15.12.2015 · IWW-Abrufnummer 146025
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 09.12.2014 – 4 K 181/13
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
FG Baden-Württemberg, 09.12.2014 - 4 K 181/13
In dem Finanzrechtsstreit
XXX
gegen
XXX
wegen Prüfungsanordnung vom 16.10.2012 hinsichtlich Umsatzsteuer 2001 bis 2004
hat der 4. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 2014 durch
Vorsitzenden Richter am Finanzgericht
Richter am Finanzgericht
Richterin am Finanzgericht
Ehrenamtliche Richterin
Ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
1)
Die Klage wird abgewiesen.
2)
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3)
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Prüfungsanordnung (PA) des Beklagten (Bekl) vom 16. Oktober 2012 wirksam und rechtmäßig ist.
Die Klägerin (Klin) betreibt ein Unternehmen des W mit Sitz in X. Der Betrieb ist als Großbetrieb im Sinne des (i.S.d.) § 3 der Betriebsprüfungsordnung (BpO) eingestuft.
Ihre Umsatzsteuer(USt)-Anmeldungen für die Jahre 2001 bis 2004 reichte die Klin wie folgt beim Finanzamt X ein:
2001: am 2. Juli 2002
2002: am 16. September 2003
2003: am 10. März 2005
2004: am 9. Januar 2006.
Im Jahr 2010 führte der Bekl bei der Klin eine Außenprüfung (AP) u.a. wegen USt 2001 bis 2004 durch. Der Prüfungsbericht wurde am 4. Oktober 2010 erstellt. Am 25. November 2010 erließ der Bekl geänderte USt-Bescheide für die Jahre 2001 bis 2004. Die geänderten USt-Bescheide für die Jahre 2001 bis 2003 wurden bestandskräftig. Der geänderte USt-Bescheid für 2004 wurde mit Einspruch angefochten. Über den Einspruch ist noch nicht entschieden.
Im Laufe der danach durchgeführten AP wegen USt 2005 bis 2008 reichte die Klin am 3. Mai 2012 korrigierte USt-Erklärungen für die Jahre 2005 bis 2008 beim Finanzamt X ein. Mit Schreiben gleichen Datums führte sie aus, den korrigierten USt-Erklärungen liege folgender Sachverhalt zugrunde:
"Im Zeitraum von 2005 bis 2008 wurden in einzelnen Vertriebszentren der A GmbH & Co KG ("A") W an V verkauft und wieder zurückgekauft, ohne dass diesen Geschäften nachweislich Warenbewegungen zugrunde lagen bzw. entsprechende Lagerbestände ausgesondert wurden (sog. Sondergeschäfte). Dabei übermittelte A dem V eine Rechnung über veräußerte Produkte, in der die USt gesondert ausgewiesen war. Im Gegenzug übermittelte der V eine Rechnung über "rückveräußerte" Produkte, in der ebenfalls die USt gesondert ausgewiesen war. Aus den Abrechnungen der V machte A den Vorsteuerabzug geltend. Aus ihren eigenen Rechnungen führte die A die USt ab.
Die V stellten der A Umsätze in Höhe von (i.H.v.) insgesamt EUR xxx zzgl. USt i.H.v. EUR xxx für entsprechende Sondergeschäfte in Rechnung. Eine Übersicht über die Umsatzvolumina der einzelnen Jahre ist als Anlage 1 beigefügt.
Wir gehen vorsorglich davon aus, dass die A nicht berechtigt war, aus den Rechnungen der V die Vorsteuer zu ziehen. Die entsprechend korrigierten USt-Jahreserklärungen für die Besteuerungszeiträume 2005 bis 2008 sind diesem Schreiben als Anlagen 2 bis 5 beigefügt. Die zu Unrecht geltend gemachte erhaltene Vorsteuer i.H.v. EUR xxx werden wir unverzüglich zugunsten der Finanzkasse anweisen.
Bitte beachten Sie, dass diese Erklärung für das Unternehmen und im Namen der Personen erfolgt, die in den betroffenen Besteuerungszeiträumen mit der Erfüllung steuerlicher Pflichten betraut waren. (...)".
Am 1. Juni 2012 leitete die Straf- und Bußgeldsachenstelle (Strabu) des Finanzamts X - I gegen den Vorsitzenden der Geschäftsführung der Klin, G G, den Geschäftsführer der Klin, E E und den Leiter der Steuerabteilung der Klin, F F, Ermittlungsverfahren u.a. wegen des Verdachts der Hinterziehung von USt für die Jahre 2001 bis 2004 ein. Wegen der Einzelheiten wird auf die Schreiben der StraBu an die genannten Beschuldigten vom 26. Juni 2012 (Bl. 34 bis 39 der Finanzgerichts-FG-Akten) Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 23. Juli 2012 teilte die Klin dem Finanzamt X das Folgende mit:
"Wie Sie wissen, wurden im Zeitraum von 2005 bis 2008 in einzelnen Vertriebszentren der A W an V verkauft und wieder zurückgekauft, ohne dass diesen Geschäften nachweislich Warenbewegungen zugrunde lagen bzw. entsprechende Lagerbestände ausgesondert wurden (sog. Sondergeschäfte). Die USt-Jahreserklärungen für 2005 bis 2008 haben wir mit Schreiben vom 3.5.2012 korrigiert und die zu Unrecht geltend gemachte erhaltene Vorsteuer i.H.v. EUR xxx zurückbezahlt.
Im Zuge der weitergehenden internen Untersuchungen haben wir nun einen anderen Sachverhalt identifiziert, der nicht mit den korrigierten Geschäften übereinstimmt, der allerdings umsatzsteuerlich als kritisch zu würdigen ist, weshalb wir vorsorglich unserer Berichtigungspflicht nach § 153 AO nachkommen.
Hierbei handelt es sich um Verkäufe an die V - B, Y, durch das Vertriebszentrum (VZ) Z und eine spätere Rückveräußerung an das VZ R. Auch wenn man vor dem Hintergrund einer Warenbewegung gegebenenfalls vom Übergang der Verfügungsmacht ausgehen kann, so bewerten wir diese Geschäfte nicht als umsatzsteuerliche Lieferungen und korrigieren deshalb die beigefügten USt-Erklärungen 2008 bis 2010. Ausweislich der Erklärungen ergeben sich die folgenden Vorsteuerkürzungen (in EUR):
Veranlagungszeitraum Umsätze (netto) Vorsteuer
2008 xxx xxx
2009 xxx xxx
2010 xxx xxx
In der Anlage erhalten Sie unsere korrigierten USt-Jahreserklärungen für die Besteuerungszeiträume 2008 bis 2010 (einschließlich). (...)".
Mit Schreiben vom 24. Juli 2012 an das Finanzamt X teilte die Klin das Folgende mit:
"Das Finanzamt X - I - Strabu - äußert in den Einleitungsverfügungen vom 26.06.2012 u.a. den Verdacht, die ursprünglich eingereichten USt-Erklärungen für die Jahre 2001 bis 2004 seien unrichtig gewesen und daher habe eine Verpflichtung zur Berichtigung nach § 153 AO auch für die Jahre 2001 bis 2004 bestanden. Wir teilen diese Ansicht nicht. Aufgrund der abgelaufenen Festsetzungsfrist für die Veranlagungszeiträume 2001 bis 2004 konnte im Rahmen der Berichtigungserklärungen für 2005 bis 2008 vom 03.05.2012 keine Berichtigung für 2001 bis 2004 erfolgen.
Wir können allerdings derzeit auch nicht ausschließen, dass im Zeitraum 2001 bis 2004 in einzelnen Vertriebszentren der A GmbH & Co. KG Sachverhalte vorliegen, die nach Ansicht der Finanzbehörden zur Korrektur der USt-Erklärungen für diese Jahre verpflichten könnten.
Rein vorsorglich aufgrund der den Einleitungsverfügungen vom 26.06.2012 zu Grunde liegenden Annahmen der Finanzbehörden nehmen wir hiermit eine Berichtigung gem. § 153 AO vor. Falls die o.g. Geschäfte im Zeitraum 2001 bis 2004 vorliegen, müssten die Beträge der objektiv verkürzten Umsatzsteuern noch ermittelt werden. Wir regen an, etwaige Beträge in Abstimmung mit dem Finanzamt B im Rahmen der laufenden Prüfung durch die Betriebsprüfer U und L gemeinsam zu ermitteln.
Ein Anerkenntnis etwaiger von den Finanzbehörden geäußerten Rechtsauffassungen ist hiermit nicht verbunden. (...)".
