24.07.2008 · IWW-Abrufnummer 082347
Bundesfinanzhof: Urteil vom 22.04.2008 – VII R 21/07
Die Festsetzungsfrist für den Erlass eines Haftungsbescheids ist gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO bei leichtfertiger Steuerverkürzung nur in den Fällen auf fünf Jahre verlängert, in denen die Haftungsinanspruchnahme auf § 70 AO beruht, nicht aber für jeden Fall der Haftung, dem eine leichtfertige Steuerverkürzung zugrunde liegt, also auch nicht bei der Haftung gemäß § 69 AO (Klarstellung der Rechtsprechung).
Gründe:
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war gemeinsam mit dem Gesellschafter W. Geschäftsführer einer GmbH. Wegen größerer Forderungsausfälle geriet die GmbH in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten mit der Folge, dass auf Antrag der beiden Geschäftsführer im Mai 1998 das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet und nach Verteilung des Erlöses im Dezember 2002 eingestellt wurde. Die zur Tabelle angemeldeten Forderungen des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) wurden bei der Verteilung des Erlöses nicht berücksichtigt. Im Juli 2003 ist die GmbH wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen im Handelsregister gelöscht worden.
Nachdem die GmbH die Umsatzsteuererklärung 1994 bis zu der ihr eingeräumten Frist, dem 30. April 1996, nicht abgegeben hatte, erließ das FA im Oktober 1996 einen Schätzungsbescheid auf der Grundlage der Voranmeldungen. Steuerrückstände gab es zu dieser Zeit nicht. Die daraufhin im September 1997 eingereichte Umsatzsteuererklärung wies eine gegenüber der Schätzung erheblich höhere Umsatzsteuerbemessungsgrundlage aus. Die darauf zurückzuführende Nachzahlung konnte die GmbH wegen erheblicher Forderungsausfälle und daraus folgender Zahlungsschwierigkeiten nicht mehr leisten.
Wegen dieser Steuerrückstände der GmbH nahm das FA die Geschäftsführer mit Bescheid vom Dezember 2001 gemäß § 69 i.V.m. § 34 der Abgabenordnung (AO) --begrenzt auf eine geschätzte Tilgungsquote von 70 %-- in Haftung.
Der Einspruch des Klägers gegen den Haftungsbescheid blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zwar habe der Kläger grob fahrlässig seine Pflichten als Geschäftsführer verletzt, so dass er dem Grunde nach für Steuerschulden der GmbH habe in Haftung genommen werden dürfen, seiner Inanspruchnahme stehe jedoch der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen, die für den Erlass des auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheids gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO vier Jahre betrage. Die Festsetzungsfrist in § 191 Abs. 3 Satz 2 AO sei nur dann von vier auf fünf bzw. zehn Jahre verlängert, wenn der Haftungsbescheid auf § 70 AO oder § 71 AO gestützt sei. In anderen Haftungsfällen --wie hier nach § 69 AO-- bleibe es bei der vierjährigen Festsetzungsfrist, auch wenn die Steuer tatsächlich hinterzogen oder leichtfertig verkürzt worden sei.
Mit seiner Revision rügt das FA, diese Auffassung des FG verletze Bundesrecht und beruft sich auf die entgegenstehende Entscheidung des V. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) in einem Verfahren der Aussetzung der Vollziehung --AdV-- (Beschluss vom 7. Februar 2002 V B 86/01, BFH/NV 2002, 755), wonach die Festsetzungsfrist für den Erlass eines auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheids gegen einen Geschäftsführer bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre betrage. Im Streitfall sei der Haftungsbescheid innerhalb der Festsetzungsfrist von fünf Jahren und somit zu Recht ergangen.
Eine solche Auslegung der Vorschrift des § 191 Abs. 3 Satz 2 AO sei nach dem Wortlaut möglich und zudem gerechtfertigt.
Die Verlängerung der Festsetzungsverjährung für die Haftung nach § 70 AO beziehe sich ausdrücklich nur auf Fälle der Steuerhinterziehung; dann verl ängere sich die Festsetzungsfrist auf zehn Jahre. Gleiches gelte für eine Haftung nach § 71 AO, die ebenfalls bei Steuerhinterziehung in Frage komme. Die Verlängerung der Festsetzungsfrist auf fünf Jahre für Haftungsfälle bei Vorliegen einer leichtfertigen Steuerverkürzung sei nach dem Wortlaut der Norm nicht an das Vorliegen einer Haftung nach § 70 AO gebunden, sondern neutral formuliert. Infolgedessen gelte die Verlängerung der Festsetzungsverjährung auch in Fällen, in denen eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt und --mangels Vorliegens einer gesonderten Haftungsvorschrift für Personen, die die leichtfertige Steuerverkürzung begehen-- die Haftungsinanspruchnahme dieser Personen nach § 69 AO erfolge.
