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  • 12.08.2019 · IWW-Abrufnummer 210505

    Landgericht Mannheim: Beschluss vom 05.06.2019 – 23 KLs 616 Js 21611/11

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Geschäftsnummer: 23 KLs 616 Js 21611/11 – AK 1/12

    Landgericht Mannheim

    23. Große Strafkammer – 3. Wirtschaftsstrafkammer

    Beschluss vom 05. Juni 2019

    In der Strafsache gegen

    S. A.

    wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung

    wird die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt.

    Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.

    Gründe:

    I.

    Der Eröffnung des Hauptverfahrens steht ein dauerhaftes Verfahrenshindernis entgegen. Es ist Strafklageverbrauch dadurch eingetreten, dass das Verfahren gegen den Angeschuldigten S. A. mit Urteil des italienischen Appellationsgerichts in Bologna vom 09.01.2017 (rechtskräftig seit 09.04.2017) wegen der gleichen prozessualen Taten (nach erstinstanzlicher Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten) eingestellt worden ist, weil nach den dort geltenden Rechtsvorschriften die absolute Verjährung festgestellt wurde.


    II.

    Mit Anklageschrift vom 29.12.2011 wirft die Staatsanwaltschaft Mannheim dem Angeschuldigten S. A. als Inhaber und Geschäftsführer der gleichnamigen Einzelfirma Kfz-Handel Export-Import mit Sitz in E. Steuerhinterziehung in 13 Fällen durch Abgabe falscher Umsatzsteuererklärungen der Geschäftsjahre 2003, 2004 und 2005 (Taten 1 bis 3) und der Monate Januar 2006 bis Oktober 2006 (Taten 4 bis 13) vor.

    Dem Angeschuldigten wird zur Last gelegt, er habe sich an einem Umsatzsteuerkarussell beteiligt.  Aufgrund einer Absprache mit seinen italienischen Geschäftspartnern habe er unter Einschaltung sog. „missing trader“ eine Lieferkette fingiert, um seinen Geschäftspartnern die Möglichkeit unberechtigten Abzugs von Vorsteuer zu ermöglichen. Hierzu soll er – ohne korrespondierende Warenlieferungen - Scheinrechnungen über angeblich innergemeinschaftliche Lieferungen im Sinne der §§ 4 Nr. 1 b) und 6a UStG an angebliche Abnehmer in Italien erstellt haben, um die tatsächlich geschuldete Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt S. abführen zu müssen.

    Auf diese Weise soll er insgesamt 2.572.033,35 Euro Umsatzsteuer verkürzt haben.

    Die dem Angeschuldigten zur Last gelegten prozessualen Taten im Sinne des § 264 StPO werden durch folgende prägende Umstände in der Anklageschrift konkret beschrieben:

