstände sowie verfügbaren Informationen und ihr einschlägiges Fachwissen und Verständnis geltend machen.

    Damit eine Person als Intermediär fungieren kann, muss sie mindestens eine der folgenden zusätzlichen Bedingungen erfüllen:

    a)      Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig;

    b)      sie hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestaltung erbracht werden;

    c)      sie ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;

    d)      sie ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen;

    22.      ‚relevanter Steuerpflichtiger‘ jede Person, der eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder die bereit ist, eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umzusetzen, oder die den ersten Schritt einer solchen Gestaltung umgesetzt hat;



    24.      ‚marktfähige Gestaltung‘ eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss;

    25.      ,maßgeschneiderte Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt.“

    6
    Art. 8ab („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 wurde durch Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 eingefügt und sieht vor:

    „(1)      Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend

    a)      an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder

    b)      an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder

    c)      wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,

    je nachdem, was früher eintritt.

    Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.

    (2)      Im Falle von marktfähigen Gestaltungen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Intermediär alle drei Monate einen regelmäßigen Bericht mit einer Aktualisierung vorlegt, der neue meldepflichtige Informationen gemäß Absatz 14 Buchstaben a, d, g und h enthält, die seit der Vorlage des letzten Berichts verfügbar geworden sind.



    (5)      Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.

    Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.

    (6)      Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.



    (9)      Für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt.

    Ein Intermediär ist nur soweit von der Vorlage der Informationen befreit, als er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen gemäß Absatz 14 bereits durch einen anderen Intermediär vorgelegt wurden.



    (13)      Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, in dem die Informationen gemäß den Absätzen 1 bis 12 vorgelegt wurden, übermittelt den zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten die in Absatz 14 aufgeführten Informationen …

    (14)      Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:

    a)      die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der Steueridentifikationsnummer sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;

    b)      Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;

    c)      eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der es allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;

    d)      das Datum, an dem der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde oder gemacht werden wird;

    e)      Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die die Grundlage der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung bilden;

    f)      den Wert der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung;

    g)      die Angabe des Mitgliedstaats des/der relevanten Steuerpflichtigen und aller anderen Mitgliedstaaten, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind;

    h)      Angaben zu allen anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind, einschließlich Angaben darüber, zu welchen Mitgliedstaaten sie in Beziehung stehen.

    …“

    Belgisches Recht

    7
    Mit dem Decreet betreffende de administratieve samenwerking op het gebied van belastingen (Dekret über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung) vom 21. Juni 2013 (Belgisch Staatsblad vom 26. Juni 2013, S. 40587, im Folgenden: Dekret vom 21. Juni 2013) wird die Richtlinie 2011/16 in der Flämischen Region (Belgien) umgesetzt.

    8
    Dieses Dekret wurde durch das Decreet tot wijziging van het decreet van 21 juni 2013, wat betreft de verplichte automatische uitwisseling van inlichtingen op belastinggebied met betrekking tot meldingsplichtige grensoverschrijdende constructies (Dekret zur Änderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen) vom 26. Juni 2020 (Belgisch Staatsblad vom 3. Juli 2020, S. 49170, im Folgenden: Dekret vom 26. Juni 2020) geändert, das die Richtlinie 2018/822 umsetzt.

    9
    Kapitel 2 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 des Dekrets vom 21. Juni 2013 regelt die Pflicht der Intermediäre und relevanten Steuerpflichtigen zur Übermittlung von Informationen über die meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen.

    10
    Art. 11/6 dieses Unterabschnitts, der durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020 in das Dekret vom 21. Juni 2013 eingefügt wurde, legt das Verhältnis zwischen der Meldepflicht und dem Berufsgeheimnis fest, das bestimmte Intermediäre zu beachten haben. Er setzt Art. 8ab Abs. 5 und 6 der geänderten Richtlinie 2011/16 um. § 1 dieses Art. 11/6 bestimmt:

    „Ist ein Intermediär durch das Berufsgeheimnis gebunden, hat er

    1°      einen anderen Intermediär oder andere Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten, dass er der Meldepflicht nicht nachkommen kann, so dass diese Meldepflicht automatisch dem anderen Intermediär oder den anderen Intermediären obliegt;

    2°      ‒ in Ermangelung eines anderen Intermediärs ‒ den oder die relevanten Steuerpflichtigen schriftlich und unter Angabe von Gründen über seine oder ihre Meldepflicht zu informieren.

