13.03.2008 · IWW-Abrufnummer 080793
Bundesfinanzhof: Urteil vom 20.06.2007 – II R 66/06
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
II R 66/06
Gründe:
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Tochter und Alleinerbin ihres im November 1997 verstorbenen Vaters, des Steuerberaters S. Dieser war testamentarischer Alleinerbe einer im März 1994 verstorbenen Mandantin (M). Das Testament ist noch im selben Jahr gerichtlich eröffnet worden. S reichte ebenfalls noch 1994 nach Aufforderung eine Erbschaftsteuererklärung ein, in der er als Erbe der M --aufgeschlüsselt nach den drei inländischen Anlageinstituten-- angab, Kapitalvermögen in Höhe von 914 814 DM erworben zu haben. Mit Bescheid vom 3. Februar 1995 setzte die damals zuständige Steuerbehörde bei einem Erwerb von 564 144 DM gegen S eine Erbschaftsteuer von 224 440 DM unter Vorbehalt der Nachprüfung fest.
Nachdem ab 2001 durchgeführte steuerstrafrechtliche Ermittlungen nach Ansicht des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ergeben hatten, dass M im Jahr 1992 Wertpapiere und Geld in Höhe von zusammen 706 559,50 DM anonymisiert auf die ...bank in Luxemburg transferiert hatte, und nachdem sich die Klägerin geweigert hatte, an der Aufklärung mitzuwirken, ob dieses Vermögen beim Tod der M noch in Luxemburg angelegt und deshalb dem S zugefallen war, nahm das FA an, dieses Vermögen sei --von einem festgestellten Rückfluss in Höhe von 15 000 DM noch zu Lebzeiten der M abgesehen-- beim Tod der M auf S übergegangen. Es setzte daher mit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändertem Bescheid vom 14. November 2002 die Erbschaftsteuer bei einem nunmehr auf 1 349 230 DM erhöhten Erwerb auf 344 150,57 ¤ gegenüber der Klägerin als Gesamtrechtsnachfolgerin des S herauf. Dabei hatte es das von M stammende Vermögen unter Berücksichtigung einer angenommenen Kapitalverzinsung von 8 v.H. angesetzt.
Einspruch und Klage, mit denen sich die Klägerin dagegen gewandt hatte, ihrem Vater das seinerzeit von M nach Luxemburg transferierte Kapitalvermögen zuzurechnen, blieben im Wesentlichen erfolglos. Auch nach Ansicht des Finanzgerichts (FG) ist mit dem Kapitaltransfer der M nach Luxemburg nachträglich eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden. Es setzte lediglich einen niedrigeren Zinssatz an und nahm eine weitere Korrektur der Steuerfestsetzung auf schließlich 338 500,79 ¤ vor. Ansonsten ging es ebenfalls davon aus, M habe zu ihren Lebzeiten über das Vermögen in Luxemburg nicht anderweitig verfügt. Dabei berief sich das FG darauf, dass die Klägerin jede Mitwirkung verweigert und sich auch in der mündlichen Verhandlung nicht zur Sache geäußert habe. Die Festsetzungsfrist bezüglich der Erbschaftsteuer auf den von S erzielten Erwerb sei im Jahr 2002 auch noch nicht abgelaufen gewesen, da S sich durch die unrichtige Angabe des erworbenen Kapitalvermögens einer Steuerhinterziehung schuldig gemacht habe. S müsse von dem Kapital in Luxemburg gewusst haben, weil sich in den Unterlagen der M entsprechende Belege befunden haben müssten.
Gegen die Klägerin ist noch ein Steuerstrafverfahren anhängig wegen des Verdachts, sie sei ihrer Berichtigungspflicht gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 AO als Gesamtrechtsnachfolgerin des S nicht nachgekommen.
Mit der Revision rügt die Klägerin fehlerhafte Anwendung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO, des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sowie des § 10 Abs. 5 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes. Außerdem macht sie Verfahrensfehler geltend. Die §§ 169 und 173 AO seien verletzt, weil das FG sich zwar die Überzeugung gebildet habe, S habe bezüglich des von M nach Luxemburg transferierten Kapitalvermögens Erbschaftsteuer hinterzogen, diese Überzeugung aber nicht auf Tatsachen, sondern nur auf Vermutungen sowie darauf gestützt habe, dass sie, die Klägerin, an der Aufklärung nicht mitgewirkt habe. Insbesondere die Annahme des FG, das Vermögen sei beim Tod der M noch in Luxemburg angelegt gewesen, sei in keiner Weise belegt. Vielmehr berufe sich das FG insoweit lediglich auf die unterbliebene Mitwirkung. Darüber hinaus fehlten auch Feststellungen darüber, dass S von einem Kapitalvermögen der M in Luxemburg gewusst habe. Indem sich das FG seine Überzeugung lediglich auf der Grundlage von Vermutungen und Unterstellungen gebildet habe, sei überdies gegen §§ 96 Abs. 1 Satz 1 und 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verstoßen worden.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung vom 24. Februar 2004 sowie den Erbschaftsteuerbescheid vom 14. November 2002 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Das FG ist der Ansicht, der angefochtene Änderungsbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei noch innerhalb der nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist ergangen. Dabei hat es seine Annahme, das nach Luxemburg transferierte Kapital sei beim Tod der M noch vorhanden gewesen, auf die Weigerung der Klägerin gestützt, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer dem S zugeschriebenen Steuerhinterziehung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2, § 370 AO sind jedoch auch bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Daher war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Die Tatsachen- und Beweiswürdigung des FG, M habe 1992 Kapitalvermögen in Höhe von 706 559,50 DM anonymisiert nach Luxemburg transferiert, ist mit dem Hinweis auf die von der Steuerfahndung festgestellten Kapitalbewegungen unter der "Referenznummer" 1807031 ausreichend belegt. Die Würdigung ist möglich und verstößt weder gegen allgemeine Erfahrungssätze noch gegen Denkgesetze. Sie ist auch ohne Verstoß gegen die Verfahrensordnung und insbesondere unter Beachtung der §§ 96 Abs. 1 Satz 1 und 76 Abs. 1 FGO zustande gekommen. Dementsprechend beziehen sich die Verfahrensrügen der Klägerin auch nicht auf den Vorgang des Kapitaltransfers nach Luxemburg. Die Tatsache dieses Kapitaltransfers trägt jedoch für sich allein den gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergangenen Änderungsbescheid vom 14. November 2002 noch nicht.