    • Der Angeschuldigte habe als Inhaber und Geschäftsführer der Einzelfirma S. A. mit Sitz in E., gehandelt.
    • Er habe seinen italienischen Abnehmern (namentlich genannt sind die Firmen „V. P. A.“, „V. SRL“ des Inhabers E. P., ferner die Firmen „A. C. SRL“ des Inhabers A. C.; ferner die Firma „G. E. SRL“, die Firma „R. A. SRL“ des Inhabers M. R.; die Firma „G. A.“ des Inhabers G. A.; die Firma „I. SB SRL“ der Inhaberin A. G.; die Firma „G. A. SRL“ des N. M.; die Firma „C.“ des G. R. und die Firma „D. C.“ des C. C.)
    • die Möglichkeit zum unberechtigten Vorsteuerabzug verschafft
    • indem er von mindestens 2003 an bis in das Jahr 2006
    • Ausgangsrechnungen auf italienische Scheinkäufer (namentlich genannt werden als sog. „missing trader“ die Firmen „S. SRL“ des Inhabers T. G.; die Einzelfirma des Unternehmers G. C.; ferner die Firma „R. C. SRL“ des A. C.; die Firma „T. SRL“ des Inhabers E. G.; die Firma „A.C. Cars SRL“ der Inhaberin A. G.; die Firma „A.“, die Firma „L. SRL“ des Inhabers D. D.; und die Firma „C. L.“) ausgestellt habe.
    • Er habe dabei gewusst und gebilligt, dass die in den Rechnungen bezeichneten Scheinkäufer eine weitere fingierte Ausgangsrechnung unter Ausweis der (italienischen) Umsatzsteuer an die eigentlichen Empfänger der Lieferung erstellten.
    • Ferner habe er gewusst, dass die Scheinkäufer keine Umsatzsteuer an die italienischen Finanzbehörden abführten; gleichwohl jedoch die tatsächlichen – in den Tatplan eingeweihten - Kunden die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend machten.
    • Der Angeschuldigte habe in seiner eigenen Buchhaltung den Nachweis für die Weiterveräußerung der Fahrzeuge dadurch geschaffen, dass er die Scheinrechnungen mit dem Zusatz „steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gem. § 6a UStG“ versehen und die geschuldete deutsche Umsatzsteuer nicht entrichtet habe.
    • Gleichzeitig habe er auf diese Weise verschleiert, an welche Kunden er die Lieferungen tatsächlich bewirkt habe, so dass eine Umsatzsteuerprüfung vermieden und der unberechtigte Vorsteuerabzug bei diesen ermöglicht wurde.

    Die solchermaßen nach Tatort, Tatzeit und Tathandlung sowie nach personeller Zusammensetzung der Tätergruppierung konkret bezeichneten Taten sind identisch mit denen, die Grundlage des erstinstanzlichen italienischen Urteils gewesen sind:

    Die Strafkammer des Landgerichts in Forli/Italien verurteilte den Angeschuldigten S. A. (sowie weitere fünf Angeklagte) am 06.05.2013 wegen Steuerbetruges zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten sowie diversen Nebenstrafen.

    In den Feststellungen der Strafkammer des Landgerichts Forli ist der Tatvorwurf, der auf Bildung einer kriminellen Vereinigung zum Zwecke der Umsatzsteuerhinterziehung mittels eines sog. Steuerkarussells lautet, (gemäß der Übersetzung des Urteils) wie folgt konkret beschrieben:

    „(…) Es handelt sich im Einzelnen um folgende Straftaten:

    Ausstellung von Scheinrechnungen (…) – schwerer Betrug zum Nachteil der Finanzverwaltung zum Zwecke der Erlangung unrechtmäßiger Umsatzsteuer-Rückerstattungen bzw. der Anerkennung nicht existenter Vorsteuerbeträge in relevanter Höhe, betrügerische Senkung der Preise auf dem öffentlichen Markt, (…) insbesondere durch die Benutzung von:

    • im EU-Ausland ansässigen Firmen, wie der KFZ-FIRMA von S. A. mit Sitz in E. (DE), wie es aus den beigefügten Rechnungen hervorgeht, die fester Bestandteil der Anklage sind;·  
    • „missing trader“ (…) wie der „L. Srl“ mit Sitz in Mailand, „T. Srl“ mit Sitz in Albino (BG), „I. Srl“ und „I. SB Srl“ mit Sitz in Bergamo, „A. Srl“ mit Sitz in Fermentino (FR), „M. M. D.I.“ mit Sitz in Rom, „A. B. Srl“ mit Sitz in Rom, „C. G. D.I. mit Sitz in Bergamo, „C. L. D.I.“ mit Sitz in Corigliano Calabro CS) [bei der Srl handelt es sich um eine GmbH und bei der D.I. um eine Einzelfirma];
    • „buffer“ wie der Firma „E. A. V. s. Srl“ mit Sitz in Magliano Vetere (SA);
    • „realen Firmen“ wie der „G. A. Srl“ mit Sitz in Longiano (FC).