    Die Befreiung von der Meldepflicht wird erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem ein Intermediär der Verpflichtung nach Abs. 1 nachgekommen ist.“

    11
    Art. 11/7 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 15 des Dekrets vom 26. Juni 2020, sieht vor:

    „… wenn der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung nach Art. 11/6 Abs. 1 informiert, obliegt die Verpflichtung zur Erteilung von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen Intermediär, der informiert wurde, oder in Ermangelung eines solchen dem relevanten Steuerpflichtigen.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    12
    Mit Klageschriften vom 31. August 2020 und vom 1. Oktober 2020 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aussetzung des Dekrets vom 26. Juni 2020 sowie auf seine vollständige oder teilweise Nichtigerklärung.

    13
    Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens u. a. die Verpflichtung beanstanden, die durch Art. 11/6 § 1 Abs. 1 des Dekrets vom 21. Juni 2013, der durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020 in dieses Dekret eingefügt wurde, dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt auferlegt wird und wonach dieser, wenn er an das Berufsgeheimnis gebunden ist, die anderen betroffenen Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten hat, dass er seiner Meldepflicht nicht nachkommen kann. Nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens ist es unmöglich, dieser Informationspflicht nachzukommen, ohne das Berufsgeheimnis zu verletzen, an das die Rechtsanwälte gebunden seien. Außerdem sei diese Informationspflicht nicht erforderlich, um die Meldung von grenzüberschreitenden Gestaltungen sicherzustellen, da der Mandant, im Beistand des Rechtsanwalts oder nicht, die anderen Intermediäre selbst unterrichten und von ihnen verlangen könne, ihrer Meldepflicht nachzukommen.

    14
    Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Informationen, die die Rechtsanwälte der zuständigen Behörde über ihre Mandanten zu übermitteln hätten, durch das Berufsgeheimnis geschützt seien, wenn sich diese Informationen auf Tätigkeiten bezögen, die zu ihrer besonderen Aufgabe der Verteidigung oder der Vertretung vor Gericht und der Rechtsberatung gehörten. Der bloße Umstand, dass man einen Rechtsanwalt hinzugezogen habe, falle unter den Schutz des Berufsgeheimnisses, und dies gelte erst recht für die Identität der Mandanten eines Rechtsanwalts. Die Informationen, die gegenüber Behörden durch das Berufsgeheimnis geschützt würden, seien auch gegenüber anderen Akteuren, wie anderen Intermediären, geschützt.

    15
    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach den Vorarbeiten zum Dekret vom 26. Juni 2020 die Verpflichtung eines Intermediärs, die anderen Intermediäre unter Angabe von Gründen darüber zu unterrichten, dass er dem Berufsgeheimnis unterliege und dass er daher der Meldepflicht nicht nachkommen werde, notwendig sei, um den Anforderungen der Richtlinie 2018/822 zu genügen und sicherzustellen, dass das Berufsgeheimnis die erforderlichen Meldungen nicht verhindere.

    16
    Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Klagen im Ausgangsverfahren somit die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie 2018/822 aufwerfen, soweit damit eine solche Verpflichtung eingeführt worden sei. Bevor über diese Klagen endgültig entschieden werden könne, müsse daher zuvor diese Frage geklärt werden.