Mit Schreiben vom 10. September 2012 richtete das Finanzamt X im Hinblick auf die von der Klin eingereichten korrigierten USt-Erklärungen für die Jahre 2005 bis 2008 sowie im Hinblick auf die Ausführungen der Klin in ihrem Schreiben vom 24. Juli 2012 ein Prüfungsersuchen bezüglich der USt 2001 bis 2004 an den Bekl.
Mit PA vom 16. Oktober 2012 ordnete der Bekl daraufhin die Durchführung einer AP bezüglich der USt für die Jahre 2001 bis 2004 an. In der PA führte er aus, zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen bei der Klin sei auf Grund des § 193 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) in Verbindung mit (i.V.m.) den §§ 194 bis 196 AO eine AP durchzuführen. Bei dieser Prüfung seien die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und für die Bemessung der Steuer maßgebend seien, zu ermitteln. Die PA erfolge aufgrund des Prüfungsersuchens der Veranlagungsstelle des Finanzamts X vom 10. September 2012 hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Sachverhalte (Sondergeschäfte), welche zu korrigierten USt-Erklärungen durch das Unternehmen für die Jahre 2005 bis 2008 geführt hätten (vgl. Schreiben A vom 3. Mai 2012 sowie vom 24. Juli 2012). (...).
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 16. November 2012 legte die Klin Einspruch ein und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der PA. Zur Begründung ließ sie ausführen, die Anordnung einer AP bezüglich der USt der Jahre 2001 bis 2004 sei nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 169 Abs. 2 AO erf üllt seien. Danach betrage die Festsetzungsfrist 10 Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen sei, d.h. soweit die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO erfüllt seien. Die Feststellungslast hierfür liege zweifelsfrei bei der Finanzverwaltung. Die angefochtene PA vom 16. Oktober 2012 enthalte keine Begründung. Die Klin sei überzeugt, dass keiner ihrer Verantwortlichen bei der Abgabe der USt-Erklärungen für 2001 bis 2004 vorsätzlich gehandelt habe, denn keinem Verantwortlichen seien die Sondergeschäfte bekannt gewesen. Aus den genannten Gründen sei die angefochtene PA aufzuheben.
Mit Einspruchsentscheidung vom 13. Dezember 2012 wies der Bekl den Einspruch der Klin als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, die angefochtene PA sei zumindest mit dem Erlass der Einspruchsentscheidung rechtmäßig, weshalb die Klin nicht in ihren Rechten verletzt sei. Anhaltspunkte für die Nichtigkeit der PA seien nicht ersichtlich und seien auch nicht vorgetragen worden.
Nach § 193 Abs. 1 AO sei eine AP bei gewerblich tätigen Steuerpflichtigen grundsätzlich zulässig. Ob eine AP angeordnet werde und hinsichtlich welcher Steuerarten und Prüfungszeiträume obliege dem pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Insofern sei die PA auch nur dann rechtlich fehlerhaft und somit rechtswidrig, wenn die Grenzen des Ermessens bei der Entscheidung über den Erlass der PA überschritten worden seien. Im Rahmen der Ermessensausübung sei nach der ständigen Rechtsprechung der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofs (BFH) grundsätzlich die BpO zu beachten, die insoweit als ermessensleitende Vorschrift für die Finanzbehörden bindend sei. Hinsichtlich des Umfangs des Prüfungszeitraums regle § 4 Abs. 3 Satz 1 BpO für Betriebe, die nicht Großbetriebe seien, dass in der Regel nicht mehr als drei zusammenhängende Besteuerungszeiträume geprüft werden sollten. Da die Klin allerdings als Großbetrieb i.S.d. § 3 BpO klassifiziert worden sei, sei die ermessenseinengende Vorschrift des § 4 Abs. 3 BpO im Streitfall nicht anwendbar.
Ein Verstoß gegen ermessensleitende Vorschriften der BpO sei von der Klin weder vorgetragen worden noch sonst erkennbar.
Auch hinsichtlich der Entscheidung, ob überhaupt eine PA habe erlassen werden dürfen, liege keine fehlerhafte Ermessensausübung der Finanzverwaltung vor. Unverhältnismäßiges, sachwidriges oder willkürliches Verhalten der Finanzbehörde sei von der Klin nicht vorgetragen worden und sei bei nochmaliger Beurteilung der Sachlage auch nicht festzustellen. Zwar erstrecke sich die PA auf Veranlagungszeiträume, für die bereits eine AP stattgefunden habe, weshalb grundsätzlich erhöhte Bestandskraft eingetreten sein könnte. Allerdings habe allein dieser Umstand nicht zur Folge, dass deshalb grundsätzlich auf eine AP hinsichtlich spezieller Sachverhalte für die bereits geprüften Besteuerungszeiträume zu verzichten wäre (BFH-Urteil vom 4. November 1987 II R 102/85, Bundessteuerblatt - BStBl - 1988, 113; BFH-Beschluss vom 13. Januar 2010 X B 113/09, BFH/NV 2010, 600). So sei der Erlass einer PA für bereits geprüfte Zeiträume nach ständiger Rechtsprechung des BFH grundsätzlich zulässig (BFH-Urteil vom 24. Januar 1989 VII R 35/86, BStBl II 1989, 440). Dies gelte insbesondere dann, wenn festgestellt werden solle, ob und in welcher Höhe Steuern hinterzogen worden seien (BFH-Beschluss vom 13. Januar 2010 X B 113/09, am angegebenen Ort - a.a.O. -), was ja gerade Voraussetzung für die verlängerte Festsetzungsfrist von 10 Jahren (§ 169 Abs. 2 AO) sowie die Durchbrechung der erhöhten Bestandskraft und die Änderbarkeit nach § 173 Abs. 1, 2 AO sei.
Grundsätzlich werde die Frage der Änderbarkeit von Bescheiden, der Verjährung oder der Steuerhinterziehung in den nochmals zu prüfenden Besteuerungszeiträumen zumeist erst nach der Durchführung der angeordneten AP zuverlässig beurteilt werden können. Nur wenn von vornherein eindeutig ersichtlich wäre, dass eine Änderbarkeit der Steuerbescheide gar nicht mehr in Betracht kommen könne (z.B. weil bereits feststehe, dass eine Steuerhinterziehung gar nicht vorliegen könne und deshalb die Verjährung zwingend bereits eingetreten sei), könne die Frage der Änderbarkeit von Steuerbescheiden durchaus der entscheidende Gesichtspunkt dafür sein, im Einzelfall keine PA mehr zu erlassen und von einer Überprüfung der relevanten Sachverhalte letztlich abzusehen. Entscheidend sei deshalb, ob die AP für die angeordneten Veranlagungszeiträume etwas zur Klärung des Verjährungseintritts beitragen könne (BFH-Urteil vom 10. April 2003 IV R 30/01, BStBl II 2003, 827) oder ob bereits zwingend feststehe, dass Verjährung eingetreten sei.
Diesen Anforderungen hielten die für den Erlass der PA maßgeblichen Ermessenserwägungen der Finanzverwaltung stand. Grund für den Erlass der PA sei der Umstand, dass aus Sicht der Finanzverwaltung auch für die zu prüfenden Veranlagungszeiträume USt 2001 bis 2004 davon ausgegangen werden könne, dass Steuerhinterziehungen nicht von vornherein ausschieden, sondern sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegen dürften. Dies dokumentiere sich in dem Umstand, dass für die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2009 von der Strabu des Finanzamts X - I hinsichtlich der der PA zugrundeliegenden umsatzsteuerlich relevanten Sachverhalte wegen Steuerhinterziehung ermittelt werde. Entsprechende Strafverfahren seien eingeleitet und dieser Umstand den Betroffenen mitgeteilt worden. Die Strafverfahren seien auf der Basis der Sachverhalte eingeleitet worden, die von der Klin selbst mit Schreiben vom 24. Juli 2012 gegenüber dem Finanzamt X dargestellt worden seien. Diese Sachverhalte legten den Verdacht einer Hinterziehung von USt für die angegebenen und nacherklärten Zeiträume nahe. Insgesamt sei für die Jahre 2005 bis 2009 USt i.H.v. ca. x Mio € nacherklärt worden. Nach Einschätzung der AP beinhalteten die abgegebenen USt-Erklärungen der betreffenden Jahre Sachverhalte, bei denen Vorsteuern aus Rechnungen gezogen worden seien, denen keine tatsächlichen Lieferungen zugrundegelegen hätten. Die Vorgehensweise des Unternehmens hinsichtlich dieser Sachverhalte in Bezug auf die Verbuchung im Warenwirtschaftssystem (zeitgleiche Zugangsbuchungen der Rücklieferung und Abgangsbuchungen aus den Ausgangsrechnungen der Klin), Belegführung (identische durch die Klin erstellte Belege zur Sammelrechnung, welche sowohl in der Hinrechnung als auch in der Rückrechnung vom V Verwendung gefunden hätten) sowie Anzahl und Volumen der Vorgänge deuteten darauf hin, dass diese innerhalb des Unternehmens "System" gehabt hätten (Auftreten in mindestens x Vertriebszentren - VZ'en -). Dadurch müssten diese Vorgänge bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern bekannt gewesen sein. Bei dieser Verfahrensweise sei nach Einschätzung der Betriebsprüfung die Hinterziehung von USt nicht ausgeschlossen, sondern naheliegend. Diese Einschätzung decke sich mit derjenigen der StraBu.