    Sie organisierten insbesondere sowohl innergemeinschaftliche Einkäufe von Fahrzeugen – also umsatzsteuerfrei (…) – als auch inneritalienische Einkäufe durch die Anwendung betrügerischer Modalitäten, wie
    • durch die ständige Unterfakurierung seitens der italienischen „buffer“ beim Weiterverkauf im Inland von Waren, die bei im EU-Ausland ansässigen Firmen umsatzsteuerfrei erworben wurden;
    • durch die Nichtzahlung der Umsatzsteuer seitens der italienischen „missing trader“;
    • durch die Schaffung unrechtmäßiger Vorsteuerbeträge bei den „buffer“.

    Diese unerlaubten Handlungen hatten zum Zweck
    • den Erwerb von Fahrzeugen durch die „Endabnehmer“, d.h. die tatsächlichen Empfänger der Ware, zu einem Preis, der unter dem Einfuhrpreis lag, was zusätzlich die Schaffung unrechtmäßiger Vorsteuerbeträge zum Vorteil hatte;
    • die Aufteilung der unterschlagenen Umsatzsteuer unter den verschiedenen Beteiligten an den „Steuerkarussellen“, die trügerisch als Gewinnaufschlag dargestellt wurde.

    Die beteiligten Personen hatten im Einzelnen folgende Rollen:

    (…)

    • S. A.: als Geschäftsführer der „KFZ Firma S. A.“ hat den geschilderten Betrugsmechanismus organisiert, indem er den Verkauf der Fahrzeuge an die Firmen L. srl, T. srl, I. srl, I. SB srl, A. srl, A. B. srl, M.M. und der C. G. D.I. vortäuschte, damit die G. A. Srl die Fahrzeuge mit Hinterziehung der Umsatzsteuer erwerben konnte;
    (…)

    In Forli und anderen Orten von 2003 bis 2007 begangen.

    (…)

    Der Tatvorwurf beinhaltet die Organisation einer kriminellen Vereinigung durch die Angeklagten zum Zwecke der Umsatzsteuerhinterziehung über das sogenannte Umsatzsteuerkarussell. Diese Praxis erfolgt über die Lieferung von Waren einer EU-Firma an eine inländische Firma durch betrügerische Anwendung von Umsatzsteuerfreiheit, die (…) für innergemeinschaftliche Lieferungen gilt und nach der in diesen Fällen der Verkäufer steuerfrei liefert, weil die Umsatzsteuer einzig und allein im Bestimmungsland entrichtet wird“ (so Bl. 8 der Übersetzung des Urteils).

    Die solchermaßen konkretisierten und abgeurteilten Taten des Angeklagten decken sich in Bezug auf Art und Umstände des Tatbeitrages, Tatort und Tatzeit sowie dem weitgehend namensgleichen Kreis an Tatbeteiligten mit denen, die vorliegend von der Staatsanwaltschaft angeklagt werden.

    Dabei kommt es hier nicht entscheidend darauf an, ob ein nationaler oder ein europäischer Tatbegriff zu Grunde zu legen ist (vgl. hierzu Böse in: Momsen/Grützner, Wirtschaftsstrafrecht, 1. Aufl. 2013, Kap. 3 – Rn. 40 ff.). Nach dem nationalen Tatbegriff ist der Begriff der Tat nach dem Recht des Urteilsstaates zu bestimmen, so dass die „Definitionsmacht“ über den Verfahrensgegenstand und die Reichweite des Strafklageverbrauchs nach dieser Ansicht aus dem italienischen Urteil abzuleiten wäre. Aber auch nach dem vom EuGH (NJW 2007, 3412) zugrunde gelegten „faktischen“ Tatbegriff betreffen die gegenständliche Anklage und das in Italien geführte Verfahren die gleichen Taten. Maßgebliches Kriterium für die Identität der Tat ist nach dem EuGH das Vorhandensein eines „Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“, wofür erforderlich sei, dass die einzelnen Handlungen objektiv, das heißt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht und nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind (Böse, a.a.O., Rn. 43 m.w.N.).