    17
    Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) zum einen u. a. Art. 11/6 § 1 Abs. 1 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020, bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils über diese Klagen ausgesetzt, soweit diese Bestimmung dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt eine Informationspflicht gegenüber einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, auferlegt. Zum anderen hat dieses Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 47 der Charta garantiert ist, und das Recht auf Achtung des Privatlebens, wie es in Art. 7 der Charta garantiert ist, soweit der neue Art. 8ab Abs. 5, der in die Richtlinie 2011/16 eingefügt wurde, vorsieht, dass, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um Intermediäre von der Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zu befreien, wenn die Meldepflicht gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat gehalten ist, die Intermediäre zu verpflichten, jeden anderen Intermediär oder, falls es keinen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über seine Meldepflichten zu unterrichten, sofern diese Verpflichtung dazu führt, dass ein Rechtsanwalt, der als Intermediär auftritt, verpflichtet ist, Informationen, die er im Rahmen der Ausübung wesentlicher Tätigkeiten seines Berufs, nämlich der Verteidigung oder Vertretung des Mandanten vor Gericht und der Rechtsberatung, auch außerhalb eines Rechtsstreits erfährt, einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, mitzuteilen?

    Zur Vorlagefrage

    18
    Vorab ist festzustellen, dass sich die Vorlagefrage zwar auf die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Pflicht zur Unterrichtung bezieht, und zwar sowohl gegenüber den Intermediären als auch bei Fehlen eines Intermediärs gegenüber dem relevanten Steuerpflichtigen, doch ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen insgesamt, dass sich das vorlegende Gericht in Wirklichkeit nur fragt, ob diese Verpflichtung gültig ist, sofern diese Unterrichtung durch einen Rechtsanwalt, der im Sinne von Art. 3 Abs. 21 dieser Richtlinie als Intermediär auftritt (im Folgenden: Rechtsanwalt‑Intermediär), an einen anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, zu erfolgen hat.

    19
    Wenn nämlich die Unterrichtung nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 durch den Rechtsanwalt‑Intermediär an seinen Mandanten erfolgt, unabhängig davon, ob es sich bei diesem um einen anderen Intermediär oder um den relevanten Steuerpflichtigen handelt, kann diese Unterrichtung die Wahrung der durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte und Freiheiten nicht in Frage stellen, und zwar zum einen, weil der Rechtsanwalt‑Intermediär seinem Mandanten gegenüber keiner beruflichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt, und zum anderen, weil die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt‑Intermediär und diesem Mandanten dem entgegensteht, dass von dem Mandanten verlangt werden kann, dass er Dritten und insbesondere der Steuerverwaltung gegenüber offenlegt, dass er einen Rechtsanwalt konsultiert hat.

    20
    Aus der Vorlageentscheidung geht somit hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Art. 7 und 47 der Charta gültig ist, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.

    21
    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen. Die Meldepflicht nach dieser Bestimmung gilt für alle meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen und somit sowohl für die in Art. 3 Nr. 25 der geänderten Richtlinie 2011/16 definierten maßgeschneiderten Gestaltungen als auch für die in Art. 3 Nr. 24 definierten marktfähigen Gestaltungen.

    22
    Es ist festzustellen, dass Rechtsanwälte bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten „Intermediäre“ im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der geänderten Richtlinie 2011/16 sein können, weil sie selbst Konzeptions‑, Vermarktungs‑, Organisations- und Bereitstellungstätigkeiten zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung von meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen erbringen können oder falls dies nicht der Fall ist, aufgrund der Tatsache, dass sie bei solchen Tätigkeiten Unterstützung, Hilfe oder Beratung bieten können. Die Rechtsanwälte, die solche Tätigkeiten ausüben, unterliegen somit grundsätzlich der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie.

    23
    Nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 kann jedoch jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären, insbesondere Rechtsanwalt‑Intermediären, eine Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Abs. 6 dieses Artikels zu unterrichten. Dieser Abs. 6 sieht vor, dass in einem solchen Fall die Meldepflicht in die Verantwortung des anderen Intermediärs, der unterrichtet wurde, oder, falls es keinen anderen Intermediär gibt, in diejenige des relevanten Steuerpflichtigen fällt.