Im o.g. Schreiben trage die Klin selbst vor, dass sich identische Sachverhalte in den Vorjahren zugetragen haben könnten. Dem Sachverhaltsvortrag der Klin folgend habe die Finanzverwaltung bei Erlass der PA damit rechnen müssen, dass auch für die Veranlagungszeiträume 2001 bis 2004 eine Hinterziehung von USt in Betracht komme und demnach die Änderbarkeit der Bescheide gegeben sei. Des Weiteren sei bei der Entscheidung über die Anordnung der AP mit einzubeziehen gewesen, dass auch tatsächlich mit nicht unerheblichen Steuernachforderungen zu rechnen sei. Das erfordere eine gewisse Vorhersage oder Einschätzung, die auf Tatsachen basieren müsse. Diese Einschätzung lasse sich aus der Höhe der Steuernachforderungen für die USt der Jahre 2005 bis 2008 herleiten. Diese resultierten aus den im Schreiben der Klin vom 3. Mai 2012 dargelegten Zahlen, basierten also auf dem Vortrag der Klin, die angegeben habe, diese Vorgänge intern geprüft zu haben. Für den Zeitraum der Nacherklärung hätten die Steuernachforderungen pro Jahr stets mehrere Millionen Euro betragen. Im Schreiben vom 24. Juli 2012 sei die Klin selbst davon ausgegangen, dass identische Vorgänge auch in den Vorjahren nicht auszuschließen seien und habe angekündigt, diese zu ermitteln. Demnach sei es nicht ermessensfehlerhaft, bei Erlass der PA davon auszugehen, dass ähnliche Ergebnisse oder zumindest nicht unerhebliche Nachforderungen auch in den Jahren 2001 bis 2004 eintreten würden (BFH-Urteil vom 10. Februar 1983 IV R 104/79, BStBl II 1983, 286).
Schließlich sei weder vorgetragen noch erkennbar, dass für die Jahre 2001 bis 2004 tatsächlich mit sehr geringen oder fast gar keinen Nachforderungen zu rechnen sei. Auch stellten die steuerlich relevanten Vorgänge, die zur Anordnung der AP bezüglich der bereits geprüften Jahre (USt 2001 bis 2004) geführt hätten, für die Verwaltung neue Tatsachen dar. Insoweit sei ebenfalls nicht von einem Hindernis zur Änderung der Steuerfestsetzung auszugehen. Die relevanten Sachverhalte seien der Verwaltung während der vorherigen AP nicht bekannt gewesen. Sie seien der Finanzverwaltung erst mit Eingang des Schreibens der Klin vom 3. Mai 2012 bekannt geworden. Auf diesen Impuls hin hätten die Vertreter der VeranIagungsstelle sowie der Konzernbetriebsprüfung die maßgeblichen Konsequenzen gezogen. (...). Hinsichtlich der Entscheidung über den Umfang der von der PA betroffenen Veranlagungszeiträume und Steuerarten liege kein Ermessensfehlgebrauch vor. Nach § 194 Abs. 1 Satz 2 AO könne eine AP einen oder mehrere Besteuerungszeiträume umfassen. Insoweit bestehe wiederum Ermessen auf Seiten der Finanzverwaltung. Vorliegend sei die AP der aus Sicht der Verwaltung noch nicht verjährten Jahre 2001 bis 2004 hinsichtlich der für den maßgeblichen Sachverhalt relevanten Steuerart "USt" angemeldet worden. Für weiter zurückliegende Jahre bzw. für andere Steuerarten sei keine PA erlassen worden. Die Entscheidung über den Prüfungsumfang sei demnach ermessensgerecht, insbesondere deshalb, weil in diesem Zeitraum aus Sicht der Finanzverwaltung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit nicht unerheblichen Steuernachforderungen zu rechnen gewesen und auch weiterhin damit zu rechnen sei.
Die PA sei auch in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Selbst wenn man unterstellte, dass eine Begründung hinsichtlich des Prüfungsgrundes mit Erlass der PA noch nicht hinreichend vorgelegen hätte, wäre dieser Mangel spätestens mit Zugang der Einspruchsentscheidung und mit deren ausführlicher, erschöpfender Begründung gemäß § 126 AO geheilt worden. Insbesondere sei in der Einspruchsentscheidung nochmals konkret dargelegt worden, weshalb der Bekl von einer Steuerverkürzung und von der Änderbarkeit der Steuerbescheide ausgehen könne. Auch zur Frage des Vorliegens einer neuen Tatsache i.S.d. § 173 AO sei Stellung genommen worden.
Die PA sei bereits bei Erlass hinreichend bestimmt gewesen und i.S.d. § 121 AO auch hinreichend begründet worden. Grundsätzlich genüge die Nennung des § 193 Abs. 1 AO als Begründung für eine PA, soweit es sich um einen gewerblichen Steuerpflichtigen handle, was vorliegend gegeben sei. Eine Verpflichtung des Finanzamts, seine Ermessenserwägungen vollumfänglich in der PA darzulegen, bestehe nicht. Den inhaltlichen Ausführungen in der PA habe die Klin allerdings zweifelsfrei entnehmen können, weshalb die Finanzverwaltung beabsichtige, die USt 2001 bis 2004 nochmals anzuordnen und zu überprüfen. Schließlich habe die Klin zum Zeitpunkt des Zugangs der PA von der umsatzsteuerlichen Relevanz der Vorgänge auch hinsichtlich der Jahre 2001 bis 2004 gewusst, da sie dies selbst (siehe o.g. Schreiben der Klin) der Finanzverwaltung mitgeteilt habe. Auch habe die Klin die Beurteilung der Vorgänge durch die Strabu als grundsätzlich steuerstrafrechtlich relevantes Verhalten gekannt. Durch den in der PA vorgenommenen Hinweis auf das Schreiben der Klin vom 3. Mai 2012 habe diese zweifelsfrei erkennen können, dass diese Vorgänge die inhaltlichen Gründe für die nochmalige Prüfung der Jahre 2001 bis 2004 darstellten.
Der konkrete Passus
"Es besteht der Verdacht einer Steuerhinterziehung bzw. Ausführungen zu einem ganz konkreten aber erst im Rahmen der Außenprüfung noch festzustellenden Sachverhalt"
müsse definitiv nicht Bestandteil der PA sein.
Des Weiteren habe am 22. Oktober 2012 eine Besprechung im Hause der Klin stattgefunden, an der Vertreter des Unternehmens, der Prozessbevollmächtigte sowie die zuständigen Konzernbetriebsprüfer und deren Sachgebietsleiter teilgenommen hätten. In diesem Gespräch sei die nunmehr angefochtene PA thematisiert worden. Insbesondere sei von Seiten des Unternehmens nach der Erörterung diverser Fragen (z.B. Könnte für die von der PA umfassten Jahre Steuerhinterziehung vorliegen oder sei dies ausgeschlossen?/Handle es sich um "neue Tatsachen" i.S.d. § 173 Abs. 1 AO?) in Aussicht gestellt worden, keinen Einspruch einzulegen und im Rahmen der AP mitzuwirken, indem den Prüfern Zugriff auf die notwendigen Datenverarbeitungssysteme gewährt werde. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Klin bzw. deren Bevollmächtigter demnach die Gründe gekannt, die für den Erlass der PA maßgeblich gewesen seien.