    So hat auch der Bundesgerichtshof (1 StR 422/15 - NZWiSt 2017, 74) insbesondere zu der Frage des Strafklageverbrauchs für Einzeltaten der Umsatzsteuerhinterziehung im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussells ausgeführt, dass es einzelfallabhängig sei, welche Taten der Steuerhinterziehung einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bilden. Eine Indizwirkung für die Annahme eines einheitlichen Lebenssachverhaltes im Sinne des § 264 Abs.1 StPO sollen demnach Tatzeit und -dauer sowie die personelle Zusammensetzung der Gruppierung des Umsatzsteuerkarussells bilden. In dem von ihm entschiedenen Fall hat der Bundesgerichtshof eine Tatidentität vor allem deshalb abgelehnt, weil es sich nach den zugrundeliegenden Feststellungen um unterschiedliche kriminelle Vereinigungen mit unterschiedlichen Täterstrukturen handelte und auch nur eine teilweise zeitliche Überschneidung vorlag.

    Anders verhält es sich jedoch hier:

    Zwar führt die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 22.03.2019 (AS III, 235 f.) zutreffend aus, dass über die Firma A. in den Jahren 2003 und 2004 abgerechnete Lieferung nicht ausdrücklich im italienischen Urteil erwähnt sind.

    Die Strafkammer hält diesen Einzelumstand jedoch im Ergebnis für nicht ausschlaggebend, sondern sieht die gegenständlich angeklagten Taten in räumlicher, zeitlicher und personaler Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar mit dem in Italien verfolgten Geschehen miteinander verbunden, so dass von Identität auszugehen ist:

    Dem Angeschuldigten werden für die Jahre 2003 und 2004 jeweils die Abgabe falscher Jahresumsatzsteuererklärungen vorgeworfen. Tathandlung ist insoweit die am 25.11.2004 bzw. am 18.07.2005 erfolgte Abgabe jeweils falscher Erklärungen über steuerlich erhebliche Tatsachen für die Jahre 2003 bzw. 2004. Steuerlich erheblich ist vorliegend vor allem der Umstand, dass der Angeschuldigte als Beteiligter einer Tätergruppe Scheinrechnungen an diverse (italienische) „missing-trader“ ausgestellt haben soll, um seine tatsächlichen Abnehmer zu verschleiern und um selbst Steuern zu verkürzen. Zur Beteiligung der Firma A. ist in der Anklageschrift (dort S. 30 unter bb) ausgeführt, dass der Angeschuldigte diese Rechnungen über den Verkauf von Kraftfahrzeugen gestellt habe. Tatsächlich seien diese Fahrzeuge jedoch an andere Handelspartner – unter anderem an die Firmen I. SB SRL. bzw. deren Nachfolgefirmen – geliefert worden, wobei die Firma I. SB SRL. auch von dem durch das Landgericht Forli ebenfalls verurteilten S. M. geführt worden ist.

    Dem italienischen Urteil ist zu entnehmen, dass der Angeschuldigte dort verfolgt wurde, weil er Teil einer Organisation gewesen ist, zu der verschiedene Abnehmer, „missing-trader“ und „buffer“ gehörten, die sich teilweise sogar wechselseitig mit Scheinrechnungen bedienten. Der der Verfolgung in Italien zugrundeliegende, durch Tatort, -zeit, an der Tat beteiligte Personen und durch den modus operandi geprägte Lebenssachverhalt ist nicht so eng, dass er bei einer Einbeziehung der Firma A. wesentlich verändert würde. Allenfalls bei der konkreten Berechnung der Höhe des Steuerschadens würde sich eine Änderung ergeben.