a) Hinzu kommen muss zunächst, dass das Kapital --abgesehen von den zurückgeflossenen 15 000 DM-- beim Tod der M im Jahr 1994 neben dem von S in seiner Erbschaftsteuererklärung angegebenen Kapitalvermögen noch vorhanden war. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine den Steuerbehörden nachträglich bekannt gewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vorliegen, die bei rechtzeitiger Kenntnis der Behörde im Rahmen der ursprünglichen Veranlagung im Februar 1995 rechtserheblich gewesen wäre. Dabei ermöglichte diese Tatsache das Ergehen des angefochtenen Änderungsbescheides im Jahr 2002 nur unter der weiteren Voraussetzung, dass die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Die weitere Voraussetzung wäre im Streitfall nur erfüllt, wenn dem S bezüglich des nach Luxemburg transferierten Kapitals Steuerhinterziehung vorzuwerfen wäre. Das müsste auch die Klägerin als Gesamtrechtsnachfolgerin des S gegen sich gelten lassen (vgl. Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 169 AO Rz 24).
b) Da S bereits im Todesjahr der M zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung aufgefordert worden ist und die Erklärung noch im selben Jahr abgegeben hat, führte § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu keinem von Abs. 1 der Vorschrift abweichenden Beginn der Festsetzungsfrist. Sie begann mit Ablauf des Todesjahres der M. Die nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO regelmäßig vierjährige Festsetzungsfrist war daher bei Ergehen des Änderungsbescheides im November 2002 bereits abgelaufen. Infolgedessen durfte der Änderungsbescheid nur ergehen, wenn sich die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO wegen einer Steuerhinterziehung des S auf zehn Jahre verlängert hatte. Einer Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 5 AO bedurfte es dazu nicht. Der Änderungsbescheid ist bereits im achten Jahr der Frist erlassen worden.
c) Steuerhinterziehung in der vom FA angenommenen Höhe hätte S gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO durch Abgabe einer unvollständigen Steuererklärung begangen, wenn das von M nach Luxemburg transferierte Vermögen bei ihrem Tod neben dem von S erklärten Kapitalvermögen noch vorhanden gewesen wäre, sich entsprechend verzinst und S vom Vorhandensein des Kapitals gewusst hätte. Die dafür erforderlichen Feststellungen sind zwar nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung, sondern nach denjenigen der AO und FGO zu treffen (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, unter C. I. 2. a); der Grundsatz "in dubio pro reo" ist jedoch auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren zu beachten (o.a. Beschluss des Großen Senats unter C. II. 1.). Das bedeutet keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrens, sondern ist Ausfluss dessen, dass die Behörde im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt. Für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung ist dabei kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt.
d) Beweismaßerleichterungen, die im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren in Folge verweigerter Mitwirkung des Steuerpflichtigen an der Aufklärung des Sachverhalts eintreten, dürfen allerdings bei der Feststellung einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach nicht genutzt werden. Wie nunmehr mit Urteil des BFH vom 7. November 2006 VIII R 81/04 (BStBl II 2007, 364) entschieden wurde, sind die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach auch bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Bei nicht behebbaren Zweifeln ist die Feststellung einer Steuerhinterziehung mittels reduzierten Beweismaßes nicht zulässig. Lediglich die Schätzung der Höhe hinterzogener Steuern ist mit einer Einschränkung bezüglich des Schätzungsrahmens möglich (so BFH in BStBl II 2007, 364, m.w.N. auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Da das FG jedoch der Tatsache, dass die Klägerin die Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts verweigert hat, für die Bildung seiner Überzeugung, S habe Erbschaftsteuer hinterzogen, Bedeutung beigemessen hat, war die Vorentscheidung aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif, sondern an das FG zurückzuverweisen. Ihm ist Gelegenheit zu geben, sich seine Überzeugung gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ohne Rückgriff auf eine Beweismaßerleichterung wegen verweigerter Mitwirkung der Klägerin zu bilden und dazu den Sachverhalt gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO weiter aufzuklären, falls es dafür Anknüpfungspunkte geben sollte. Dass es im Streitfall nicht um eine Verweigerung der Mitwirkung des S als desjenigen geht, der die Steuer nach Auffassung des FA hinterzogen haben soll, sondern um eine Verweigerung der Klägerin, ändert nichts an der Notwendigkeit, die Voraussetzungen der Steuerhinterziehung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Sollte das Vorhandensein des streitbefangenen Kapitals noch beim Tod der M feststellbar sein --wobei eine Erzwingung der Mitwirkung der Klägerin gemäß § 393 Abs. 1 Satz 1 AO ausscheidet--, verlangte der Hinterziehungsvorsatz, dass S von dem Vorhandensein des Kapitals gewusst hat. Auch dies wäre mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit festzustellen.