    24
    Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 Intermediären eine Befreiung nach Unterabs. 1 dieses Abs. 5 nur insoweit gewährt werden kann, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben, was gegebenenfalls von den nationalen Gerichten im Rahmen der Anwendung dieser Rechtsvorschriften zu prüfen ist. Demnach ist die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie nur im Verhältnis zu Rechtsanwalt‑Intermediären, die tatsächlich im Rahmen solcher Grenzen tätig werden, im Hinblick auf Art. 7 und Art. 47 der Charta zu prüfen.

    25
    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt, Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht, während Art. 47, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht garantiert, Art. 6 Abs. 1 der EMRK entspricht.

    26
    Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs berührt wird, muss der Gerichtshof daher bei seiner Auslegung der durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK in deren Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 36 und 37).

    27
    Zur Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt, und weist dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zu (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 117 und 118). Ebenso wie diese Bestimmung, deren Schutz nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung umfasst, garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Geheimnis dieser Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Wie der EGMR ausgeführt hat, können nämlich Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt (Urteil des EGMR vom 9. April 2019, Altay/Türkei [Nr. 2], CE:ECHR:2019:0409JUD001123609, § 49). Abgesehen von Ausnahmefällen müssen diese Personen daher mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren.

    28
    Der besondere Schutz, den Art. 7 der Charta und Art. 8 Abs. 1 EMRK dem anwaltlichen Berufsgeheimnis gewähren, der vor allem in Pflichten besteht, die ihnen obliegen, wird dadurch gerechtfertigt, dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen (vgl. EGMR, Urteil vom 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 118 und 119). Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das Erfordernis, dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 18).

    29
    Die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Pflicht eines Rechtsanwalt‑Intermediärs, der aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er nach nationalem Recht unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist, die anderen Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, hat aber zwangsläufig die Folge, dass diese anderen Intermediäre von der Identität des unterrichtenden Rechtsanwalt‑Intermediärs, von dessen Einschätzung, dass die in Rede stehende Gestaltung meldepflichtig ist, und von der Tatsache, dass er zu diesem Thema konsultiert wird, Kenntnis erlangen.

    30
    Unter diesen Umständen und da diese anderen Intermediäre nicht unbedingt Kenntnis von der Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs und der Tatsache haben, dass er in Bezug auf die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konsultiert wurde, führt die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht zu einem Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant.

    31
    Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass diese Unterrichtungspflicht mittelbar einen weiteren Eingriff in dieses Recht bewirkt, der sich daraus ergibt, dass die so unterrichteten Drittintermediäre der Steuerverwaltung die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs offenlegen.

    32
    Aus Art. 8ab Abs. 1, 9, 13 und 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 geht nämlich hervor, dass die Identifizierung der Intermediäre zu den Informationen gehört, die bei der Erfüllung der Meldepflicht vorzulegen sind, wobei diese Identifizierung Gegenstand eines Informationsaustauschs zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ist. Folglich müssen im Fall einer Unterrichtung nach Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie die unterrichteten Drittintermediäre, die auf diese Weise über die Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs und über seine Konsultierung in Bezug auf die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung informiert wurden und selbst nicht dem Berufsgeheimnis unterliegen, die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten zuständigen Behörden nicht nur über das Bestehen der grenzüberschreitenden Gestaltung und über die Identität des oder der betreffenden Steuerpflichtigen, sondern auch über die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs informieren.

    33
    Folglich ist zu prüfen, ob diese Eingriffe in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant gerechtfertigt sein können.

    34
    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 7 der Charta verankerten Rechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssen. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 63 und 64).

    35
    Was erstens das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte angeht, bedeutet dieses, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36
    Insoweit ist festzustellen, dass zum einen Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 für den Rechtsanwalt‑Intermediär, der wegen einer Verschwiegenheitspflicht, an die er gebunden ist, von der Meldepflicht befreit ist, ausdrücklich die Verpflichtung vorsieht, die anderen Intermediäre über die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegenden Meldepflichten zu unterrichten. Zum anderen ist, wie in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, der Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant die unmittelbare Folge einer solchen Unterrichtung durch den Rechtsanwalt an einen anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, insbesondere wenn dieser bis zum Zeitpunkt dieser Unterrichtung keine Kenntnis von der Identität dieses Rechtsanwalts und seiner Konsultierung in Bezug auf die meldepflichtige grenzübergreifende Gestaltung hatte.