    Die Prüfung, ob die Anklage vom 29.11.2011 und die beiden italienischen Urteile des Landgerichts Forli vom 06.05.2013 bzw. des Berufungsgerichts Bologna vom 29.12.2016 den gleichen Lebenssachverhalt betreffen, zeigt hingegen, dass es sich um dieselbe Tätergruppierung handelt, zu der neben dem Angeschuldigten S. A. eine Vielzahl weiterer Tatbeteiligter gehörte, die teilweise ausdrücklich genannt sind aber weder in dem italienischen Urteil, noch in der deutschen Anklageschrift abschließend aufgelistet werden.

    Unabhängig davon, ob die für diesen – hinsichtlich der Jahre 2003 und 2004 identischen - Tatzeitraum mutmaßlich falsch erklärten Umsätze des hier Angeschuldigten auf Handelsgeschäften mit der Firma A. oder auf solchen mit anderen namentlich genannten Abnehmern beruhen, handelt es sich dennoch um einen insoweit identischen Lebenssachverhalt, der letztlich zu den Tathandlungen führte, wie sie auch das Gericht in Forli/Italien mit Urteil vom 06.05.2013 festgestellt und das Berufungsgericht Bologna/Italien unter Bezugnahme auf letzteres übernommen hat. Denn schließlich zeichnet sich jedes Umsatzsteuerkarussell durch einen Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen aus und lässt sich so von anderen abgrenzen.

    III.

    Das Appellationsgericht (Berufungsgericht) in Bologna hat mit Urteil vom 09.01.2017, rechtskräftig seit dem 09.04.2017, das Verfahren gegen den Angeklagten S. A. wegen am 01.07.2014 eingetretener absoluter (wörtlich: „maximaler“) Verjährung eingestellt.

    Gemäß dem in Art. 54 des Schengener Durchführungsabkommens (SDÜ) vereinbarten Verbot der Doppelbestrafung können die Taten deshalb in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr verfolgt werden, weil auch eine – auf einer Sachprüfung beruhende - Verfahrenseinstellung wegen Verjährung zum Strafklageverbrauch führt (EuGH NJW 2014, 3010).

    Soweit die Staatsanwaltschaft geltend macht, dass diesbezüglich der von der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Abkommen im Sinne des Art. 55 SDÜ formulierte Vorbehalt greifen und eine fortdauernde Verfolgbarkeit der Taten in Deutschland ermöglichen würde, weil die Taten jedenfalls auch auf deutschem Staatsgebiet begangen wurden, schließt sich das Gericht dieser Ansicht nicht an.

    Der deutsche Vorbehalt zu Art. 54 SDÜ ist insoweit wie folgt formuliert:

    „Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Art. 54 des Übereinkommens nicht gebunden,
    a)    wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; (…)“

    Art. 55 Abs.1 a Satz 2 SDÜ enthält jedoch eine wesentliche Einschränkung, die auch den Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland begrenzt, obwohl die Einschränkung in dem Vorbehaltstext nicht erwähnt wird.

    Demnach gilt die per Vorbehalt erklärte Ausnahme von dem Verbot der Doppelbestrafung insbesondere dann nicht, wenn „diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist;“

    Nach h.M. (Inhofer-BeckOK, Rn. 3 zu Art. 55 SDÜ) und nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, NStZ 2001, 557 und NStZ-RR 2007, 179) ist der Vorbehaltstext der Bundesrepublik Deutschland trotz der fehlenden Aufnahme der Einschränkung des Art. 55 Abs. 1 a HS. 2 SDÜ dergestalt auszulegen, dass die Bundesrepublik Deutschland gleichwohl an die sich daraus ergebende Einschränkung gebunden sein soll, da nicht anzunehmen sei, dass sich Deutschland seinen europarechtlichen Bindungen entziehen wollte und konnte.

    Nachdem die Taten der Tätergruppierung, der der Angeschuldigte angehörte, zumindest teilweise auch in Italien begangen wurden, ist deshalb eine erneute Strafverfolgung wegen der rechtskräftigen Entscheidung des Appellationsgerichts in Bologna vom 09.01.2017 nicht mehr möglich.