Nachdem der Bekl den AdV-Antrag der Klin mit Bescheid vom 13. Dezember 2012 abgelehnt sowie mit Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 2013 den von der Klin gegen die Ablehnung der AdV eingelegten Einspruch als unbegründet zurückgewiesen hatte, beantragte die Klin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21. Juni 2013 beim Finanzgericht (Az. 4 V 2143/13), die Vollziehung der PA vom 16. Oktober 2012 auszusetzen.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 11. Januar 2013 erhob die Klin Klage. Zur Begründung lässt sie vortragen, in der kurzen Begründung der PA vom 16. Oktober 2012 sei das Folgende ausgeführt:
"Die PA erfolgt aufgrund des Prüfungsersuchens der Veranlagungsstelle des Finanzamts X vom 10.09.2012 hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Sachverhalte (Sondergeschäfte), welche zu korrigierten USt-Erklärungen durch das Unternehmen für die Jahre 2005 bis 2008 führten (vgl. Schreiben A vom 03.05.2012 sowie vom 24.07.2012)."
Im Schreiben vom 24. Juli 2012 an das Finanzamt X werde auf die Einleitungsverfügungen der StraBu des Finanzamts X - I Bezug genommen. In diesen Einleitungsverfügungen werde drei Betroffenen vorgeworfen, keine Berichtigungen nach § 153 AO für die USt 2001 bis 2004 vorgenommen zu haben. Veranlasst durch diese Einleitungsverfügungen habe die Klin im Schreiben vom 24. Juli 2012 eine Berichtigung gemäß § 153 AO für den Zeitraum 2001 bis 2004 vorgenommen. In diesem Schreiben vom 24. Juli 2012 sei jedoch klargestellt worden, dass die Klin von keiner Verpflichtung zur Berichtigung nach § 153 AO ausgehe, sondern von einem Ablauf der Festsetzungsfrist für die Veranlagungszeiträume 2001 bis 2004. Die Klin sei also davon ausgegangen, dass keine Steuerhinterziehung für den Zeitraum 2001 bis 2004 vorliege.
Auch enthalte die PA vom 16. Oktober 2012 keine Begründung hinsichtlich der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung. Der Verweis auf das Schreiben vom 24. Juli 2012 enthalte diese Begründung ebenfalls nicht. Daher sei die PA vom 16. Oktober 2012 mangels notwendiger Begründung nichtig, mindestens aber rechtswidrig.
Weiter lässt die Klin vortragen, der Bekl argumentiere, die angefochtene PA sei "zumindest in der Gestalt und spätestens mit dem Erlass der hier vorliegenden Einspruchsentscheidung rechtmäßig". Der Bekl benenne für seine Ansicht keine Fundstelle. Die Klägerseite vertrete die Auffassung, die rechtswidrige PA vom 16. Oktober 2012 hätte aufgehoben und durch eine neue mit Gründen versehene PA ersetzt werden müssen.
Der Bekl räume ein, dass sich die PA hinsichtlich USt 2001 bis 2004 auf Veranlagungszeiträume erstrecke, für die bereits eine AP stattgefunden habe. Der Bekl meine, deshalb "könnte" erhöhte Bestandskraft eingetreten sein. Die erhöhte Bestandskraft liege ohne jeden Zweifel vor. Dies räume der Bekl im ersten Absatz des Tatbestandes der Einspruchsentscheidung ja auch ein. Der Betriebsprüfungsbericht sei nämlich am 4. Oktober 2010 erstellt, die hierauf ergangenen USt-Bescheide seien mit Datum vom 25. November 2010 erlassen worden. Die Durchbrechung der erhöhten Bestandskraft und die Geltung einer Festsetzungsfrist von 10 Jahren setzten gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO voraus, dass insoweit eine Steuer hinterzogen sei. Hierfür müssten die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 370 AO vorliegen.
Die Frage, ob Steuerbeträge hinterzogen worden seien, sei von den Finanzbehörden in eigener Zuständigkeit zu entscheiden (Banizza in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 169 AO, Rz. 67). Die längere Festsetzungsfrist greife nur ein, wenn feststehe, dass die verkürzten Steuerbeträge hinterzogen worden seien. Der bloße Verdacht einer Steuerhinterziehung reiche hierfür nicht aus. Ob eine Steuerhinterziehung gegeben sei, sei nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO), sondern nach den Verfahrensvorschriften der AO und der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu entscheiden, denn es handle sich lediglich um eine strafrechtliche Vorfrage im Rahmen einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheids (Banizza in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, Rn. 68). Das Finanzamt trage die objektive Beweislast (Feststellungslast) für das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung (Banizza, a.a.O., Rn. 69).
Der Bekl müsse sich an die vorstehend dargestellten Anforderungen halten. Er argumentiere, die PA sei für bereits geprüfte Zeiträume nach ständiger Rechtsprechung des BFH grundsätzlich zulässig, insbesondere dann, wenn festgestellt werden solle, ob und in welcher Höhe Steuern hinterzogen worden seien. Er zitiere die Gründe im BFH-Beschluss vom 13. Januar 2010 jedoch zu kurz. Der 10. Senat des BFH führe nämlich aus:
"... hat der BFH diese Rechtsprechung bestätigt und festgestellt, dass es nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, eine Prüfung für solche Steuern anzuordnen, für die Festsetzungsverjährung eingetreten sei, weil sich die Frage der Verjährung vielfach erst nach der Klärung des Sachverhalts durch eine AP zuverlässig beantworten lasse. Anders verhalte es sich nur, wenn der Eintritt der Festsetzungsfrist auf der Hand liege, weil es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Festsetzungsfrist ausnahmsweise noch nicht abgelaufen sein könnte. Maßgeblich müsse sein, ob die AP etwas zur Klärung des Verjährungseintritts beitragen könnte. Im Streitfall hat der Eintritt der Festsetzungsverjährung nach Auffassung des FG nicht auf der Hand gelegen. Das Gericht ist vielmehr davon ausgegangen, die Finanzbehörde habe hinreichende Anhaltspunkte für eine leichtfertige Steuerhinterziehung des Klägers vorgetragen."
Der Beschluss des BFH vom 13. Januar 2010 sei entgegen der Ansicht des Bekl gerade nicht geeignet, die Zulässigkeit einer PA zu begründen, wenn festgestellt werden solle, ob Steuern hinterzogen worden seien. Der Beschluss sei nämlich im Fall einer leichtfertigen Steuerhinterziehung ergangen, für die die Finanzbehörde hinreichende Anhaltspunkte vorgetragen habe. Hinreichende Anhaltspunkte für Leichtfertigkeit (als besondere Form der groben Fahrlässigkeit) im Ordnungswidrigkeitenverfahren seien naturgemäß deutlich einfacher vorzubringen, als hinreichende Anhaltspunkte für Vorsatz. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Anhaltspunkte für die leichtfertige Steuerverkürzung gemäß § 378 AO nur eine Erweiterung der Feststellungsfrist um ein Jahr begründen müssten (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO).
Interessant sei der letzte Satz in den Gründen des Beschlusses des BFH vom 13. Januar 2010:
"Selbst wenn das FG die Frage eines offensichtlichen Verjährungseintritts unzutreffend beantwortet haben sollte, käme die Zulassung der Revision wegen Divergenz zur Rechtsprechung des BFH nicht in Betracht, weil es in diesem Fall allenfalls die höchstrichterlichen Rechtsprechungsgründe fehlerhaft auf die Besonderheiten des Streitfalls angewendet hätte".
Hieraus könnte geschlossen werden, dass der BFH im Entscheidungssachverhalt einem offensichtlichen Verjährungseintritt zugeneigt habe. Vorliegend müssten also hinreichende Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Steuerhinterziehung durch den Bekl vorgetragen werden. Die Klägerseite sehe diesen Vortrag nicht.
Der Bekl argumentiere, dass
"... aus Sicht der Finanzverwaltung davon ausgegangen werden konnte, dass Steuerhinterziehungen nicht von vornherein ausscheiden, sondern sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegen dürften".
Die "gewisse Wahrscheinlichkeit" werde dann damit begründet, dass für die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2009 von der Strabu des Finanzamts X - I wegen Steuerhinterziehung ermittelt werde und Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien.
