02.03.2001 · IWW-Abrufnummer 010334
Bundesfinanzhof: Urteil vom 13.12.2000 – X R 96/98
BUNDESFINANZHOF
Der Lauf der Zinsen gemäß § 233a AO 1977 endet mit Ablauf des dritten Tages nach Aufgabe des Steuerbescheids zur Post (Bekanntgabe des Verwaltungsakts i.S. des § 122 Abs. 2 AO 1977), auch wenn der Steuerbescheid dem Inhaltsadressaten tatsächlich früher zugeht.
AO 1977 § 233a Abs. 2 Satz 3, § 124 Abs. 1 Satz 1, § 122 Abs. 2 Nr. 1
Urteil vom 13. Dezember 2000 - X R 96/98 -
Vorinstanz: FG Düsseldorf (EFG 1998, 1561)
Gründe
I.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden in den Streitjahren zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Nach einer Betriebsprüfung erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) Einkommensteuer-Änderungsbescheide und Zinsbescheide gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) für die Jahre 1990 bis 1992. Die Bescheide tragen das Datum vom 28. März 1995 und wurden am selben Tag vom Rechenzentrum aus versandt. Sie gingen den Klägern am folgenden Tag zu. Bei der Zinsfestsetzung legte das FA die auf 100 DM abgerundeten Nachzahlungsbeträge zur Einkommensteuer zugrunde. Der Zinslauf begann nach der Berechnung des FA jeweils am 1. April des dem Jahr der Entstehung der Einkommensteuer folgenden übernächsten Jahres und endete mit Ablauf des 31. März 1995.
Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 1561 veröffentlichtem Urteil stattgegeben.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 233a AO 1977.
Das FA beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II.
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Entgegen der Ansicht des FG ist das Ende des Zinslaufs der Vollverzinsung (§ 233a AO 1977) unter Anwendung des § 122 Abs. 2 AO 1977 zu bestimmen. Auf den tatsächlich früheren Zugang der Einkommensteuerbescheide kommt es nicht an.
Gemäß § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 endet der Zinslauf mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird, also mit Ablauf des Tages der Bekanntgabe des Bescheids (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Die Bekanntgabe richtet sich nach den Bestimmungen des § 122 AO 1977. Ein Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt gemäß der Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Rz. 26), es sei denn, der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Ist der Steuerbescheid --wie im Streitfall-- nachweislich zu einem früheren Zeitpunkt zugegangen, endet der Zinslauf gleichwohl nicht früher (gleicher Ansicht Ruban in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Rz. 34; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, § 233a Rz. 16, und Hundt-Eßwein in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 233a AO 1977 Rz. 26).
Im Streitfall sind die Steuer- und die Zinsfestsetzungen den Klägern unstreitig vor Ablauf der Drei-Tages-Frist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zugegangen. Dieser frühere tatsächliche Zugang führt aber nicht zu einer früheren Wirksamkeit des Steuerbescheids i.S. von § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Die Bekanntgabe wird im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf der Frist fingiert. Die Existenz und die Wirksamkeit des Verwaltungsakts tritt nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 erst mit Ablauf der Drei-Tages-Frist ein (so auch Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 41 Rz. 64).
Entgegen der Auffassung des FG ist der Begriff der Bekanntgabe im Sinne dieser Vorschrift identisch mit dem Begriff der Bekanntgabe in § 122 AO 1977. Mit der Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 wollte der Gesetzgeber --zugunsten wie zuungunsten des Adressaten-- generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen. Hinsichtlich der Berechnung der Zinsen gemäß § 233a AO 1977 kommt ihr zusätzlich eine Vereinfachungsfunktion zu. Da der Zinslauf nicht früher endet, wenn dem Steuerpflichtigen der Steuerbescheid nachweislich vor dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post zugegangen ist, kann von der Verwaltung vorab und in Verbindung mit der Steuerfestsetzung (§ 233a Abs. 4 AO 1977) der Zeitpunkt der Aufgabe des Steuerbescheids festgelegt und dieser der Berechnung der Zinsen in Nachforderungs-, aber auch in Erstattungsfällen zugrunde gelegt werden (Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O.).
Entgegen der Rechtsauffassung des FG kann nicht abweichend von § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auf den tatsächlich früheren Zugang entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zurückgegriffen werden.
Die Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 hat nicht ausschließlich verfahrensrechtliche Bedeutung. Sie ist auch zu beachten, wenn --wie hier-- an den Zeitpunkt der Bekanntgabe materiell-rechtliche Folgen --wie z.B. für die Fälligkeit des Steuer- oder Erstattungsanspruchs in § 220 Abs. 2 AO 1977, § 36 Abs. 4 Sätze 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG)-- geknüpft sind (Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O.). Angesichts der Stellung des § 122 AO 1977 im Dritten Teil des Gesetzes "Allgemeine Verfahrensvorschriften", Zweiter Abschnitt "Verwaltungsakte" beansprucht die Norm allgemeine Gültigkeit. Soll bei Anwendung einer Vorschrift, welche die "Bekanntgabe" als Tatbestandsmerkmal enthält, § 122 AO 1977 nicht gelten, müssen besondere Gründe vorliegen. Hinsichtlich der Wirksamkeit von Steuerverwaltungsakten sind solche nicht ersichtlich. Vielmehr kommt gerade hier der Regelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 ganz erhebliche praktische Bedeutung zu, da Streitigkeiten über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs verhindert werden. Der Vorschrift ist somit eine beachtliche Entlastungsfunktion beizumessen, die sich sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen auswirken kann. Dafür, dass § 124 AO 1977 an die Bekanntgabe der Verwaltungsakte i.S. von § 122 AO 1977 anknüpft, spricht auch die Stellung der beiden Vorschriften zueinander. Allein aus dem Wortlaut des § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ("bekanntgegeben wird" anstelle "Bekanntgabe") die Rechtsauffassung abzuleiten, dass Steuerbescheide bzw. Verwaltungsakte generell mit dem tatsächlichen Zugang wirksam werden und § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 nicht gelte, wird dem Vereinfachungszweck der Zugangsfiktion nicht gerecht.
Im Übrigen knüpfte die bis zum 31. Dezember 1993 geltende Regelung des Zinslaufs an die Fälligkeit der Nachforderung bzw. Erstattung an, die von der Bekanntgabe des Steuerbescheids gemäß § 122 AO 1977 abhing. Mit der Neufassung des § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 sollte sich hieran nichts ändern (vgl. Amtliche Begründung BTDrucks 12/5630, S. 102).