    Insoweit weist auch das OLG Stuttgart in seiner Entscheidung vom 09.01.2008 (Az.: 2 Ws 338/07) eindeutig darauf hin, dass der Anwendung des Art. 54 SDÜ nicht entgegensteht, dass die Vertragsstaaten des Abkommens unterschiedliche Rechtsvorschriften zu den Verjährungsregeln erlassen haben.

    IV.

    Die Kammer hält das vorliegende Verbot der Doppelbestrafung auch nach Maßgabe des Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) für weiterhin anwendbar.

    Die Staatsanwaltschaft macht insoweit geltend, dass die nationalen Regelungen des italienischen Strafprozessrechts zur Frage des Eintritts der Verfolgungsverjährung den Vorgaben des Art. 325 AEUV nicht genügen, weil sie den finanziellen Belangen der Europäischen Union – konkret: der effektiven Sanktionierung von Umsatzsteuerkarussellen -  zuwiderlaufen würden.

    Der EuGH hat mit Urteil vom 05.12.2017 (Az.: C - 42/17) ausdrücklich unter Bezugnahme auf die Verjährungsvorschriften des italienischen Strafprozessrechts deutlich gemacht, dass ein nationales Gericht verpflichtet sei, Art. 325 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV volle Wirkung zu verleihen – nötigenfalls dadurch, dass nationale Bestimmungen nicht angewendet werden, wenn sie den Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch den AEUV auferlegten Verpflichtungen hindern würden.

    Unabhängig von der fehlenden Erstreckbarkeit dieser Entscheidung auf ein zeitlich zuvor ergangenes rechtskräftiges Strafurteil wie das vorliegende des Berufungsgerichtes Bologna vom 09.01.2017 erfasst sie auch inhaltlich nicht das in Deutschland geführte Verfahren.

    Es besteht Einigkeit in der Fachliteratur, dass der EuGH die Mitgliedstaaten grundsätzlich ermahnen wollte, darauf zu achten, dass schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union im Bereich der Mehrwertsteuer durch wirksame und abschreckende Strafen geahndet werden. Insofern müssen die Mitgliedstaaten darauf achten, dass die Verjährungsvorschriften ihres nationalen Rechts eine effektive Strafverfolgung solcher Straftaten möglich machen. In erster Linie ist dies jedoch Aufgabe der nationalen Gesetzgeber.

    Die nationalen Gerichte hingegen haben, selbst wenn sie in laufenden Verfahren die einschlägigen Vorschriften unangewendet lassen müssen, um Art. 325 AEUV Geltung zu verschaffen – was in dem vorliegenden deutschen Verfahren allerdings nicht der Fall ist - darauf zu achten, dass die Grundrechte der beschuldigten Personen dennoch geachtet werden. Der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte Grundsatz A„ne bis in idem“, der insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung beinhaltet, findet seinen international geregelten Ausdruck in Art. 54 SDÜ und hat somit verbindlich Vorrang vor Art. 325 AEUV.

    Letztlich ist es nicht Aufgabe des Gerichts in dem vorliegenden Verfahren, mögliche – im Lichte des Art. 325 AEUV betrachtete - Versäumnisse des italienischen Gesetzgebers zu korrigieren. Es besteht keine Veranlassung und keine Befugnis für die erkennende Strafkammer, sich über internationale Abkommen – hier Art. 54 SDÜ – hinwegzusetzen, weil die Verjährungsvorschriften des italienischen Strafrechts, die der italienische Gesetzgeber normiert und das italienische Gericht angewandt hat, im Hinblick auf eine effektive Sanktionierung von Umsatzsteuerkarussellen den finanziellen Interessen und der gemeinschaftlichen Arbeitsweise der Europäischen Union nicht genügen könnten.

    Nach alledem war die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen, da für den Angeschuldigten das Verbot der Doppelbestrafung auch dann greift, wenn er im Ergebnis – wie vorliegend - straffrei ausgeht.

    V.

    Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 467 Abs.1 StPO.