Diese Auslegung der Vorschrift entspreche dem Willen des Gesetzgebers. Einer der Kernpunkte der neuen Abgabenordnung sei die Verkürzung der allgemeinen Festsetzungsverjährung, die nach dem alten Gesetz fünf Jahre betragen habe, auf vier Jahre (§ 169 AO) gewesen. Ausnahmen seien jedoch für alle Fälle einer Steuerhinterziehung und einer leichtfertigen Steuerverkürzung zugelassen worden. Während für die Steuerhinterziehung die Festsetzungsfrist weiterhin zehn Jahre habe betragen sollen, sei eine Festsetzungsfrist von f ünf Jahren bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung neu eingeführt worden (Hinweis auf BTDrucks VI/1982, S. 44, EAO 1974 § 150, S. 94 unter III. Grundzüge des Entwurfs, 2., vorletzter Absatz). Nach der Gesetzesbegründung zu § 150 AO (heute § 169 AO) sei die verlängerte Festsetzungsfrist bei leichtfertiger Steuerverkürzung zum Ausgleich der dadurch erschwerten richtigen Steuerfestsetzung auch dann geboten, wenn die Tat nicht durch den Steuerschuldner begangen worden sei (BTDrucks VI/1982, S. 150).
Nichts anderes könne auch bei der Auslegung des § 191 Abs. 3 Satz 2 AO gelten. Eine Steuerverkürzung erschwere die Feststellung der richtigen Steuer eben auch in den Fällen, die dann zu einer Haftung nach §§ 69 ff. AO führten und zwar unabhängig davon, welcher der Haftungstatbestände durch den Haftenden nun erfüllt worden sei.
Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten könne nicht befriedigen, dass sich die Festsetzungsfrist für den Erlass eines Haftungsbescheids gegen die Vertretenen nach § 70 AO auch bei leichtfertiger Steuerverkürzung ihrer Vertreter verlängere, während die eigentlichen Täter, nämlich die Vertreter (bei leichtfertiger Steuerverkürzung) nach den Vorschriften der §§ 69, 34 AO nur vier Jahre in Haftung genommen werden könnten.
II.
Die Revision ist unbegründet. Das Urteil des FG entspricht dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FA hat den Kläger als Geschäftsführer gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 69, 34 AO wegen der Abgabenrückstände der von ihm vertretenen GmbH aus dem Jahr 1994 in Haftung genommen. Die revisionsrechtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids nach Grund und Höhe erübrigt sich hier, da der Inanspruchnahme des Klägers, wie das FG zu Recht erkannt hat, der Eintritt der Festsetzungsverjährung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO entgegensteht.
1. Nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist für den Erlass von Haftungsbescheiden regelmäßig vier Jahre, "in den Fällen des § 70 bei Steuerhinterziehung zehn Jahre, bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre, in den Fällen des § 71 zehn Jahre".
Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des FG war die vierjährige Festsetzungsfrist bei Erlass des Haftungsbescheids im Dezember 2001 für die in die Haftung einbezogenen Steuern bereits abgelaufen. Dagegen wäre der Bescheid bei Annahme einer fünf- oder zehnjährigen Festsetzungsfrist noch rechtzeitig ergangen. Die Voraussetzungen des verlängerten Verjährungszeitraums in § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO liegen jedoch nicht vor.
Die Verlängerung auf zehn Jahre scheitert schon am insoweit eindeutigen Wortlaut der Regelung, da das FA den Kläger nicht wegen Steuerhinterziehung nach § 71 AO in Haftung genommen hat.
Ob das Verhalten des Klägers den Tatbestand einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) erfüllt, wie vom FA unterstellt, bedarf keiner Klärung. Denn auch wenn das der Fall wäre, hätte sich die Verjährungsfrist für den Erlass des auf §§ 69, 34 AO gestützten Haftungsbescheids nicht verlängert.
Schon die Fassung des § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO spricht dagegen, dass sich bei leichtfertiger Steuerverkürzung die Festsetzungsfrist auf fünf Jahre unabhängig davon verlängert, ob die Haftungsinanspruchnahme auf § 70 AO beruht. Die Formulierung "in den Fällen des § 70 bei Steuerhinterziehung zehn Jahre, bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre, in den Fällen des § 71 zehn Jahre" schließt an die Regelung des Normalfalls der vierjährigen Festsetzungsfrist in § 191 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz AO an. Dann ist es nur folgerichtig, dass die besonderen Verjährungsfristen im zweiten Halbsatz die beiden besonderen Haftungsnormen der AO, nämlich § 70 AO und § 71 AO betreffen.