    37
    Was ferner den Eingriff betrifft, der sich mittelbar aus dieser Unterrichtungspflicht ergibt, weil die unterrichteten Drittintermediäre die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs gegenüber der Steuerverwaltung offenlegen, ist dieser, wie in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, auf den Umfang der sich aus Art. 8ab Abs. 1, 9, 13 und 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 ergebenden Informationspflichten zurückzuführen.

    38
    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit Genüge getan wurde.

    39
    Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant betrifft, ist festzustellen, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht nur in beschränktem Maße dazu führt, dass die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen dem Rechtsanwalt‑Intermediär und seinem Mandanten gegenüber einem Drittintermediär und der Steuerverwaltung aufgehoben wird. Insbesondere sieht diese Bestimmung weder die Verpflichtung noch auch nur die Erlaubnis für den Rechtsanwalt‑Intermediär vor, ohne Zustimmung seines Mandanten Informationen über den Inhalt dieser Kommunikation mit anderen Intermediären zu teilen, und diese werden daher nicht in der Lage sein, solche Informationen der Steuerverwaltung zu übermitteln.

    40
    Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht den Wesensgehalt des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant beeinträchtigt.

    41
    Was drittens die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeht, so verlangt dieser Grundsatz, dass die Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an den in der Charta niedergelegten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Insbesondere ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteile vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 65, sowie vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers und Sovim, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64).

    42
    Daher ist zunächst zu prüfen, ob die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung verfolgt. Wenn ja, ist erstens sicherzustellen, dass sie geeignet ist, diese Zielsetzung zu erreichen, zweitens, dass der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, der sich aus dieser Unterrichtungspflicht ergeben kann, in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt ist, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die dieses Recht weniger beeinträchtigen, und drittens, sofern dies tatsächlich der Fall ist, dass dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere dieses Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers und Sovim, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66).

    43
    Wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fügt sich die durch die Richtlinie 2018/822 vorgenommene Änderung der Richtlinie 2011/16 in den Rahmen einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ein, die sich in einem Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Insoweit geht u. a. aus den Erwägungsgründen 2, 4, 8 und 9 der Richtlinie 2018/822 hervor, dass die Melde- und Unterrichtungspflichten nach Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 dazu beitragen sollen, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern.

    44
    Die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 87).

    45
    Zu der Frage, ob die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich ist, tragen die französische und die lettische Regierung im Wesentlichen vor, dass eine solche Unterrichtung es u. a. ermögliche, die anderen Intermediäre für ihre Pflicht zu sensibilisieren, der Meldepflicht nachzukommen und so zu verhindern, dass diese anderen Intermediäre nicht darüber informiert seien, dass die Verpflichtung zur Meldung der grenzüberschreitenden Gestaltung nach Art. 8ab Abs. 6 der geänderten Richtlinie 2011/16 auf sie übertragen worden sei. In Ermangelung einer Unterrichtungspflicht seitens des Rechtsanwalt‑Intermediärs bestünde nach Ansicht dieser Regierungen die Gefahr, dass eine grenzüberschreitende Gestaltung unter Missachtung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele überhaupt nicht gemeldet werde.

    46
    Selbst wenn die Unterrichtungspflicht nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 tatsächlich geeignet wäre, zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug beizutragen, kann sie jedoch für die Erreichung dieser Ziele und insbesondere, um sicherzustellen, dass die Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen den zuständigen Behörden übermittelt werden, nicht als unbedingt erforderlich angesehen werden.