In dem Schreiben an den ehemaligen Bereichsleiter Steuern und Finanzen der Klin, Herrn T T (vorgelegt als Anlage 5 zum Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Klin vom 8. Februar 2013), mit dem diesem die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens bezüglich der Jahre 2006 bis 2008 mitgeteilt worden sei, und in dem Schreiben an Herrn S (vorgelegt als Anlage 4 zum genannten Schriftsatz), mit dem diesem die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bezüglich des Jahres 2009 mitgeteilt worden sei, sei ausgeführt, dass die Ermittlungsergebnisse der AP abzuwarten blieben. Beide Schreiben beinhalteten nicht die Behauptung, die Herren T und S hätten bei Erstellung der USt-Erklärungen von den Sondergeschäften gewusst. Der Hinweis auf die beiden Einleitungsverfügungen für die Jahre 2006 und die Folgejahre begründe keine hinreichenden Anhaltspunkte für die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung der Jahre 2001 bis 2004.
Der Bekl begründe das Vorliegen der Steuerhinterziehung weiter damit, dass Anzahl und Volumen der Vorgänge in mindestens x VZ'en darauf hindeuteten, dass diese Vorgänge innerhalb des Unternehmens "System" gehabt hätten. Dadurch müssten diese Vorgänge einer größeren Zahl von Mitarbeitern bekannt gewesen sein. So formuliere der Bekl in der Einspruchsentscheidung:
"Bei dieser Verfahrensweise ist nach Einschätzung der Betriebsprüfung die Hinterziehung von USt nicht ausgeschlossen, sondern naheliegend."
Diese Einschätzung decke sich auch mit derjenigen der StraBu. Diese Einschätzung, die aber nicht näher erläutert werde, sei indes unerheblich. Selbst wenn die "Sondergeschäfte" innerhalb des Unternehmens als "System" zu bezeichnen gewesen wären und eine größere Zahl von Mitarbeitern (aus dem Vertrieb) davon gewusst hätte, ergäben sich hieraus keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Kenntnis und einen Eventualvorsatz der für die Erstellung der Steuererklärungen Verantwortlichen. Der Hinweis der Klin im Schreiben vom 24. Juli 2012 darauf, dass sich "identische Sachverhalte in den Vorjahren zugetragen haben können", sei ausschließlich ausgelöst durch die Einleitungsverfügungen gegen drei Betroffene. Unter 1.1. dieses Schreibens habe die Klin schon klargestellt, dass sie davon ausgehe, dass keine Steuerhinterziehung für den Zeitraum 2001 bis 2004 vorliege.
Die Überlegungen des Bekl zu möglichen "nicht unerheblichen Nachforderungen in den Jahren 2001 bis 2004" und zu "neuen Tatsachen" änderten nichts an der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Prüfung und Entscheidung, ob hinreichende Anhaltspunkte für die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung durch den Bekl vorgetragen würden. Diese Hilfsüberlegungen sehe die Klägerseite als dem "Atmosphärischen" zuzuordnen an.
Der Bekl weise mehrfach auf die Besprechung in den Räumen der Klin am 22. Oktober 2012 hin. Zutreffend sei, dass der Unterzeichner (Rechtsanwalt/Steuerberater) in Aussicht gestellt habe, dass die Klin eventuell keinen Einspruch gegen die PA einlege. In dieser Besprechung habe er allerdings auch klargestellt, dass auf der Klägerseite eine vollkommen andere Auffassung vertreten werde als die der Konzernbetriebsprüfung und der Strabu. Er habe weiter ausgeführt, dass verfahrensrechtlich der Zeitraum 2001 bis 2004 nur geprüft werden könne, sofern der Tatbestand einer Steuerhinterziehung vorliege. Auch habe die Klägerseite mitgeteilt, dass grundsätzlich ein Interesse an einer kooperativen Lösung bestehe. Die Kooperation sei und bleibe in der laufenden AP auch aufrecht erhalten. Herr S habe in der Besprechung am 22. Oktober 2012 zur weiteren Vorgehensweise mitgeteilt, dass zunächst die Geschäftsführung der Klin über die umsatzsteuerliche Prüfung der Zeiträume 2001 bis 2004 zu informieren und dann zu entscheiden sei, ob gegen die PA vom 16. Oktober 2012 Einspruch eingelegt werde. Der Einspruch sei einzulegen gewesen, da keiner der Unterzeichner der Steuererklärungen Kenntnis von den Sondergeschäften gehabt habe und demzufolge die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen der Steuerhinterziehung nicht gegeben seien.
Am 17. Oktober 2014 fand beim FG ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage statt. Wegen des Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll über den Erörterungstermin Bezug genommen. Im Rahmen dieses Erörterungstermins sagte der Bekl zu, die PA bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils im vorliegenden Streitfall nicht zu vollziehen. Das gerichtliche AdV-Verfahren 4 V 2143/13 wurde von den Beteiligten daraufhin übereinstimmend für erledigt erklärt.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 2. Dezember 2014 lässt die Klin weiter ausführen, die Festsetzungsfrist von vier Jahren gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO sei abgelaufen, da die PA vom 16. Oktober 2012 datiere. Das Finanzamt X habe für das Jahr 2001 am 18. Dezember 2012 und für das Jahr 2002 am 12. Dezember 2013 geänderte USt-Bescheide erlassen. Die geänderten Bescheide seien angefochten. Für beide Bescheide sei die AdV verfügt worden. Die PA hinsichtlich USt 2001 bis 2004 erstrecke sich auf Veranlagungszeiträume, für die bereits eine AP stattgefunden habe. Damit sei erhöhte Bestandskraft eingetreten. Die Durchbrechung der erhöhten Bestandskraft durch die geänderten USt-Bescheide für die Jahre 2001 bis 2002 und damit eine Festsetzungsfrist von 10 Jahren wäre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nur möglich, soweit der Bekl nachweise, dass die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung für jedes der Jahre 2001 bis 2004 vorlägen.
Im Protokoll über den Erörterungstermin am 16. Oktober 2014 sei auf Seite 3 festgehalten:
"Hinsichtlich des Sachverhalts, der die Korrektur der USt-Erklärungen 2005 bis 2008 vom 3. Mai 2012 ausgelöst hat, führt die Beklagtenseite aus, der Vorsteuerberichtigung liege der Gedanke zugrunde, dass ursprünglich der Vorsteuerabzug aus Scheinrechnungen vorgenommen worden sei. Damit seien sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht ausreichend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass auch in den von der streitgegenständlichen PA umfassten Veranlagungszeiträumen USt gemäß § 370 AO verkürzt worden sei".
Vorab sei festzuhalten, dass für den Betriebsprüfungszeitraum 2005 bis 2008 kein Ablauf der Festsetzungsfrist gegeben gewesen sei.
Im Erörterungstermin vom 16. Oktober 2014 hätten die Betriebsprüfer erläutert, dass sie im November 2011 "in einer Prüferanfrage gefragt" hätten, ihnen sei aufgefallen, dass V Waren billiger an die Klin zurückverkauft hätten, als sie sie von dieser eingekauft hätten. Die Betriebsprüfung habe gefragt, warum V dabei Verlust machten. Daraufhin habe eine Besprechung am 3. Mai 2012 stattgefunden, in der das Schreiben vom 3. Mai 2012 übergeben worden sei, das die Berichtigungserklärung enthalte. Das Schreiben vom 3. Mai 2012 sei als Anlage 1 zum Schriftsatz vom 2. Dezember 2014 beigefügt. Die Berichtigung vom 3. Mai 2012 beruhe also auf der Betriebsprüferanfrage.
Das genannte Schreiben stelle eine Berichtigungsanzeige gemäß § 153 AO im Besteuerungsverfahren dar. Ein Steuerpflichtiger sei nach § 153 AO verpflichtet, eine Berichtigung von Erklärungen vorzunehmen, wenn er nachträglich vor Ablauf der Festsetzungsfrist erkenne, dass eine von ihm abgegebene Erklärung unrichtig sei und es dadurch zu einer Verkürzung von Steuern kommen könne. Dieser Anzeigepflicht sei die Klin nachgekommen. Sie schreibe, sie gehe "vorsorglich davon aus", dass sie nicht berechtigt gewesen sei, aus den Rechnungen der V die Vorsteuer geltend zu machen. Sie werfe in diesem Zusammenhang die Frage auf, wo denn hier in objektiver und in subjektiver Hinsicht ausreichend Anhaltspunkte für eine USt-Verkürzung gegeben seien?