Die gewählte sprachliche Fassung greift außerdem offensichtlich die Formulierung des § 70 AO auf, wonach sowohl die Steuerhinterziehung (§ 370 AO) als auch die leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) durch den Vertreter die Haftung des Vertretenen begründet. Das macht deutlich, dass die verlängerte Festsetzungsfrist nur in dem Fall der Haftung des Vertretenen (schon) bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung (des Vertreters) normiert ist, nicht aber für jeden Fall der Haftung, dem eine leichtfertige Steuerverkürzung zugrunde liegt, also auch nicht im Streitfall bei der Haftung gemäß § 69 AO (BFH-Beschluss vom 4. September 2002 I B 145/01, BFHE 199, 95, BStBl II 2003, 223; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 191 AO Rz 149; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 191 AO Rz 68; Dumke in Schwarz, AO, § 191 Rz 58).
Für die Richtigkeit dieses Verständnisses des § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO spricht die Gesetzesbegründung zu § 172 Abs. 2 AO (heute § 191 Abs. 3 AO). Dort heißt es: "Die Festsetzungsfrist beträgt drei (heute vier) Jahre, soweit nicht in den Fällen der §§ 70 und 71 die fünf- oder zehnjährige Festsetzungsfrist in Betracht kommt" (BTDrucks VI/1982, S. 159 f., Zu § 172). Von einer Verlängerung der Frist in anderen Fällen, insbesondere bei Geschäftsführerhaftung wegen leichtfertiger Steuerverk ürzung, ist nicht die Rede.
Angesichts dieser speziellen Gesetzesbegründung besteht keine Veranlassung, auf die Erwägungen zur Einführung des § 150 AO (heute § 169 AO) zurückzugreifen.
Zwar trifft es zu, dass mit § 169 AO neben der allgemeinen Festsetzungsverjährung von vier Jahren und der zehnjährigen Festsetzungsfrist für die Steuerhinterziehung eine gesonderte fünfjährige Festsetzungsfrist bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung neu eingeführt wurde (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 44, EAO 1974 § 150, S. 94, unter III. Grundzüge des Entwurfs, 2., vorletzter Absatz) und damit auch die durch die leichtfertige Steuerverkürzung eingetretene Erschwernis der richtigen Steuerfestsetzung zum Teil ausgeglichen werden sollte, unabhängig davon, wer jeweils der Täter ist (BTDrucks VI/1982, S. 150, Zu § 150 AO --heute § 169 AO--).
Damit lässt sich aber die Auslegung des § 191 Abs. 3 Satz 2 AO durch das FA nicht rechtfertigen, auch wenn es nicht unmittelbar einleuchtet, dass die eigentlichen Täter, nämlich die Vertreter, bei leichtfertiger Steuerverkürzung nach den Vorschriften der §§ 69, 34 AO nur vier Jahre, die Vertretenen nach § 70 AO bei leichtfertiger Steuerverkürzung ihrer Vertreter aber fünf Jahre lang in Haftung genommen werden können. Der Gesetzgeber hat jedoch klar zum Ausdruck gebracht, dass mit § 191 Abs. 3 Satz 2 AO die Länge der Festsetzungsfrist eigenständig geregelt werden sollte (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 191 Rz 98; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 191 AO Rz 68). Andernfalls hätte es mit der Regelung des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO, wonach die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anwendbar sind, sein Bewenden haben können. Dass das nicht gewollt war, zeigt sich aber auch daran, dass die einjährige Festsetzungsfrist für Zölle und Verbrauchsteuern nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO in § 191 Abs. 3 AO nicht übernommen worden ist (BTDrucks VI/1982, S. 220, Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates Zu 30. (§ 172 Abs. 2 Satz 2 AO)).
2. Der Senat weicht mit seiner vorliegenden Entscheidung nicht i.S. des § 11 Abs. 2 FGO vom Beschluss des V. Senats des BFH in BFH/NV 2002, 755 ab. Zwar hat der V. Senat dort den rechtzeitigen Erlass eines auf §§ 69, 34 AO gestützten Haftungsbescheids gegen den Geschäftsführer einer GmbH bejaht, weil die von der GmbH geschuldete Umsatzsteuer leichtfertig verkürzt (§ 378 AO) worden sei und die Festsetzungsfrist deshalb fünf Jahre (§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO) betrage. Einer Anfrage gemäß § 11 Abs. 3 FGO beim V. Senat, ob er an dieser Rechtsauffassung festhält, bedarf es aber nicht, denn der Beschluss betrifft nur ein Verfahren wegen AdV, in dem naturgemäß Rechtsfragen nicht abschließend beurteilt werden (BFH-Urteil vom 2. Juli 1997 I R 25/96, BFHE 183, 33, BStBl II 1997, 714, m.w.N.).