    47
    Erstens sind nämlich die Meldepflichten der Intermediäre in der geänderten Richtlinie 2011/16, insbesondere in ihrem Art. 8ab Abs. 1, klar aufgeführt. Nach dieser Bestimmung sind alle Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden grundsätzlich verpflichtet. Außerdem ergreift nach Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 1 dieser Richtlinie jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt. Kein Intermediär kann daher mit Erfolg geltend machen, dass er die Meldepflichten, denen er allein aufgrund seiner Eigenschaft als Intermediär unmittelbar und individuell unterliegt, nicht gekannt habe.

    48
    Zweitens ist zum Vorbringen der lettischen Regierung, die Unterrichtungspflicht verringere das Risiko, dass sich die anderen Intermediäre darauf verließen, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär den zuständigen Behörden die erforderlichen Informationen melden werde, und dass sie aus diesem Grund davon absehen würden, selbst eine Meldung durchzuführen, zum einen festzustellen, dass, da die Konsultierung eines Rechtsanwalts dem Berufsgeheimnis unterliegt, die anderen Intermediäre, wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht unbedingt Kenntnis von der Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs haben und auch nicht davon, dass er zu einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung konsultiert wurde, was in einem solchen Fall ein solches Risiko von vornherein ausschließt.

    49
    Zum anderen ist, selbst wenn die anderen Intermediäre eine solche Kenntnis haben, nicht zu befürchten, dass sie sich ohne Nachprüfung darauf verlassen, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär die erforderliche Meldung durchführt, da Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 klarstellt, dass ein Intermediär nur dann von der Verpflichtung zur Vorlage von Informationen befreit ist, wenn er nachweisen kann, dass diese Informationen bereits von einem anderen Intermediär vorgelegt wurden. Außerdem macht die geänderte Richtlinie 2011/16, indem sie in ihrem Art. 8ab Abs. 5 ausdrücklich vorsieht, dass die Verschwiegenheitspflicht zu einer Befreiung von der Meldepflicht führen kann, den Rechtsanwalt‑Intermediär zu einer Person, von der andere Intermediäre a priori keine Initiative erwarten können, die sie von ihren eigenen Meldepflichten entbinden könnte.

    50
    Drittens ist darauf hinzuweisen, dass jeder Intermediär, der wegen einer Verschwiegenheitspflicht, der er nach nationalem Recht unterliegt, von der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 befreit ist, gleichwohl verpflichtet bleibt, seinen Mandanten unverzüglich über die ihm nach Abs. 6 dieses Artikels obliegenden Meldepflichten zu unterrichten.

    51
    Viertens erscheint auch die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung durch die unterrichteten Drittintermediäre nicht unbedingt erforderlich, um die Ziele der geänderten Richtlinie 2011/16, die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung der Steuerhinterziehung und des Steuerbetrugs, zu verfolgen.

    52
    Zum einen nämlich wird durch die Meldepflicht der anderen nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Intermediäre und in Ermangelung solcher Intermediäre durch die dem relevanten Steuerpflichtigen obliegende Meldepflicht grundsätzlich gewährleistet, dass die Steuerverwaltung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen informiert wird. Außerdem kann die Steuerverwaltung, nachdem sie eine solche Information erhalten hat, bei Bedarf ergänzende Informationen zu der fraglichen Gestaltung unmittelbar vom relevanten Steuerpflichtigen verlangen, der sich dann für Beistand an seinen Rechtsanwalt wenden kann, oder eine Überprüfung der steuerlichen Situation dieses Steuerpflichtigen durchführen.

    53
    Zum anderen ermöglicht es die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung in Anbetracht der in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Befreiung von der Meldepflicht jedenfalls nicht, dass die Steuerverwaltung von dem Rechtsanwalt‑Intermediär ohne die Zustimmung seines Mandanten Auskünfte verlangt.

    54
    In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat die Kommission jedoch im Wesentlichen vorgetragen, dass diese Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs notwendig sei, damit die Steuerverwaltung prüfen könne, ob sich der Rechtsanwalt‑Intermediär zu Recht auf die Verschwiegenheitspflicht berufe.