Weiter habe der Bekl nach der Niederschrift über den Erörterungstermin die Auffassung vertreten, die fehlende "EDV- mäßig nachgelöste Bestellung" bei den sog. Sondergeschäften sei ein Indiz für die subjektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung. Auch diese Argumentation gehe fehl. Ca. 95 % des in Euro bewerteten Verkaufsvolumens löse eine automatische Nachbestellung aus. Auch wenn dieser Prozentsatz vergleichsweise hoch erscheine, lösten rund 750.000 bis 800.000 Aufträge (das entspreche x bis x Mio. € p.a.) keine automatische Nachbestellung aus. Es gebe eine Vielzahl von Ausnahmen vom automatisierten Nachbestellungsprozess. Ein Beispiel seien sog. Dispositionsaufträge, bei denen die Ware nicht am Lager sei, sondern explizit für den Kunden bestellt werde. Ferner gebe es z.B. Aktionswaren oder Bevorratungen, bei denen ebenfalls keine Nachbestellung erfolgen solle. Zum Teil seien auch manuelle Nachbelastungen aus verschiedenen Gründen (z.B. Preiskorrektur) erforderlich. Die Vergabe der Auftragsnummern werde grundsätzlich lokal gesteuert. d.h. sie obliege der Verantwortung des jeweiligen VZ. Dies sei sinnvoll und notwendig, da die Lagerbestände und Abverkäufe regional unterschiedlich seien und eine Vielzahl manueller Vorgänge behandelt werden müssten. Als Anlage 2 zum Schriftsatz vom 2. Dezember 2014 fügte die Klin eine Übersicht über den Bruttoumsatz und den externen Einkauf für die Geschäftsjahre 2006/07 bis 2013/14 bei. Daraus werde deutlich, dass der Anteil der Sondergeschäfte im Verhältnis zum Gesamteinkauf mit 0,01 % bis 1,05 % sowie im Verhältnis zum Einkauf bei Zwischenhändlern mit 0,06 % bis 9,83 % äußerst gering sei. Der dezentrale Einkauf über den Zwischenhandel belaufe sich regelmäßig auf x bis x Mio. € p.a. Die Sondergeschäfte hätten aufgrund ihres geringen Volumens keinesfalls zwingend auffallen müssen.
Im Erörterungstermin vom 16. Oktober 2014 sei auch ein Thema gewesen, wieviele Kunden der Klin auch Kreditorenkonten hätten. Die Klin habe aktuell rund xx.xxx Kunden, die insgesamt rund xx.xxx Debitorenkonten hätten. Von diesen Kunden hätten rund x.xxx auch ein Kreditorenkonto. Davon seien im Jahr 2014 auf rund 300 Konten Umsätze bzw. Einkäufe verbucht worden.
Sondergeschäfte seien nur in x von xx VZ'en getätigt worden. Die Vorgänge in diesen x VZ'en hätten kaum Gemeinsamkeiten. Die Umsätze aus Sondergeschäften seien im VZ K deutlich höher als in den VZ'en H, X, J und R/Z gewesen. In K sei der Wareneingang vor dem Warenausgang gebucht worden. Damit habe sich die Frage der Nachbestellung nicht gestellt. Im VZ X sei der Wareneingang mindestens einen Tag nach dem Warenausgang gebucht worden. In den VZ'en R/Z hätten Dreiecksgeschäfte stattgefunden, d.h. das VZ R habe an die V fakturiert, die V an das VZ Z und das VZ Z an das VZ R. Auch die Rechnungsstellungen seien unterschiedlich gewesen. Auch die Konditionen hinsichtlich Handlingsmarge und Zahlungszielen seien in den VZ'en unterschiedlich gewesen.
Als Zwischenergebnis bleibe festzuhalten, dass die vom Bekl angenommene systematische Manipulation keinesfalls vorliege. Wie ausgeführt seien die VZ'en für die Vergabe von Auftragsnummern f ür Verkäufe und Einkäufe eigenständig zuständig. Welche Motivation den Sonderverkäufen zugrunde gelegen haben könnte, sei gegenüber den Prüfern schon in der Antwort vom 11. Mai 2012 auf die Prüferanfrage Nr. 54 vom 25. November 2011 dargelegt worden (vorgelegt als Anlage 3 zum Schriftsatz vom 2. Dezember 2014). Die Umsätze hätten sich voraussichtlich auf die Tantiemen einzelner Mitarbeiter der Vertriebszentren ausgewirkt.
In rechtlicher Hinsicht weist die Klin darauf hin, dass ihres Erachtens die Voraussetzungen für die Geltung der 10-jährigen Festsetzungsfrist im Streitfall nicht erfüllt seien. Unterstellt, die Voraussetzungen für die 10-jährige Festsetzungsfrist lägen vor, was wie ausgeführt nicht der Fall sei, sei § 171 Abs. 4 AO zu berücksichtigen. Diese Vorschrift bestimme, dass die Festsetzungsfrist für Steuern nicht ablaufe, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit einer AP begonnen werde. Unterstellt, nach Abschluss des Finanzgerichtsverfahrens könnte die AP beginnen, wäre nach Ansicht der Klin zu prüfen, für welche Jahre die 10-jährige Festsetzungsfrist dann noch nicht abgelaufen wäre. § 171 Abs. 8 AO sei vorliegend nicht anwendbar. Nach Ansicht der Klin sei die Verjährung hinsichtlich des Beginns der AP vom FG von Amts wegen zu prüfen.
Weiter lässt die Klin ausführen, nach der Rechtsprechung sei eine AP zulässig, wenn festgestellt werden solle, ob Steuern hinterzogen worden seien und daher die verlängerte Festsetzungsfrist eingreife (BFH-Beschluss vom 27. Mai 2005 VII B 38/04; BFH-Beschluss vom 13. Januar 2010 X B 113/09). In den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Fällen sei - soweit ersichtlich - keine AP vorangegangen. Der AP habe also § 173 Abs. 2 AO nicht entgegengestanden. Die Rechtsprechung des BFH und zuletzt das Urteil des FG Münster vom 20. April 2012 (Az. 14 K 422/11) besagten jeweils, dass von der Regel abzuweichen sei, wenn der Eintritt der Festsetzungsfrist auf der Hand liege, weil es zu keiner Steuerhinterziehung gekommen sei. Diese Ausnahme sei im Streitfall gegeben, wie schon in den vorstehenden Ausführungen dargelegt worden sei. Die Sondergeschäfte hätten in der Verantwortung der VZ'en stattgefunden. Die Angehörigen der VZ'en hätten eigennützige Motive gehabt, die nichts mit steuerlichen Überlegungen zu tun gehabt hätten. Wirtschaftlich stellten sich die Verkäufe und Rückkäufe für die Vertriebszentren neutral dar.
Täter einer Steuerhinterziehung könne - jedenfalls in der Tatvariante des aktiven Tuns - neben dem Steuerschuldner auch ein Dritter sein, wenn ihm das Gesetz keine steuerlichen Pflichten zuweise (BFH-Urteil vom 28. April 1998 IX R 49/96). Nach Auffassung der Klin kämen allerdings nur Personen in Betracht, die bei der Wahrnehmung der Angelegenheiten des Steuerpflichtigen gehandelt hätten. Völlig übereinstimmende Ansicht sei, dass die Person des Täters nicht feststehen müsse, sondern ausreichend sei, dass von mehreren in Betracht kommenden Personen jedenfalls eine die Steuerhinterziehung zum Vorteil des Steuerschuldners begangen habe (BFH-Beschluss vom 19. März 1998 V R 54/97; Banniza, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 169 Rn. 56). Vorliegend sei vom Bekl aber keine solche Person benannt worden.
Als Fazit sei somit festzuhalten, dass Dritte, die als Täter einer Steuerhinterziehung in Betracht kämen, vom Bekl nicht benannt worden seien. Der Bekl habe auch nicht Personen "zur Auswahl" benannt und könne dies auch nicht. In Betracht kämen allenfalls Angehörige der VZ'en. Sie handelten aber nicht im Rahmen der Wahrnehmung der steuerlichen Pflichten. Dies gelte selbst dann, wenn der Bekl sie benennen könnte. Kein Angehöriger der VZ'en habe nach der Überzeugung der Klin daran gedacht, mit den Sondergeschäften USt zu verkürzen. Für die handelnden Angehörigen der VZ'en stellten sich die Sondergeschäfte neutral dar, da die Preise für Verkauf und Einkauf bis auf kleine Differenzen übereinstimmten. Bedingter Vorsatz beim handelnden Dritten scheide daher aus. Der Klage werde daher stattzugeben sein.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 8. Dezember 2014 schilderte die Klin zwei Beispielsfälle, bei denen keine automatische Nachbestellung ausgelöst worden sei.