    55
    Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

    56
    Wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sieht Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 zwar vor, dass Rechtsanwalt‑Intermediäre eine Befreiung nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 1 dieser Richtlinie nur insoweit in Anspruch nehmen können, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben. Das Ziel der in Art. 8ab dieser Richtlinie vorgesehenen Melde- und Unterrichtungspflichten besteht jedoch nicht darin, zu kontrollieren, ob die Rechtsanwalt‑Intermediäre innerhalb dieser Grenzen tätig werden, sondern darin, potenziell aggressive Steuerpraktiken zu bekämpfen und Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern, indem sichergestellt wird, dass die Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen den zuständigen Behörden vorgelegt werden.

    57
    Wie sich aus den Rn. 47 bis 53 des vorliegenden Urteils ergibt, stellt diese Richtlinie eine solche Information der Steuerverwaltung sicher, ohne dass es hierfür erforderlich wäre, ihr die Identität und Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs offenzulegen.

    58
    Unter diesen Umständen kann die Möglichkeit, dass sich Rechtsanwalt‑Intermediäre zu Unrecht auf die Verschwiegenheitspflicht berufen, um sich ihrer Meldepflicht zu entziehen, es nicht erlauben, die in Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie vorgesehene Unterrichtungspflicht und die damit einhergehende Offenlegung der Identität und der Konsultierung des unterrichtenden Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung als unbedingt erforderlich anzusehen.

    59
    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 dadurch gegen das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant verstößt, dass er im Wesentlichen vorsieht, dass der der Verschwiegenheitspflicht unterliegende Rechtsanwalt‑Intermediär verpflichtet ist, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihnen obliegenden Meldepflichten zu unterrichten.

    60
    Was die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 47 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das in der letztgenannten Bestimmung garantierte Recht auf ein faires Verfahren aus verschiedenen Elementen besteht. Es umfasst u. a. die Verteidigungsrechte, den Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten und das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen. Wäre ein Rechtsanwalt im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder im Rahmen von dessen Vorbereitung verpflichtet, mit den öffentlichen Stellen zusammenzuarbeiten und ihnen Informationen zu übermitteln, die er anlässlich einer Rechtsberatung erlangt hat, die im Rahmen eines solchen Verfahrens stattfand, könnte er seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten nicht in angemessener Weise gerecht werden, so dass dem Mandanten die ihm durch Art. 47 der Charta gewährten Rechte genommen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 31 und 32).

    61
    Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Anforderungen, die aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgen, definitionsgemäß einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren voraussetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 35).

    62
    Ein solcher Bezug ist im vorliegenden Fall jedoch nicht nachgewiesen worden.

    63
    Aus Art. 8ab Abs. 1 und 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 und insbesondere aus den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Fristen ergibt sich nämlich, dass die Unterrichtungspflicht in einem frühen Stadium entsteht, spätestens dann, wenn die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung fertiggestellt wurde und umsetzungsbereit ist, also außerhalb des Rahmens eines Gerichtsverfahrens oder seiner Vorbereitung.

    64
    Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, handelt der Rechtsanwalt‑Intermediär in diesem frühen Stadium nicht als Verteidiger seines Mandanten in einem Rechtsstreit, und der bloße Umstand, dass die Ratschläge des Rechtsanwalts oder die grenzüberschreitende Gestaltung, die Gegenstand seiner Konsultation ist, in einem späteren Stadium zu einem Rechtsstreit führen können, bedeutet nicht, dass das Tätigwerden des Rechtsanwalts im Rahmen oder im Interesse des Rechts auf Verteidigung seines Mandanten erfolgt.

    65
    Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Unterrichtungspflicht, die für den unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Rechtsanwalt‑Intermediär an die Stelle der in Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Meldepflicht tritt, keinen Eingriff in das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf ein faires Verfahren mit sich bringt.

    66
    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta ungültig ist, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.

    Kosten

    67
    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

    Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ungültig, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie in geänderter Fassung handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie in geänderter Fassung obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.