Im ersten Beispielsfall, beigefügt als Anlage 3, sei die Buchung mit der Auftragsart xxx (Beleg-Nr. xxx) ausgeführt worden. Hierbei handle es sich um ein sog. Überweisergeschäft (UW), bei dem zunächst ein Vertreter des Herstellers mit dem V ein Liefergeschäft zu bestimmten Konditionen vereinbare. Anschließend werde dieses Geschäft auf einen V-Großhändler, den der V benenne, "übertragen". Der Großhändler liefere aus eigenen Beständen und auf eigene Rechnung zu den zwischen Hersteller und V vereinbarten Konditionen. Bei diesem Beispiel sei aufgrund eines unzutreffenden Ausweises des Barrabattes der ursprüngliche Auftrag storniert und anschließend ein neuer Beleg mit dem zutreffenden Barrabatt und der Auftragsart yyy (; Beleg-Nr. xxx) generiert worden. An diesem Beispiel lasse sich gut sehen, dass aufgrund von Preisänderungen Buchungen erfolgten, bei denen keine Abbuchung vom Warenbestand und somit auch keine automatische Nachbestellung vorgenommen werde.
Im zweiten Beispielsfall (Beleg-Nr. xxx vom 23. März 2009, vorgelegt als Anlage 4 zum genannten Schriftsatz) sei die Buchung mit der Auftragsart xxx erfolgt (). In diesem Fall sei die fakturierte Menge zunächst für diesen Kunden vom VZ Berlin an das VZ C geliefert und auf dem Artikelkonto des VZ C erfasst worden. Anschließend sei die Ware für die V kommissioniert und ausgeliefert worden (vgl. Artikelkonto xxx). Hierbei handle es sich offensichtlich um Ware, die speziell für diesen Kunden beschafft worden sei.
Als Anlage 5 zum genannten Schriftsatz fügte die Klin die Übersicht der im Zusammenhang mit den Sondergeschäften berichtigten USt-Beträge je V bei. Der Tabelle sei zu entnehmen, dass von der USt-Nachzahlung i.H.v. xx Mio € yy Mio € wieder erstattet worden seien. Lediglich die rot markierten Beträge seien bislang nicht erstattet worden, in zwei Fällen aufgrund von Insolvenzen (I / Ä). Der Fall R betreffe einen Suizidversuch. Ein Fall sei noch nicht abschließend geklärt (G). Das Volumen durch Rechnungsberichtigung liege also knapp über 90 %.
Die Klin beantragt,
die PA vom 16. Oktober 2012 und die Einspruchsentscheidung vom 13. Dezember 2012 aufzuheben sowie
die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Bekl beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich zur Erwiderung auf die Gründe seiner Einspruchsentscheidung und führt ergänzend aus, entgegen der Auffassung der Klin sei die PA vom 16. Oktober 2012 keinesfalls nichtig. Die Klin rüge, die PA sei nicht ausreichend begründet worden. Gemäß § 126 Abs. 1 und 2 AO führe die mangelhafte Begründung eines Verwaltungsaktes nicht zu dessen Nichtigkeit, sondern allenfalls zu dessen Rechtswidrigkeit. § 126 Abs. 1 und 2 AO sehe aus den genannten Gründen gerade keine Aufhebung, sondern die Heilung des Verwaltungsakts und somit dessen weiteren rechtlichen Bestand vor. Deshalb sei spätestens mit Erlass der Einspruchsentscheidung und deren umfassender Begründung ein eventuell vorher gegebener Begründungsmangel beseitigt und somit von einer insgesamt rechtmäßigen PA auszugehen. Der Einwand der Klin, dass die PA mangels erforderlicher Begründung nicht rechtmäßig sei, sei somit spätestens mit Ergehen der Einspruchsentscheidung und der darin enthaltenen ausführlicheren Begründung hinfällig und verfahrensrechtlich überholt.
Nach Auffassung des Bekl sei die PA aufgrund der enthaltenen Begründung bereits bei ihrem Erlass rechtmäßig gewesen gewesen. Der Klin sei durch die Formulierung in der PA sowie durch ihre eigenen Schreiben vom 24. Juli 2012 und 3. Mai 2012 ausreichend bekannt, was Gegenstand der beabsichtigten Prüfung sein solle. Insbesondere werde nochmals darauf hingewiesen, dass in der PA gerade die o.g. Schreiben der Klin ausdrücklich bezeichnet seien, um den Prüfungsgegenstand auch für die Klin ausreichend erkennbar zu konkretisieren. Eine ausführliche und ins Detail gehende Begründung nebst ausschweifenden rechtlichen Ausführungen sei vom Gesetzgeber beim Erlass einer PA dagegen nicht vorgesehen. Es genüge vielmehr, dass die Finanzbehörde zu erkennen gebe, was Prüfungsgegenstand sein solle. Dies sei im Streitfall auch ausreichend geschehen.
In der Klageschrift führe die Klin aus, dass die AP die subjektiven und objektiven Merkmale einer Steuerhinterziehung für die zu prüfenden Jahre nachzuweisen habe. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der PA diene aber nicht dazu, ein Rechtsbehelfsverfahren hinsichtlich der Änderbarkeit der Steuerbescheide vorwegzunehmen. Der Nachweis des Vorliegens dieser subjektiven und objektiven Merkmale einer Steuerhinterziehung sei nach Auffassung des Bekl jedoch nur für die Änderung der entsprechenden Steuerbescheide und zwar eventuell erst nach erfolgter AP zutreffend. Für den Erlass der PA genüge deshalb auch bereits die Möglichkeit des Vorliegens der o.g. Merkmale. Die Klin selbst rechne in ihrem Schreiben vom 24. Juli 2012 mit der Möglichkeit, dass in den Jahren 2001 bis 2004 dieselben Sachverhalte wie in den Jahren 2005 und den Folgejahren vorlägen.
Wenn die Klin auf Seite 4 des Schriftsatzes ihres Prozessbevollmächtigten vom 8. Februar 2013 aus den Gründen des Beschlusses des BFH vom 13. Januar 2010 zitiere und in der Aussage ende, es "könnte hieraus geschlossen werden, dass der BFH im Entscheidungssachverhalt einem offensichtlichen Verjährungseintritt zuneigte", so stelle sich die Frage, was dies nach Auffassung der Klägerseite für den vorliegenden Streitfall zu bedeuten hätte. Diese Frage beantworte die Klägerseite im ihrem Schriftsatz allerdings nicht. Nach Auffassung des Bekl lasse sich der von der Klin gezogene Schluss der zitierten Entscheidung nicht entnehmen. Auch hätte das "Zuneigen des BFH im Entscheidungssachverhalt zu einem Verjährungseintritt" hinsichtlich des entschiedenen Einzelfalles keine über diesen Einzelfall hinausgehende (generelle) Bedeutung. Im Streitfall bestehe nach der in der Einspruchsentscheidung zitierten Rechtsprechung vielmehr die Möglichkeit einer AP.
Im Erörterungstermin vom 17. Oktober 2014 führte der Bekl hinsichtlich des Sachverhalts, der die Korrektur der USt-Erklärungen 2005 bis 2008 vom 3. Mai 2012 ausgelöst hat, weiter aus, der Vorsteuerberichtigung liege der Gedanke zugrunde, dass ursprünglich der Vorsteuerabzug aus Scheinrechnungen vorgenommen worden sei. Damit seien sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht ausreichend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass auch in den von der streitgegenständlichen PA umfassten Veranlagungszeiträumen USt gemäß § 370 AO verkürzt worden sei.
Außerdem führte der Bekl im Erörterungstermin aus, bei regulären Liefergeschäften, bei denen also tatsächlich Warenauslieferungen an V erfolgt seien, sei jeweils EDV- mäßig eine Ersatzbeschaffung vorgenommen worden, damit der Bestand der Klin wieder aufgefüllt werde. Bei den sog. Sondergeschäften, die die Grundlage für die Korrektur der USt-Erklärungen durch Schreiben vom 3. Mai 2012 gebildet hätten, sei diese ansonsten EDV- mäßig ausgelöste Nachbestellung nicht vorgenommen worden. Dies bilde nach Auffassung des Bekl ein Indiz für die subjektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die PA vom 16. Oktober 2012 ist wirksam und rechtmäßig.
a) Entgegen der Auffassung der Klin führt der Umstand, dass die PA nicht bereits bei ihrem Erlass mit einer umfassenden Begründung versehen war, nicht zur Nichtigkeit. Denn ein Verwaltungsakt, der ohne oder mit unzureichender Begründung erlassen wird, ist in aller Regel wirksam (BFH-Beschluss vom 17. Juli 1984 VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583; BFH-Urteil vom 5. Oktober 1994 I R 31/93, BFH/NV 1995, 576). Der Mangel der unzureichenden oder fehlenden Begründung kann vielmehr gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 AO und § 102 Satz 2 FGO bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens vollständig geheilt werden. Der vom BFH im Urteil vom 5. Oktober 1994 I R 31/93, a.a.O., angedeutete Ausnahmefall, dass der Regelungsgehalt des Verwaltungsakts ohne Begründung für die Klin "nicht fassbar" wäre, liegt im Streitfall ersichtlich nicht vor.
b) Nach § 193 Abs. 1 AO ist eine AP zulässig bei Steuerpflichtigen, die einen gewerblichen oder land- und forstwirtschaftlichen Betrieb unterhalten oder die freiberuflich tätig sind. In den Fällen des § 193 Abs. 1 AO ist die Anordnung einer AP nach ständiger Rechtsprechung des BFH ohne weitere Voraussetzungen zulässig (BFH-Urteile vom 5. November 1981 IV R 179/79, BStBl II 1982, 208; vom 13. März 1987 III R 236/83, BStBl II 1987, 664; vom 2. September 1988 III R 280/84, BStBl II 1989, 4; vom 10. April 1990 VIII R 415/83, BStBl II 1990, 721; vom 2. Oktober 1991 X R 89/89, BStBl II 1992, 220 und vom 30. Juni 1989 III R 8/88, BFH/NV 1990, 273). Eine auf § 193 Abs. 1 AO gestützte PA bedarf regelmäßig keiner besonderen Begründung. Es genügt vielmehr der Hinweis auf diese Vorschrift. Denn aus § 193 Abs. 1 AO folgt die Wertung, dass eine AP bei Steuerpflichtigen, die im Prüfungszeitraum einen gewerblichen Betrieb unterhalten haben oder freiberuflich tätig waren, in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Willkürverbots unbeschränkt zulässig ist, da der Gesetzgeber bei solchen Steuerpflichtigen - typisierend - die AP als das geeignete Mittel der Sachverhaltsermittlung ansieht (ständige Rechtsprechung des BFH: vgl. BFH-Urteile vom 2. Oktober 1991 X R 89/89, BStBl II 1992, 220; vom 21. Juni 1994 VIII R 54/92, BStBl II 1994, 678 und vom 11. November 1993 IV R 119/92, BFH/NV 1994, 444 mit weiteren Nachweisen - m.w.N. -; BFH-Beschlüsse vom 23. Juni 2003 X B 165/02, BFH/NV 2003, 1147, vom 14. März 2006 IV B 14/05, BFH/NV 2006, 1253 und vom 26. Juni 2005 V B 97/06, BFH/NV 2007, 1805).
Insoweit sind im Streitfall keine Umstände, die zur Annahme der Rechtswidrigkeit der PA führen könnten, erkennbar.
c) Entgegen der Auffassung der Klägerseite ist die streitgegenständliche PA auch nicht deshalb rechtswidrig, weil für die von der PA umfassten Steuerarten und Besteuerungszeiträume Festsetzungsverjährung eingetreten wäre. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH die Durchführung einer AP insoweit unzulässig, als der Eintritt der Festsetzungsverjährung für die Besteuerungszeiträume, die seitens des Bekl der AP unterzogen werden sollen, "auf der Hand liegt" und die AP nichts zur Klärung des Verjährungseintritts beitragen kann (BFH-Beschluss vom 26. Januar 2006 VI B 89/05, BFH/NV 2006, 964 m.w.N.). Denn die Frage, ob Verjährung eingetreten ist, lässt sich in der Regel erst dann zuverlässig beantworten, wenn der Sachverhalt durch die AP geklärt ist, da erst dann abschließend beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen für eine verlängerte Festsetzungsverjährungsfrist wegen leichtfertiger Steuerverkürzung (5 Jahre) oder wegen Steuerhinterziehung (10 Jahre) gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO vorliegen (BFH-Urteile vom 23. Juli 1985 VIII R 48/85, BStBl II 1986, 433, 435; vom 3. Juli 1985 IV R 258/84, BFH/NV 1987, 685 und vom 25. Januar 1989 X R 158/87, BStBl II 1989, 483; BFH-Beschlüsse vom 30. September 1987 IV B 177/86; BFH/NV 1988, 415; vom 29. Mai 2001 VIII B 1/01, BFH/NV 2001, 1569; vom 13. Juli 2006 VII B 296/05, BFH/NV 2006, 1799 und vom 27. Mai 2005 VII B 38/04, BFH/NV 2005, 1496).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, denen der Senat folgt, steht die Erwägung, dass für den von der streitgegenständlichen PA umfassten Prüfungszeitraum möglicherweise Festsetzungsverjährung eingetreten ist, der Rechtmäßigkeit der PA nicht entgegen. Der Umstand, dass die Klin - wovon sie ausweislich ihrer Schreiben an das Finanzamt X vom 3. Mai 2012 und vom 23. Juli 2012 selbst ausgeht - für die Jahre 2005 bis 2008 mutmaßlich Vorsteuern im Umfang von xxx € aus Scheinlieferungen (sog. Sondergeschäfte) - und damit zu Unrecht - in Anspruch genommen hat, stellt einen hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkt daf ür dar, dass für die von der PA umfasste USt der Jahre 2001 bis 2004 ggf. die verlängerte Festsetzungsfrist von 10 Jahren gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zur Anwendung kommen und damit noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten sein könnte. Die von der Klin aufgeworfenen Fragen, ob bzw. von wem und inwieweit Steuerhinterziehungen gemäß § 370 AO in objektiver und in subjektiver Hinsicht festgestellt werden können, sind im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Die abschließende Prüfung, ob dem Erlass möglicher Änderungsbescheide der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegensteht, ist nach Durchführung der AP - ggf. im Rahmen der außergerichtlichen bzw. gerichtlichen Anfechtung dieser Bescheide - vorzunehmen. Dies gilt auch für die Frage, ob bzw. in welchem Umfang möglicherweise im Hinblick auf die von der Klin gegenüber dem Bekl bzw. beim FG gestellten Anträge auf AdV der PA eine Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 4 AO in Betracht kommt (vgl. hierzu: BFH-Urteile vom 25. Januar 1989 X R 158/87, BStBl II 1989, 483 und vom 10. April 2003 IV R 30/01, BStBl II 2003, 827).
d) Der Umstand, dass für die von der PA umfasste USt der Jahre 2001 bis 2004 im Jahr 2010 bereits eine AP stattgefunden hat, führt ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der PA. Zwar können nach § 173 Abs. 2 Satz 1 AO abweichend von § 173 Abs. 1 AO Steuerbescheide, soweit sie aufgrund einer AP ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Regelung des § 173 Abs. 2 AO dem Erlass einer PA für solche Steuerarten bzw. Veranlagungszeiträume entgegensteht, die bereits Gegenstand einer AP waren, ist - wie auch bezüglich der Frage, ob ggf. der Eintritt der Festsetzungsverjährung der Durchführung der AP entgegensteht - eine ex- ante-Beurteilung dergestalt vorzunehmen, dass es ausreichend ist, ob hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass möglicherweise für die von der PA umfassten Steuerarten und Veranlagungszeiträume Steuerhinterziehungen vorliegen und damit gemäß § 173 Abs. 2 AO eine Durchbrechung der grundsätzlich erhöhten Bestandskraft in Betracht kommt. Einer Zweitprüfung entgegenstehen könnte § 173 Abs. 2 AO - ebenso wie der Umstand, dass die reguläre Festsetzungsfrist bereits abgelaufen ist - allenfalls dann, wenn es "auf der Hand liegt", dass es zu keiner Steuerhinterziehung gekommen ist (ebenso: FG Münster, Urteil vom 20. April 2012, Az. 14 K 4222/11 AO, EFG 2012, 1516). So verhält es sich im Streitfall - wie bereits dargelegt - jedoch nicht. Im Streitfall ist die Verjährungsfrage daher nach Abschluss der AP im Rahmen der Auswertung der Prüfungsergebnisse durch das Veranlagungsfinanzamt bzw. im Rahmen der Anfechtung der ggf. nach Durchführung der AP ergehenden geänderten USt-Bescheide zu prüfen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
III. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.